In einem anderen Thread kam die Tage wieder das Thema Heilung oder nicht auf, und ich möchte das für mich mal hier her in einen Thread von mir ziehen und ein par Gedanken von mir dazu schreiben.
Irgendwo habe ich mal den Satz gelesen:
Die Sucht hat so viele Gesichter wie es Süchtige gibt.
Das trifft ganz gut wie ich die Sache sehe und für mich erlebe. Ich selbst habe noch nie viel von verallgemeinernden Grundsatzdiskussionen gehalten. In den meisten Fällen führen diese dazu, dass letztlich keiner der Beteiligten Recht hat.
Ein Erlebnis von mir:
Auf meinem persönlichen Weg hatte ich im ersten Jahr meines Ausstieges unterstützend auch suchttherapeutische Angebote zuzüglich Nachsorge etc. wahrgenommen. Nach ein par Monaten, ich war schon weiter vorangeschritten und in der Abstinenz auch recht gefestigt, kam in einer (therapeutisch) geleiteten Gruppensitzung das Thema auf. Und ich sprach offen heraus über meine Einstellung: Dass ich meinen Weg gehe, weil ich heilen und genesen möchte. Und dass es mir guttut, meinen Weg zu gehen, weil ich merke, dass mir diese Heilung und Genesung gelingt. Um mich herum gerieten schlagartig einige Beteiligte nahezu in Schnappatmung, und redeten fast schon durcheinander auf mich ein, dass das nicht ginge, dass es das nicht gibt, dass das nicht geht weil es soundso ist, und das alles. In diesem Moment bat der Gruppenleiter (ein erfahrener Suchttherapeut) die Gesprächsteilnehmer freundlich zur Ruhe, und sagte: dass das völlig in Ordnung ist. Wenn ich meinen Weg als Genesung und Heilung betrachte, ist das gut, hat seine Richtigkeit, und sollte unterstützt werden. Das tat mir in diesem Augenblick sehr gut, und brachte mich auf meinem Weg wirklich wieder ein Stück weiter.
Mein Ausstieg ist nun über ein Jahrzehnt her. Mein Leben hat sich in vielerlei Hinsicht gewandelt. An meinem Ausstiegspunkt war mein Leben ein Scherbenhaufen. Arbeitslos, hoch Verschuldet, sozial nahezu isoliert, hohe Mietschulden... und hochgradiger Kontrollverlust in Bezug auf Alkohol in gelegentlichem Mischkonsum mit Cannabis, zunehmend über viele Jahre hinweg.
Vielleicht hatte ich noch das „Glück“, dass eine körperliche Abhängigkeit noch nicht sehr stark ausgeprägt war. (Ein qualifizierter stationärer Entzug war in meinem Falle nicht nötig, ich hatte keine starken körperlichen Entzugserscheinungen wie Zittern, Krämpfe, Halluzinationen oder ähnliches. Ich musste im körperlichen Entzug nicht medikamentös unterstützt/behandelt werden.)
Aber ich weiß heute - auch durch Berührungspunkte mit Alkohol, die ich nach einigen Jahren durchaus hatte - dass mein Weg des nüchternen Lebens weiterhin der gesunde Weg ist. Und dass mein aktiver Suchtausstieg für mich eine dankbare Heilung bedeutet hat.
In den angesprochenen Vorfällen/Rückfallsituationen (welche nicht zu einem Rückfall führten), habe ICH für MICH beobachtet: der Konsum war nach wie vor wirkungsorientiert. Eine bestimmte Mindestmenge um eine bestimmte Wirkung zu erreichen. Aber: im Vergleich zu meinem alten pathologischen Trinkmuster gab es keinen Kontrollverlust. Die Menge war weitaus, um ein Vielfaches, geringer als früher. Kein Filmriss. Kein Nachschub holen irgendwo. Kein offenes Fass ohne Boden. Es blieb bei dem einen Konsumabend. Keine Fortsetzung des Konsums an den nächsten Tagen oder Wochen.
