Der Ausstiegspunkt - wann ist es möglich

  • Hallo ihr Alle,

    vor Kurzem ist mir hier im Forum die Frage gestellt worden, ob es einen bestimmten, entscheidenden Punkt in meinem Leben gab, an dem (oder wegen dem) es mir gelang aus dem Kreisel meiner Konsumproblematik auszusteigen. Gerade eben aktuell tauchte diese Frage in ähnlicher Form wieder in einem anderen Thread auf. Und auch ich selbst habe mir diese Frage innerlich schon sehr oft gestellt. Warum ist es an einem bestimmten Punkt auf einmal möglich aus einer Sucht auszusteigen, und, warum war/ist es mir vorher nicht möglich gewesen?

    Ich möchte diese, wie ich finde, wichtige Frage nun einmal ganz offen hier in einem eigenen Thread aufgreifen und Euch fragen:

    Was hat Dich lange Zeit daran gehindert auszusteigen?

    Was war entscheidend dafür, dass es Dir dann schließlich doch gelungen ist?

    Und natürlich geht die Frage auch an Alle die sich aktuell beginnen mit der Problematik auseinander zu setzen, die aber noch, ganz gleich ob mehr oder weniger, konsumieren. Auch Euch möchte ich fragen:

    Was meinst Du, was hindert Dich daran aus Deiner Konsumproblematik auszusteigen?

    Und was denkst Du, was könnte Dir dabei helfen doch auszusteigen?

    Ich weiß es wird hier sehr wahrscheinlich nicht nur eine einzige, einstimmige Antwort geben. Sondern, hoffentlich, eher viele Ansätze, Gedanken und Antworten. Mich interessieren Eure Gedanken und Erlebnisse dazu sehr. Ich denke, es könnte vielleicht interessant sein, diesen Fragen hier offen Raum zu geben, um zu schauen was sich dazu an Gedankenaustausch entwickeln kann.

    Liebe Grüße,

    Mojo

  • Da ich den Thread gestartet habe, möchte auch eigene Gedanken von mir dazu nicht warten lassen...

    Für mich persönlich war es (neben anderen Dingen) sehr entscheidend, dass ich mich vom absoluten Abstinenzdogma, das sich in sehr vielen Quellen beharrlich wiederfindet, innerlich endlich befreien konnte.

    Oft wird gesagt, das findet man immer und immer wieder, dass angeblich ein gewisser Tiefpunkt erreicht sein muss. Es mag da zum Teil bestimmt auch was dran sein. An dem Wort `angeblich‘ mögt ihr aber schon ahnen, dass ich persönlich davon nicht wirklich überzeugt bin bzw. diesen Ansatz zum gewissen Teil sogar als unmenschlich empfinde.

    Im gleichen Atemzug an diese These wird nämlich oft auch unmittelbar angeknüpft, dass dieser Tiefpunkt sehr individuell unterschiedlich sein kann. Schon das ist für mich im gesamten recht schwammig formuliert. Der/Die eine „rutscht auf einer Party aus“, benimmt sich im Rausch daneben – das ist dann sein/ihr Tiefpunkt, und er/sie entsagt von da an für den Rest seines Lebens konsequent jeglichem Rauschtrinken. Ein/e andere/r verliert den Job oder eine Beziehung droht zu zerbrechen. Das ist dann sein/ihr Tiefpunkt. Wieder ein/e andere/r hat schon alles, aber auch wirklich alles verloren, hat schon starke körperliche Schäden, schafft es dennoch nicht und konsumiert süchtig weiter. „Er hat anscheinend seinen Tiefpunkt noch nicht erreicht.“ Heißt es dann. Ihm könne man auch nicht helfen.

    Ich möchte ein Erlebnis von mir erzählen:

    In den Jahren meiner Konsumproblematik hatte ich immer wieder einige wirklich krasse Tiefpunkte. Kaum jemandem der sowas nicht selbst erlebt hat könnte man das beschreiben. Die anderen ahnen denke ich wovon ich rede. Und in den Jahren vor meinem Suchtausstieg hatte ich auch mehrere Anläufe, wo ich in SHG und Suchthilfe aktiv um Rat und Hilfe suchte. Ein sehr bezeichnendes Erlebnis, das nun schon etwa zwanzig Jahre zurück liegt, war dann folgendes:

    Wieder einmal war ich an einem Punkt angekommen wo ich wusste, es kann so nicht weiter gehen. Ich erkundigte mich und suchte eine Suchtberatung auf. Im Zimmer der Beraterin schilderte ich kurz meine Situation. Darauf konfrontierte mich die Beraterin umgehend mit der direkten Frage: „Können Sie sich vorstellen nie wieder im Leben einen einzigen Tropfen Alkohol zu trinken? Nie wieder!?“ Ich dachte kurz nach. Und - ich wollte in dieser Situation zu 100% ehrlich sein. Ich sagte also, was einfach der Wahrheit entsprach, dass ich mir das ehrlich gesagt noch nicht wirklich vorstellen könne. Konnte ich zu dem Zeitpunkt auch nicht. Dass ich aber trotzdem hoffte, dass ich irgendwie Hilfe finden kann. Die Frau wiederholte die Frage: „Können Sie sich vorstellen nie wieder im Leben einen einzigen Tropfen Alkohol zu trinken?“ ich antwortete wieder, dass ich einfach ehrlich sein möchte, dass ich sie nicht belügen möchte, und dass mir diese Vorstellung zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch nicht wirklich möglich sei. Und dass ich ja auch gar nicht wissen könne, was in zehn oder zwanzig Jahren oder irgendwann mal sein wird. Ich könne Ihr diese Frage also gar nicht wirklich und zugleich ehrlich beantworten… Kühl und ohne Umschweife sagte mir die Beraterin darauf: „Wir können Ihnen nicht helfen. Dort ist die Türe.“ Und zeigte auf den Ausgang. Das Gespräch dauerte vielleicht 5 Minuten. Für mich bedeutete es, ohne Hilfe da zu stehen. Ich versuchte es also wieder auf eigene Faust, und drehte mich dann noch weitere Jahre im Kreis. Von einem Tiefpunkt, über Zeiten hinweg wo es vielleicht sogar etwas besser lief, hin zum nächsten erschütternden Ereignis und Tiefpunkt.

    Im Frühjahr 2014 hatte ich den Karren mal wieder so richtig im Dreck. Hier kamen aber zwei entscheidende Punkte hinzu: eine Depression nahm zusehends überhand, und im Rausch, vor allem Nachts, nahmen konkrete Gedanken an Suizid greifbare Gestalt an. Da erkannte ich definitiv: das bin nicht ich! Denn eine Sache die sehr tief in mir verwurzelt ist, ist die Achtung vor dem Wunder des Lebens. Ich wusste nun ganz klar und deutlich: etwas fremdbestimmtes hatte Macht über mich gewonnen. Und ich wollte mich davon befreien!

    Ich begann wieder mal mich zu informieren, gelangte aber diesmal an andere Quellen. Darin war zum Beispiel auch die Rede davon, dass in anderen Ländern Europas und in den Staaten andere Ansätze Geltung finden als nur die reine Abstinenz. Auch in den deutschen Quellen fanden sich mitunter dezente Hinweise/Anzeichen darauf, dass Kontrollverlust und Suchtgedächtnis nicht für alle und jeden unbedingt irreversibel sein müssen, und dass es anscheinend einen bestimmten (geringen?) Prozentsatz zu geben scheint die zu unproblematischen Konsumverhalten zurückgefunden haben.

    Das alles führte mich in dieser Zeit hin zu einer Einsicht, dass es, für mich, nicht um irgendein Entweder - Oder geht, sondern darum, eine Eigenverantwortung in der Sache und in meinem Lebensweg zu finden!

    Ich beschloss, den Abstinenzgedanken (also den „für immer“) gänzlich und komplett für mich abzulegen! Ich ging meinen Weg, was das angeht, komplett „zieloffen“ an (wie es so schön heißt)! Ich sagte mir, zumindest erst mal eine Weile, bis ich meine Probleme im Griff und grundlegend geregelt habe. Und ich war fest entschlossen, was das angeht, also meine Problemstellungen, meinem Leben mit allen Kräften eine komplett neue Richtung zu geben. Und dafür lebe ich im Hier und Jetzt. Jetzt, in diesem Augenblick ist es für mich wichtig, eine gesunde Entscheidung zu treffen. Ich wusste nicht, wie lange dieses „eine Weile“ sein würde. Ein par Wochen? Ein par Monate? Vielleicht würde sich sogar auch zeigen, dass ich irgendwann wieder „normal“ konsumieren könne? Vielleicht würde aber auch nach und nach von selbst ein „für immer“ draus werden?

    Ich war zu diesem Zeitpunkt für dies alles, und mehr, komplett offen. Für mich war nur klar, jetzt gerade, jetzt in diesem Moment geht es nicht. Ich will mich von dem was mich fremdbestimmt und wie ferngesteuert lenkt, befreien! Und so konnte ich persönlich meine ersten Schritte gehen - und damit eine lange, intensive und bedeutungsvolle Reise in ein suchtfreies Leben beginnen.

    Einmal editiert, zuletzt von Mojo (2. Mai 2024 um 23:03)

  • Warum ist es an einem bestimmten Punkt auf einmal möglich aus einer Sucht auszusteigen, und, warum war/ist es mir vorher nicht möglich gewesen?

    Wenn ich darüber nachdenke, habe ich die Sucht über Jahrzehnte mit mir herum geschleppt.

    Von meinem Inneren her gab es über die Jahre immer wieder den Impuls, eine Sehnsucht, nicht zu trinken, wirklich frei zu sein. Ich tat etwas bzw. musste etwas tun, was sich nicht richtig anfühlte. Es gab auch Handlungen, in/nach denen ich mir sagte, was machst du hier eigentlich, das bist du doch überhaupt nicht. Dazu kamen noch von außen die Einschläge, privat wie beruflich und auch gesundheitlich immer näher.

    Andererseits habe ich das Trinken/ den Rausch geliebt. Es war mein ganz privater Himmel, den ich nie hergeben wollte. Ich hatte aber auch immer wieder (kurze) abstinente Zeiten, in den ich gespürt habe, wie gut es sich anfühlt und lebt, nüchtern und frei zu sein. Und diese Momente haben mich immer wieder suchen lassen, Hoffnung gegeben und hochgehalten. Hätte ich diese Momente nicht gehabt, wäre es bestimmt sehr schwierig geworden.

    2009 hatte ich mein Leben so ins Abseits gefahren, dass ich nicht mehr ein noch aus wusste. Auch das ganze Umfeld, der sogenannte Freundeskreis und die damit einhergehen Strukturen haben mich nur noch angekotzt. Ich habe mich total in einem fremdbestimmten Leben gefangen gefühlt, welches nicht mehr meins war.

    Ich hatte es dann auf Grund dieser Verzweiflung, aber noch mehr auf Grund der früher erlebten nüchternen Momente bzw. eher die Suche nach diesen, geschafft, für Jahre trocken zu bleiben. Mein Leben hatte sich in der Zeit sehr gut repariert, aber irgendwie hat mir der Alk über die ganzen Jahre gefehlt, es war so, als hätte man das Beste aufgegeben. Alle anderen "dürfen", nur ich eben nicht.

    2018 - 2022 hatte ich dann versucht, wieder kontrolliert zu trinken und war dann Ende 2022 fast wieder auf altem Pensum bzw. zum heimlichen Spiegeltrinker gewechselt.

    Mir ist zum Schluss (wie damals 2009) wieder vor mir selber Angst geworden und ich hatte außerdem Angst, mir wieder den vergangenen Affenzirkus in mein Leben zu holen und alles wieder kaputt zu machen.

    Dazu muss ich auch sagen, dass der Rausch mich nicht mehr so gekickt hatte wie früher, es war eher so ein trübes Level-Halten. Und verbunden mit den starken Schuldgefühlen, sozusagen etwas zu tun, was nicht "richtig" ist, war der Reiz des Trinkens in der Waagschale keine wirkliche Alternative mehr.

    Im Prinzip war die Sehnsucht nach Freiheit größer als der Drang nach dem Rausch. Durch das Wiederaufnehmen des Trinkens/ meine letzten 4 Spiegeltrinker-Jahre habe ich aber auch gemerkt, dass ich immer einer Illusion/ eine Erinnerung nachgetrauert habe und das Trinken nicht so geil war, wie ich es mir immer vorgestellt habe.


    Ich habe noch ein paar andere Gedanken zum Thema, muss aber dann erstmal los...

  • Was hat Dich lange Zeit daran gehindert auszusteigen?

    Drogen haben nun mal die schöne/schlechte Eigenschaft, dass der mit dem Konsum einhergehende Rauschzustand, insbesondere in der Anfangsphase, ganz reizvoll ist. Rausch ist in der Geschichte der Menschen fest verankert und das (maßvolle) Streben danach zunächst mal nix Pathologisches.

    Es gibt ja bekanntermaßen auch nicht-stoffliche Rauscherlebnisse, z.B. beim Tanzen, bei intensiven Sporterlebnissen bis hin zu einem eher meditativen Einschlag beim langen Spazieren gehen oder Wandern. Eigentlich alles normal. Beim Alkohol kommt noch hinzu, dass man das Zeugs, wenn man die Dosis einigermaßen begrenzt, jahrelang trinken kann, ohne dass irgendwelche negativen Effekte auftreten.