Den per se irreparablen Kontrollverlust, kann ich also von meiner Seite her so nicht bestätigen. Und mir ist auch keine medizinische Erhebung oder wissenschaftlich belegte Studie bekannt, wo dies so in dieser Form für Jeden und allgemeingültig dargestellt wird.
Nun… könnte ich ja dem Irrdenken erliegen... Na dann. Kann man doch einfach wieder…
Tu ich aber nicht. Weil ich, wie jeder andere gesunde Mensch auch, einfach keinen Bock habe auf die Kopfschmerzen am nächsten Tag (die man auch schon nach 1 oder 2 Bier hat). Weil ich mittlerweile dieses Gefühl der Betäubung als sehr, sehr unangenehm ja sogar bedrohlich empfinde. Weil ich einfach, wie jeder andere gesunde Mensch auch, keinen Bock drauf habe mit einer Krücke, namens was auch immer, durchs Leben zu gehen. Ich möchte, wie jeder andere gesunde Mensch auch, selbstverantwortlich mein Leben lenken. Ich habe gelernt, was ich vorher nie lernen durfte, dass Alkoholmissbrauch unverantwortlich mir selbst und anderen gegenüber ist. Mal ein Grill- oder Fussballabend? Ja klar. Sehr gerne. Aber ich möchte am nächsten Tag trotzdem früh aufstehen, und klar, leistungsbereit und fit zur Arbeit gehen. Mit der Erinnerung an einen schönen Abend, mit der Familie und lieben Freunden. Ich lebe nüchtern, aus Überzeugung, und weil ich es seit vielen Jahren konkret so erlebe, dass die Nüchternheit für mich einen unbezahlbar großen Zugewinn und Mehrwert in meinem Leben darstellt, den ich für nichts in der Welt mehr hergeben will.
Zu meinem Ausstiegspunkt, als ich vor einem Scherbenhaufen stand, und eine (temporäre) Abstinenz für mich ja erst mal nur sowas wie ein allerletzter Strohalm war an den ich mich klammern konnte, ein winziges Sandkörnchen der Hoffnung – zu dem Zeitpunkt hätte ich mir das so noch gar nicht vorstellen können. (Auch wenn ich die Möglichkeit dafür unbewusst schon einräumte.)
Aber es dauerte nicht lange, nur wenige Wochen, und ich spürte da schon, dass es etwas Wahres und Großes zu sein schien was mich da packte.
Ich habe auf meinem Weg für mich die Erfahrung gemacht: die Ansichten, das Gefühl in mir, meine Gedanken zu meinem Weg, alle Dinge die MIR gut tun, die mich voranbringen ohne jemand anderen zu schaden, was mich mir und meiner inneren Kraft näher bringt, das ist auch gut und richtig für mich.
Ganz gleich, was irgendwelche Statistiken „sagen“, oder andere Menschen als angeblich allgemeingültig immer und immer wieder wiederholen. Es kann niemand, kein Betroffener und auch kein Therapeut, in mich hineinblicken. Ich kann mir Hilfe suchen wo ich sie brauch, aber ich bin für mich selbst verantwortlich. Ich persönlich finde es daher sinnvoller und schöner, wenn sich Gesprächsebenen nicht in Argumentationen wie -Der Süchtige- (wer soll das denn sein?) oder -Die Statistik- oder dergleichen ergeben, sondern wenn Menschen einfach von sich selbst und ihrem persönlichen Weg berichten.
Für mich war es jedenfalls so hilfreich wichtig. Weil es mir die Möglichkeit öffnete, mir dort, an allen Stellen, in den Lebensgeschichten von Betroffenen, an Anlaufstellen wo ich mir Hilfe suchte - dankbar jeweils das für mich heraus zu nehmen, was für mich passte, was für mich gut war, und was mich auf meinem Weg unterstützte und weiter brachte.
Liebe Grüße an Alle,
Mojo