    Weiterhin ist gerade Alkohol kulturell hier in Europa "bestens" eingebettelt: Man trinkt halt bei allen möglichen Gelegenheit mal ein Glässchen. Da erzähle ich nix Neues. Gerade in Deutschland fehlt ein kulturelles/soziales Korrektiv, das hohe Trinkmengen sanktioniert.

    Alles zusammen genommen, ggf. noch begünstigt durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und schicksalhafte Wendungen im Leben, und der "Cocktail" ist irgendwann fertig angemixt: Man trinkt zu oft zu viel.

    Und was denkst Du, was könnte Dir dabei helfen doch auszusteigen?

    Das Bewusstsein, dass das eigene Leben wertvoll ist.

    Das Bewusstsein, dass es nur dieses eine Leben für Dich gibt.

  • Hey, habt vielen Dank für Eure Beiträge bis hier hin schonmal.

    Interessant, was hier für unterschiedliche Gedanken mit eingebracht werden.

    Mich würden natürlich auch noch weitere Erlebnisse und Gedanken dazu sehr interessieren.

    Achja, was ich noch anmerken wollte: wenn ich mich in meinem Beitrag (Antwort #2) eventuell etwas kritisch gegenüber dem ein oder anderen Punkt geäußert habe, so ist das was ich geschrieben hab als Beitrag im Thread hier zu sehen. Es gibt also ausschließlich meinen eigenen, persönlichen Standpunkt, und mein Erleben wieder. Ich bin mir bewusst, dass es ganz bestimmt Andere gibt, die über den ein oder anderen Punkt ganz anders denken, oder denen eventuell genau das Gegenteil geholfen hat. Und das ist auch absolut okay so! Der Thread ist also natürlich auch für andere Ansichten und Erfahrungen genau so offen!

    LG, Mojo

  • Was war entscheidend dafür, dass es Dir dann schließlich doch gelungen ist?

    Ich bin durch den Alkohol ins Suizidale abgerutscht. Nachdem ich einen Abend völlig fertig, depressiv und unter Alkoholeinfluss enthemmt an den Platz gegangen bin, den ich mir für den Suizid im Vorfeld ausgesucht hatte und mit einer immer größer werdenden inneren Bereitschaft, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gekämpft habe, bin ich nach ein paar Stunden an dem besagten Ort aus meinem Film aufgewacht, war schlagartig nüchtern und innerlich komplett leer, weil ich völlig fertig war über mein Vorhaben in den Stunden davor. Ab dem Zeitpunkt war klar…ok, ich hab‘s nicht geschafft mich umzubringen, ergo will ich wohl leben. Dann muss sich jetzt was ändern. Mit dem Alkohol ist Schluss. Der Preis meines Lebens war mir zu hoch, um ihn an den Alkohol zu bezahlen. Ganz einfache Milchmädchenrechnung so gesehen. Bin danach in den Entzug (Doppeldiagnosenstation wegen der Suizidalität) und danach inne Reha.

    Was hat Dich lange Zeit daran gehindert auszusteigen?

    Mein tief in mir drin verwurzelter Leistungsgedanke, der mich lange in der Sucht hat aushalten lassen. Eine ausgeprägte Leidensfähigkeit. Fehlende Bereitschaft sich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und halt auch…Elternhaus. Ich komme aus einer dysfunktionalen Familie mit Gewalterfahrungen, emotionaler Vernachlässigung und ganz viel Mist. Wenn zwei von drei Kindern in der Sucht landen, ist zu Hause was falsch gelaufen. Das ist ein Kind zu viel, um Zufall zu sein. Bei der Bewältigung des Ganzen hat der Alkohol geholfen. Heute würd ich sagen…ich bin bereits mit 16 Jahren abhängig vom Alkohol geworden. 🤷‍♀️ Und weil der Alkohol so gut funktioniert hat, ich damit wunderbar Gefühle verdrängen konnte etc. hat das was gedauert bis ich mich davon trennen konnte (s.o.). Musste erst existenziell werden bei mir…Leben oder Sterben. 🫣

  • Darauf konfrontierte mich die Beraterin umgehend mit der direkten Frage: „Können Sie sich vorstellen nie wieder im Leben einen einzigen Tropfen Alkohol zu trinken? Nie wieder!?“ Ich dachte kurz nach. Und - ich wollte in dieser Situation zu 100% ehrlich sein. Ich sagte also, was einfach der Wahrheit entsprach, dass ich mir das ehrlich ges

    Das kann ich sehr gut nachvollziehen, der Gedanke erzeugt ja zum "normalen" Sucht-Alltag, den man nur mit Hilfe seines Tonikums durchgestanden hat, noch einmal eine Extraportion Stress und eine riesen Berg.

    Wenn ich darüber nachdenke, habe ich lange diesen Gedanken verdrängt und wollte es nie wahrhaben. Ich habe mich immer wieder versucht zu beruhigen, indem ich mir wieder und wieder gesagt habe, ich MUSS einfach versuchen, weniger zu trinken, wieder versuchen einige Tage auszusetzen und wieder die Kontrolle zu erlangen. Ich habe sozusagen immer wieder den Stein den Berg hochgerollt und durch den unvermeidlichen Kontrollverlust alles wieder zunichte gemacht. So etwas sägt auch sehr schön am Selbstvertrauen und dem Glauben es jemals zu schaffen.


    Im Frühjahr 2014 hatte ich den Karren mal wieder so richtig im Dreck. Hier kamen aber zwei entscheidende Punkte hinzu: eine Depression nahm zusehends überhand, und im Rausch, vor allem Nachts, nahmen konkrete Gedanken an Suizid greifbare Gestalt an. Da erkannte ich definitiv: das bin nicht ich! Denn eine Sache die sehr tief in mir verwurzelt ist, ist die Achtung vor dem Wunder des Lebens. Ich wusste nun ganz klar und deutlich: etwas fremdbestimmtes hatte Macht über mich gewonnen. Und ich wollte mich davon befreien!

    Das kommt mir auch sehr bekannt vor. Ich habe mich teilweise fremdbestimmt gefühlt, wie als hätte etwas Macht über mich und diese Entität wollte mir mein Leben wegnehmen. Bei mir kamen auch noch Schuldefühle dazu, sozusagen alleinig "Schuld" an dieser Misere zu sein und immer wieder diese Entität mit neuer "Flüssignahrung" genährt zu haben.

    Im Nachhinein klingt das schon ganz schön verrückt, was es ja zu dem Zeitpunkt auch war.


    Ich begann wieder mal mich zu informieren, gelangte aber diesmal an andere Quellen. Darin war zum Beispiel auch die Rede davon, dass in anderen Ländern Europas und in den Staaten andere Ansätze Geltung finden als nur die reine Abstinenz. Auch in den deutschen Quellen fanden sich mitunter dezente Hinweise/Anzeichen darauf, dass Kontrollverlust und Suchtgedächtnis nicht für alle und jeden unbedingt irreversibel sein müssen, und dass es anscheinend einen bestimmten (geringen?) Prozentsatz zu geben scheint die zu unproblematischen Konsumverhalten zurückgefunden haben.

    Ich bin davon überzeugt, dass es das gibt. Mein Opa z. b. hat früher auch täglich sehr viel getrunken, hat aber die letzten Jahre seines Lebens den Konsum für seine Verhältnisse doch sehr reduziert. Ok, da kamen auch noch verschiedene Krankheiten dazu und sehr alt ist er nicht geworden.

    Aber wenn mein Suchtgedächtnis liest, dass es für einen geringen Prozentsatz "Hoffnung" zu unproblematischen Konsumverhalten gibt, fängt es gleich mal an zu betteln und nach einem Hintertürchen zu suchen. Nein, lieber Rent, das geht wohl leider nicht mehr ;)

    Das erinnert mich übrigens an eine Episode mit einer Exfreundin, der ich trotz Totalveraschung ihrerseits noch lange nachgetrauert habe. Als sie mir in einer sentimanetalen Regung den Vorschlag gebracht hatte, ob wir es denn nicht "doch noch mal miteinander versuchen" sollten, hat mein Herz hat bei dem Vorschlag auch kurz mal einen Hoffnungsseufzer gemacht. Das wäre aber genauso in die die Hose gegangen, wie der anstrengende Versuch des kontrolliereten Trinken in den letzten vergangenen Jahren.


    Ich war zu diesem Zeitpunkt für dies alles, und mehr, komplett offen. Für mich war nur klar, jetzt gerade, jetzt in diesem Moment geht es nicht. Ich will mich von dem was mich fremdbestimmt und wie ferngesteuert lenkt, befreien! Und so konnte ich persönlich meine ersten Schritte gehen - und damit eine lange, intensive und bedeutungsvolle Reise in ein suchtfreies Leben beginnen.

    Mojo , was ich meine, bei dir herauszulesen und ich ähnlich empfinde, es geht um HOFFNUNG und positives Offenbleiben.

    Hoffnung, einen Weg für sich aus dem scheiß Kreislauf zu finden. Hoffnung, die ich zuletzt im Prinzip nur noch im berauschend Zustand hatte und die mit dem sinkenden Alkohol Pegel in meinem Blut ebenso sank. Und die Konfrontation im ernüchterten Zustand mit dem Fakt "Nie wieder einen Tropfen Alkohol" und "Alkoholiker - auf Ewig krank" hat bei mir eher Verzweiflung als Hoffnung erzeugt. Diese Verzweiflung hat mich immer enger, angstvoller, verbitterter gemacht und zusätzlich niedergedrückt.

    Und ich finde, gerade dieses Offenbleiben für eine positive Lebensveränderung ist sehr wichtig. Und wenn der Gedanke, dass es jetzt gerade im Moment nicht geht, ich (im Moment) nichts trinken kann und wer weiß, wie es irgendwann aussieht, Hoffnung spendet, ist das allemal besser, als wenn ich mir als Verzweiflung vor der riesigen Wand verbittert die nächste Flasche aufmache, mich aufgebe oder auf ewig das Damoklesschwert des Rückfalls über mir baumeln sehe. Es geht halt darum, für sich den besten Weg herauszufinden.

    Ich muss aber auch sagen, dass aus meinem persönlichen Erleben das Zurückfinden zum unproblematischen Suchtverhalten nicht geklappt hat. Aber das war eben MEIN Weg und hätte ich die Erfahrung des (un)kontrollierten Trinkens nicht gemacht, würde ich wahrscheinlich heute noch dem Alk hinterher trauern.


    Das Bewusstsein, dass das eigene Leben wertvoll ist.

    Diesen Satz, der ja die obigen Gedanken auch nochmal einfängt, stimme ich vollkommen zu, muss ihn mir von Zeit zu Zeit immer wieder neu bewusst machen.

  • Bighara

    komme aus einer dysfunktionalen Familie mit Gewalterfahrungen, emotionaler Vernachlässigung und ganz viel Mist. Wenn zwei von drei Kindern in der Sucht landen, ist zu Hause was falsch gelaufen. Das ist ein Kind zu viel, um Zufall zu sein. Bei der Bewältigung des Ganzen hat der Alkohol geholfen. Heute würd ich sagen…ich bin bereits mit 16 Jahren abhängig v

    Tut mir leid, dass du solche Sachen erleben musstest. Ich kann meinen Eltern selig nichts gravierendes vorwerfen, und doch hatte es mich und meinen ältesten Bruder erwischt, der sich wegen Alk und Heroin das Leben nahm.

    Ich bin durch den Alkohol ins Suizidale abgerutscht.

    Zumindest den latenten Gedanken daran kenne ich bestens. Zeitweise gab mir das sogar Erleichterung, um dunkle Phasen durchzustehen (wenn gar nichts mehr geht gibts einen Ausweg). Auf die Dauer natürich maximal destruktiv. Und das wollte ich nicht mehr.

    Das Bewusstsein, dass das eigene Leben wertvoll ist.

    100% agree. Und dass das Leben mehr zu bieten hat. Nach meiner letzten Woche Vollrausch letzten Sommer hab ich wehmütig durchs Wohnzimmerfenster die schöne Natur und das tolle Sommerwetter betrachtet und mir gesagt, dass ich das auch wieder schätzen und geniessen können will. Das war glaub mein Start

  • Hallo zusammen

    Mit Interesse lese ich hier mit und finde es sehr spannend, wie jeder einzelne zu seinem Ausstieg gefunden hat und genau die Frage hab ich mir damals als noch Trinkende gestellt ,wie ich endlich aus diesem Sucht Kreislauf aussteigen kann ,da ich überzeugt war ,dass ich es womöglich gar nicht wirklich schaffen kann oder gar will ?

    Diese Gedanken begleiteten mich sehr lange ,denn es war ein Ringen zwischen "ich will nicht mehr trinken" und "das Trinken tut doch ganz gut".

    Der Gedanke "nie wieder" trinken zu "dürfen " war sehr bedrohlich und noch viel zu sehr von Angst behaftet.

    Unvorstellbar, dass ich meinen Alkohol hergeben sollte ,wer bin ich denn dann ohne ihn ? Davon hatte ich lange gar keine Vorstellung ausser ,dass mir etwas Elementares fehlen würde, etwa ,was sich wie mein zweites Ich aufgeben müsste ,schließlich war der Alkohol mein naher Verbündeter, der mich tröstete, besänftigte und auch viele weitere positive Gefühle auslöste, zugleich aber auch sehr vieles in mir zerstörte und auch doch nicht so nachhaltig half, wie ich es in den Momenten des Trinkens erlebte. Was für eine toxische Beziehung.

    Die Momente der Wut auf mich selbst und auch auf den Alkohol waren auch immer dabei und wurden immer größer, aber auch das Gefühl, dass der Alkohol mich im Griff hat in einer toxischen Weise ,die mir zunehmend Angst machte und ich irgendwann das Bedürfnis entwickelte, mich ohne den Alkohol kennenzulernen, mich ohne die Krücke Alkohol durchs Leben zu bewegen und vor allem merkte ich immer öfter,dass der Wunsch größer wurde ,keinen Alkohol mehr trinken zu *müssen*.

    Aus nicht mehr dürfen wurde nicht mehr müssen, aus nicht mehr müssen wurde nicht mehr wollen.


    Ich wusste und spürte eine Zeit lang ,wenn ich nicht aufhöre mit dem Trinkenn dann verliere ich mich immer mehr und ich spürte meine Gefährdung immer deutlicher.

    Nach einigen Versuchen und wiederkehrenden Rückfällen war dann endlich eines Tages der Point of no return angekommen.

    Seitdem trinke ich nicht mehr.

    Es sind jetzt 3,5 Jahre Abstinenz und ich bin dankbar ,dass ich nicht mehr muss und auch nicht mehr will.

    Das war die beste und heilsamste Entscheidung meines Lebens : mich vom Alkohol zu verabschieden.

    Nie wieder trinken...bedeutet für mich heute keine Bedrohung mehr, sondern Erleichterung und Freiheit.

    Erstaunlicherweise fiel es mir sehr leicht nicht mehr zu trinken ,auch wenn ich dies nie vermutet hätte,dass mir das gelingt.

    Ich wünsche jedem ,der mit sich hadert ,dass er den Weg der Abstinenz einschlagen kann und sich wenn nötig alle Hilfsmittel und Hilfen zur Unterstützung nimmt um die eigene Abstinenz zu stärken.

    Ich will nie wieder zurück...

    Heute weiß ich endlich, dass das Leben ohne Alkohol so viel lebenswerter ist und ich dadurch die Chance erhalten habe ,an mir zu arbeiten und zu heilen.

    Dankbarkeit kann ich heute fühlen und auch immer mehr meine eigene Freiheit und auch den Wunsch mein Leben zu gestalten, anstatt mich im Alkohol oder in der Sucht aufzulösen.

    Oran-Gina

  • Was hat Dich lange Zeit daran gehindert auszusteigen?

    Vor ein paar Monaten sagte jemand, dass das eigene Bild im Spiegel stets jünger aussieht als es tatsächlich ist. Zumindest in der Wahrnehmung. Man hinkt der tatsächlichen Entwicklung etwas hinterher. Das entspricht auch meiner Erfahrung. Irgendwie malen wir uns die Welt wohl mitunter schöner als sie ist, was ja auch klug sein mag. Zumindest ist das eine freundlichere Welt als anders herum.

    Gleiches gilt nach meiner Erfahrung auch für andere Wahrnehmungen, die unsere Vergangenheit prägten. Das damalige leichte Beschwipst-Sein war ja auch mitunter wirklich nett, lustig, etc. Diese Rückblicke werden aber ebenfalls verklärt: Auch, wenn sich die Wirkung des Alkohols bereits Jahre vor meiner Entscheidung, für 1 Jahr kein Alk mehr zu trinken und kein Nikotin mehr zu konsumieren, in der Realität bereits deutlich anders darstellte, produzierte mein Kopf noch die schönen Bilder aus einer Zeit, die längst vergangen war. Eben: Aus der Vergangenheit. In Wirklichkeit war das zweite Bier gar nicht mehr so köstlich, wie es das mal war. Und das Dritte machte es auch nicht besser. Klar, da war noch was, aber merklich anders. Eben weniger intensiv, eher etwas enttäuschend. Manchmal war ich bereits etwas irritiert, aber letztlich lief ich noch dem Gefühl der Vergangenheit hinterher, obwohl es nicht zurückholbar ist.

    Das ist eben das blöde an Drogen: Sie nutzen sich in ihrer Wirkung ab, während wirklich schöne & gute Dinge ihre Strahlkraft nicht verlieren, sondern erfüllend bleiben oder gar noch wertvoller und erfüllender werden, als sie es mal waren.

    Diese Abnutzung des Wohlfühlerlebnisses bei Drogen gestehen wir uns in der Regel nicht ein. Dann kommen noch die hier bestens bekannten Suchtmechanismen im Hirn dazu, die den Abschied schwer bis unmöglich machen, aber selbst die Abwägung (Trinke ich noch weiter? Oder lasse ich es lieber?), die viele hin- und herreist, wie die Nussschale in einem wilden Fluss, findet eben nur mit dem oben geschilderten Bias statt. Das Ignorieren der aktuellen Realität durch das innere Diktat der verklärten Vergangenheit verhindert meines Erachtens bei vielen zuverlässig den Ausstieg.

  • Ich habe mich öfters dran versucht eine Erklärung für meine Wandlung vom Saulus zum Paulus zu bekommen. Vllt war das wichtig für mich im Kontext eines Sichtbarmachens meines alten Dilemmas. Auch wenn es immer unvollständig bleiben musste, da der Prozess der Loslösung weit über die Ebene des Verstandes, des Denkens hinausgeht.
    Irgendwann sagte mir dann diesbezüglich eine innere Stimme gehe aus deiner Geschichte raus und lass die ollen Kamellen ruhen. Ist für mich ideal da sich so die Vergangenheit mit den ganzen damit verbundenen hartnäckigen Identitäten auflösen kann und mir erlaubt mehr die Gegenwart, wie sie ist, wahrzunehmen.
    Betonen möchte ich jedoch das dieser Weg kein unterdrücken unangenehmer Gedanken und Gefühle darstellt. Zu bestimmten Gelegenheiten tauchen die schlummernden Reste aus den Tiefen meiner Seele auf. Es bleibt bei dem Grundsatz: hindurchgehen nicht drüber hinweg!
    Am ehesten bezeichne ich es heute einfach nur als Gnade für das was mir widerfuhr als die Nacht am tiefsten war.
    Abstinenz ist ganz einfach der Königsweg!

  • Jeder einzelne Eurer Beiträge enthält Gedanken, die mich ansprechen und anregen. Vielen Dank dafür. Gerne würde ich auf jeden näher eingehen doch das wäre hier zu raumgreifend. Vielleicht gelingt es mir aber später mal zwischenresümierend ein wenig zu filtern.

    Ich spicke ein kleines Zitat heraus, und versuche von mir her auch erstmal noch so gut es geht einigermaßen beim Thema zu bleiben.

    Abstinenz ist ganz einfach der Königsweg

    Das ist so. Unbestritten.

    Als ich an meinem Ausstiegspunkt den Ausgang aus dem Labyrinth suchte, half mir dazu auch der Gedanke: Wenn die Natur es beabsichtigt hätte, dass der Mensch dauerbreit und gelegentlich sogar komplett weggeschossen durch die Gegend läuft, dann hätte sie ihm wohl von Natur aus auch die Fähigkeit dazu mitgegeben, diesen Zustand aus sich heraus zu erzeugen. Dem ist aber nicht so.

    Im Gegenteil sogar. Wir kommen als Kinder auf die Welt. Wie neugierig geht so ein Kind ins Leben. Wenn es wütend ist, zeigt es das voller Inbrunst. Es weint sofort, dass die Tränen nur so kullern, wenn es ein Weh hat. Es lacht laut und ehrlich, wenn es sich freut und glücklich ist. Und alle diese Gefühle durchlebt es. Vollkommen rein, und pur.

    Und was so ein kleines Kind kann – das Leben pur erleben - das wollte ich auch wieder können.

    Auch eine andere Vorher/Nachher Betrachtung von mir möchte ich noch mit einbringen. Klar hatte ich in der Zeit als ich noch konsumierte auch viel Spaß. Die Jugend, das junge Erwachsenenleben, alles war bewegt und sehr intensiv. Aber irgendwo begleitete mich auch immer so ein Teil einer inneren Suche. Teilweise auch verzweifelt. Etwas in mir, das ich spürte dass es gelebt werden wollte, ich aber nicht dran kam. Ich bekam es nie richtig zu fassen. Schwer zu beschreiben. Wie eine Begrenzung meiner eigenen Persönlichkeit und meines Lebens, die ich noch zu durchbrechen suchte. Aber ich fand nie den Ansatz. Es war immer nur eine Ahnung. Ein verborgenes Bild. Und ich fand keine andere Antwort darauf, als in den Rausch, ganz gleich welcher Droge die ich konsumierte, irgendeine Art Transzendenz hinein zu interpretieren.

    Als ich in meinem Ausstieg beschloss für einige zunächst unbestimmte Zeit ohne Alkohol zu leben, machte ich natürlich auch erstmal die Craving-Zeit durch, betrat sozusagen Neuland, und es brauchte nach und nach bis meine Schritte wieder sicherer wurden. Aber von Beginn an baute mich jeder kleine Erfolg innerlich mehr auf. Und schon bald spürte ich: diesmal könnte es das tatsächlich sein.

    Im Folgenden kam ich durch die Nüchternheit in die Lage, wieder Kontakt zu meinem Selbst zu bekommen. Wirklichen Kontakt. Ich ging durch meine inneren finsteren Tiefen und lichte Höhen, und es folgte eine Zeit in der ich viele Dinge und Antworten in mir fand, und an andere Dinge endlich herankam. Im Prinzip hält dies bis heute hin auch an.

    Auch für mich ist es also ein absolut kostbares Geschenk.

    Und doch bin ich persönlich fest davon überzeugt, dass die versteinerte Dogmatik, mit welcher komplette Abstinenz lange Zeit sozusagen als Grundvoraussetzung propagiert wurde, sehr viele Menschen davon abhält, bzw. abgehalten hat, ihre Grundprobleme überhaupt erst mal, vielleicht schon frühzeitig anzugehen. Lebenslange Abstinenz, Alkoholismus als lebenslange, unheilbare Krankheit, die sofort wieder aufbricht sobald die geringste Menge konsumiert wird und all dies mehr. Ich will das an sich mit Sicherheit nicht in Frage stellen - für viele trifft das ganz sicher zu! Aber ich bin mir ebenso sicher, für viele trifft das, gerade vielleicht in jungen Suchthistorien, je nach dem auch (noch) nicht unbedingt zu.

    Ich sehe es auch für mich selbst so: Für mich war Abstinenz nie mein Ziel. Sondern Nüchternheit ist für mich Bestandteil meines Weges. Ich habe mich auf den Weg gemacht, und mein Ziel war für mich immer: Heilung (meines Selbst).

    Ich hänge da nicht hinterher. Doch frage ich mich mitunter Dinge wie:

    Wenn es einem Menschen ab dem Tiefpunkt möglich ist auszusteigen, WARUM ist es dann auf einmal möglich? Es ist ja an sich kein anderer Mensch. Der Leidensdruck den der Tiefpunkt mit sich bringt, scheint also, so meine Gedanken, ein Potential zu wecken das ohnehin schon in diesem Menschen schlummert.

    Oder beispielhaft eine andere Frage: was hätte entstehen können, wenn die Beraterin von der ich weiter oben geschrieben habe, mich nicht hinausgeschickt hätte, sondern etwa gesagt hätte: „Lassen Sie uns mal näher anschauen was Ihre Situation ist. Vielleicht gibt es etwas das Sie tun, oder wobei wir Ihnen helfen können.“ ?

  • Wenn es einem Menschen ab dem Tiefpunkt möglich ist auszusteigen, WARUM ist es dann auf einmal möglich? Es ist ja an sich kein anderer Mensch. Der Leidensdruck den der Tiefpunkt mit sich bringt, scheint also, so meine Gedanken, ein Potential zu wecken das ohnehin schon in diesem Menschen schlummert.

    Das hätte zur Konsequenz: Aus diesem Grund gelingt ihnen der Ausstieg, andere saufen sich dagegen zu Tode.


    Zur Beraterin mit der "Holzhammermethode": Ich habe ein paar Suchttherapeuten im Rahmen meiner ambulanten Therapie 2015/2016 kennengelernt. So war keiner gestrickt. Da hattest Du einfach Pech. Ist wie mit den Ärzten, Handwerkern, Anwälten ... auch. Es gibt gute und halt andere.


    Übrigens, die These mit dem persönlichen Tiefpunkt teile ich. Ich bin erst ausgestiegen, als es mir nicht mehr möglich war, Saufpausen, die mir früher scheinbar leicht von der Hand gingen, einzulegen. Das war genau zu der Zeit, als meine Familie mir klar machte: "Entweder Therapie oder Trennung." Das saß und brachte mich in Windeseile dazu, die Flasche weg zu stellen. Bislang mit Erfolg.

  • Einfach Pech gehabt..? Mag sein dass es so ist. Ich habe da natürlich, glücklicherweise, auch solche und solche Menschen erlebt.

    Eine zufriedenstellende Antwort (inhaltlich) ist das aber nicht wirklich für mich. Zumal es hier, wie Du selbst ja ganz treffend formuliert hast, auch um Menschenleben geht.

  • Übrigens, die These mit dem persönlichen Tiefpunkt teile ich. Ich bin erst ausgestiegen, als es mir nicht mehr möglich war, Saufpausen, die mir früher scheinbar leicht von der Hand gingen, einzulegen. Das war genau zu der Zeit, als meine Familie mir klar machte: "Entweder Therapie oder Trennung." Das saß und brachte mich in Windeseile dazu, die Flasche weg zu stellen. Bislang mit Erfolg.

    Die Tiefpunktthese teile ich auch. Die Frage ist, ob man wirklich erkennt, ob der eigene Tiefpunkt schon da ist? Und nach der Erkenntnis des Tiefpunktes kommt die Herausforderung des Handelns.
    Es gibt ja auch genug Erfahrungsberichte von Angehörigen, die ihre Menschen wegen des Alkohols verlassen habe, und die Trinkenden trotzdem nicht aufhören.
    Ich persönlich glaube mittlerweile es gibt eine feine Linie, bis wohin der Verstand noch greifen kann, dass es genug ist und ein Ausstieg dann auch machbar ist. Gleichzeitig gibt es aber auch einen "Point of no return".

    Aber wann greift der Mensch, dass er ins Handeln kommen muss? Ich denke, dass ist eine gesamtgesellschaftliche Einstellung zum Alkohol, die es besonders schwer macht, aufzuhören und der Alkohol ab einem Punkt zu zerstörrerisch. Das Thema Gesellschaft und Akzeptanz haben wir ja X-Tausend mal durchgekaut und das hat definitiv eine Berechtigung.

    Zurück zum Thema, ich wurde lange pur von der Trinksucht gehindert, auszusteigen. Ich war voll drinnen in der "Befriedigungsspirale", der der Alkohol in mir auslöste, wenn ich ihn trank.
    Morgens, war ich verkatert vom Vortag, dementsprechend mies gelaunt - wobei das eine Untertreibung ist, ich war durch den Alkohol depressiv - , und nachmittags japsten die Synapsen nach dem Stoff, der die Endorphine im Hirn ausschüttet, das ich mich so fühlen konnte, wie ich das wollte. Bis zu dem Punkt, dass es halt, wie jeden Tag, zu viel war.

    Ich habe meine Lebensuhr ablaufen sehen, mit jedem Tag des Suffes, wurden mir die Dinge klar, die ich NICHT werde machen können, wenn ich weiter trinke. Und das hat mich mehr und mehr zerfressen. Aber ich habe das gewusst, selber gespürt und mich damit auseinandergesetzt. Aktiv auch damit auseinandergesetzt und es blieb immer ein Baustein über, der alles verhindert: Der Alkohol.

    Und dann hat mir das Leben einen absoluten Tiefpunkttag geschenkt. Einen Tag des grausamsten Katers in Hamburg, an meiner Seite meine Tochter. Und ich war minütlich davor, mich auf eine Bank zu legen keinen Milimeter zu gehen, weil es mir so dreckig ging. Wir waren in einem Theaterstück und ich musste mich 2 Stunden beherrschen nicht auf die Bühne zu ko........

    Nach über 12 Stunden des puren Leidens und der maximalsten Beherrschung waren wir zu Hause und ich bin sofort eingeschlafen und habe geschlafen wie ein Baby. Bin aufgewacht, und ich war glasklar im Kopf. Und dann hab ich mir gesagt: Das war´s.

    Der letzte Tropfen des Entschlusses war glasklar das Miterleben der drohenden Handlungsunfähigkeit gegenüber meiner Tochter. Und das meine lieben Freunde bohrt in mir bis heute. Weil ich eigentlich von mir behaupte, ein echt guter Vater zu sein. Aber da hatte ich versagt, auf ganzer Linie.

    Na ja, jetzt wiederum bin ich stolz darauf, ein noch besserer Vater sein zu dürfen, der viel für sich tut, was gleichzeitig der Familie zu Gute kommt. Und es ist ein sehr beruhigendes Gefühl zu wissen, wenn was ist, ich bin sofort bereit, für die Familie zu handeln und für meine Kids da zu sein. Gerade jetzt, wo meine Große Tochter langsam flügge wird.

    Ich komme ins Schwafeln, aber dieser Absatz sei mir noch gegönnt, ich habe genau das neulich mit meinem Bruder besprochen, der bis heute nicht so verstehen kann, dass ich 100% abstinent bin und bleibe, gerade auch der Kinder wegen. Der meinte zu mir: "Mein Sohn kann sich auch immer 1000% auf mich verlassen. Wird nur manchmal bestimmt teuer, denn egal wo er ist, ich schick ihm ein Taxi....."..........weil Papa es nicht einsehen kann, ebenfalls nicht mehr zu trinken. Er meinte neulich zu mir, bei ihm ist doch alles gut. Drei Tage in der Woche trinkt er gar nichts...........

    So long.

  • Taxi....."..........weil Papa es nicht einsehen kann, ebenfalls nicht mehr zu trinken. Er meinte neulich zu mir, bei ihm ist doch alles gut. Drei Tage in der Woche trinkt er gar nichts...........

    ...

    Ich sagte mir jahrelang auch ,dass bei mir alles gut ist obwohl ich es schon längst ahnte ,dass es eben nicht gut ist...Aber zu dem Zeitpunkt war ich auch noch nicht wirklich bereit, aufzuhören.


    Ich konnte mir womöglich auch noch nicht richtig eingestehen, dass es tatsächlich schon so schlimm ist.

    Dieser Gedanke hätte mir noch mehr Angst eingejagt ,mehr als der Gedanke ,den Alkohol loslassen zu müssen und so dreht man weiter am Rad des Selbstbetrugs, damit konnte man das ja noch irgendwie halbwegs kontrollieren.

    Wie oft sagte ich mir ,dass ich ja kein Alkoholproblem hatte ,schließlich konnte ich ja mal 2 Tage in der Woche nichts trinken...und doch waren diese 2 Tage schrecklich, ich freute mich schon auf den nächsten Tag ,an dem ich mir dann einen Wein "erlaubte".

    Allein dieser Gedanke erschütterte mich ,weil ich wusste ,ich konnte nicht "ohne".

    Aber diesen musste ich noch wegwischen.

    So lang, bis es eben dann wirklich genug war.

  • Wenn es einem Menschen ab dem Tiefpunkt möglich ist auszusteigen, WARUM ist es dann auf einmal möglich? Es ist ja an sich kein anderer Mensch.

    Es gibt nur dann einen Tiefpunkt, wenn es nach einer Abwärtsphase wieder aufwärts geht. D.h., nur derjenige, der erfolgreich aus seiner Sucht ausstieg, stellt in seinem Suchtleben einen Tiefpunkt fest. Ich denke deshalb, dass nicht der nur nachträglich feststellbare Tiefpunkt Aussagekraft besitzt, sondern das, was vorher im Menschen ablief und ihn dazu bewegte, sein Suchtleben zu beenden. Anders ausgedrückt: Nur weil ich vor dem Tiefpunkt ein Anderer wurde, gibt es den Tiefpunkt in meinem Suchtleben.

    Bassmann

  • Wenn es einem Menschen ab dem Tiefpunkt möglich ist auszusteigen, WARUM ist es dann auf einmal möglich? Es ist ja an sich kein anderer Mensch.

    Ich habe da nun länger drüber nachgedacht und ich denke, dass es sich auf Lust- und Unlustverhalten grob runterbrechen lässt. Wir Menschen sind bequem und verhalten uns nach dem Lustprinzip. Veränderung jedoch ist Unlustverhalten par excellence. Für Veränderung braucht man Motivation und Veränderung muss man wollen. Da steckt viel Antrieb dahinter und diesen Antrieb entwickeln wir Menschen, wenn es 1) nicht mehr anders geht und wir Alternativen finden müssen, weil die Kosten des Lustverhaltens schlichtweg zu groß geworden sind. Das wäre der Weg des Leidensdruckes und der Tiefpunktthese. Hier ist der Handlungsdruck auch mit am Größten, denn an dem Punkt geht es einem einfach sehr dreckig. Da will man raus und ist bereit dafür dann quasi alles zu tun. Hohe Veränderungsmotivation oder auch der Turning Point. Ich bin jedoch auch zu dem Schluss gekommen, dass es 2) auch einen zielorientierten Ansatz geben muss…wenn man sich ein Ziel sucht, was sehr attraktiv ist, dann wird man auch Motivation und Willen zur Veränderung aufbringen. Beispiel: Ich will unbedingt einen Marathon laufen (aus welchen Gründen auch immer) und ordne dieser Zielerreichung nun alles unter (höre auf zu Saufen, gehe trainieren, stelle meine Ernährung um). Nur als Beispiel.

  • In dem Thread sind so viele gute Gedanken, dass es wahrscheinlich bis heute Abend dauern würde, zu jedem einzelnen noch den eigenen Senf dazuzugeben.

    Nur noch kurz zu einem Gedanken, der mich persönlich sehr anspricht.

    Aber irgendwo begleitete mich auch immer so ein Teil einer inneren Suche. Teilweise auch verzweifelt. Etwas in mir, das ich spürte dass es gelebt werden wollte, ich aber nicht dran kam. Ich bekam es nie richtig zu fassen. Schwer zu beschreiben. Wie eine Begrenzung meiner eigenen Persönlichkeit und meines Lebens, die ich noch zu durchbrechen suchte. Aber ich fand nie den Ansatz. Es war immer nur eine Ahnung. Ein verborgenes Bild. Und ich fand keine andere Antwort darauf, als in den Rausch, ganz gleich welcher Droge die ich konsumierte, irgendeine Art Transzendenz hinein zu interpretieren.

    Ich kann diese Gedanken sehr gut nachvollziehen. Der Rausch/ die Droge war ein Teil meiner inneren Suche. Einer Suche nach Freiheit und dem wahren Selbst, was wahrscheinlich unter vielen dicken Schichten dysfunktionaler Prägung und Erziehung, sozusagen unter einer ungünstigen Konditionierung von innen und von außen steckt. Ich versuche dieses erlebte Gefühl der Freiheit und des “wirklich Seins”, diese “Golden Moments” auch nebenher in meiner Geschichte abzubilden. Und ich habe diese Erfahrungen, die klaren Momente nicht nur auf Droge gehabt, sondern oft auch in kürzeren oder längeren Zeiten meiner nüchternen Episoden. Es fühlt sich an, wie ein Leben, was wirklich gelebt wird, beinahe wie ein Geschenk. Sozusagen MEIN Leben, was hinter dieser ganzen Fassade aus Sucht, falschen Kompromissen, Schönrederei, Lügen, Selbstanklagen und Ängsten steht.

    Vielleicht haben ja auch viele dieses “echte” Leben schon immer und denken überhaupt nicht darüber nach, weil es für sie “normal” ist. Nur war es bei mir eben nicht so. Aber auch in Gesprächen z.b. mit meiner Frau, aber auch mit anderen tauchte immer wieder die Frage auf, warum man denn immer seinem Leben hinterher rennt, getrieben wird und entweder in einer (verklärten) Vergangenheit oder in Zukunftssorgen festhängt, sozusagen nie im “Jetzt” lebt. Oder eben dafür Drogen, den Rausch benötigt, um kurzzeitig diesen Zustand zu erreichen bzw. um sich mal kurzfristig auszuklinken.

    Um nochmal auf die Motivation zurückzukommen, mich motiviert diese “Suche” nach meinem Leben, dieser Freiheit, die ich jetzt in Ansätzen immer wieder erlebe, diese positive Lebensveränderung deutlich mehr, als wenn ich mich als ewig krank sehe und mir vorgebe, dass mit dem nächsten Schluck oder der nächsten Pille alles aus ist und der Rückfall kommt, der sich gewaschen hat.

    Ich bin Alkoholiker/ Süchtiger ohne Frage und ich weiß das der nächste Schluck wieder alles aufweichen und letztendlich wegspülen würde, was bis jetzt gewachsen ist. Aber mir hilft diese Sichtweise auf eine positive Lebensveränderung um so vieles mehr, weil sie mir Hoffnung gibt und mich nicht selbst “auf ewig krank” sehen lässt.

    Auch für mich ist es also ein absolut kostbares Geschenk.

    Und genau das ist auch meine Sichtweise, ich habe nicht irgendentwas "aufgegeben" weil ich musste. (Klar, hätte ich weiter gemacht, wäre es bestimmt nicht gut ausgegangen)

    Ich habe und gewinne durch meine Nüchternheit viel mehr dazu, als das, was hinter mir liegt und im Prinzip nur eine verklärte Illusion ist/ war.

  • Ich habe und gewinne durch meine Nüchternheit viel mehr dazu, als das, was hinter mir liegt und im Prinzip nur eine verklärte Illusion ist/ war.

    Was genau gewinnst du durch deine Nüchternheit?

    Ich kann deinen Satz bestätigen, aber es fällt mir schwer ,meinen Mehrgewinn zu definieren.

    Es ist eine Mischung aus : Freiheit, Echtheit (?), keine Verklärung mehr , Wohlbefinden, Authentizität.

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