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In the Chambers
Mir kommt es manchmal hier unten so vor, als ob ich IHRE Anwesenheit auf andere Weise erlebe. Eigentlich ist es klar, weil ja jeder hier direkt oder indirekt mit IHR liiert war und verständlicherweise jetzt über sein Leben ohne SIE berichtet. Aber trotzdem fühlt es sich so an, als würde SIE sich hier unten nur verstecken und versucht auf anderem Wege wieder um meine Gunst und die ihrer anderen Liebhaber zu buhlen. Durch die oft gleichen und vorhersehbaren Diskussionen, die hier ausgetragen werden und des Öfteren auf einen Disput hinauslaufen, habe ich den Eindruck, dass sich viele hier ihre Energie, ihr Wohlbefinden und ihre Ablenkung aus solchen Streitgesprächen ziehen.
Ich bin in einem Gesellschaftssystem aufgewachsen, in dem in gewisser Weise Vorgaben und Normen herrschten, die festlegten, was gesagt und was eher nicht gesagt werden sollte. Da ich relativ schnell Stimmungen und Situationen einschätzen kann, ich sozusagen schnell spüre, woher der Wind weht, werde ich mich an meine Kindheit und Jugend in dem damaligen System erinnert.
Da ich meine eigenen Berechnungen vorerst beiseite gelegt habe, bleibt mir nun Zeit, um mir Tafeln und Lösungswege anderer Leute anzuschauen.
Dabei bleibe ich vor einer Tafel stehen, um die sich eine große Traube von Menschen gebildet hat. Einige Leute reden auf einen Mann ein, der schon leicht ergraut ist, sehr gepflegt wirkt und um die 60 Jahre alt sein wird. Ich stelle mich dazu und verfolge das Geschehen.
Der Mann, der nur indirekt mit IHR zu tun hat, beschreibt die Dreiecksbeziehung zwischen ihm, seiner Frau und IHR.
In seiner Verzweiflung hat der Mann versucht, den sich immer weiter steigernden Liebesakt zwischen seiner Frau und IHR zu verhindern und warf SIE kurzerhand aus dem Haus. Seine Frau war daraufhin so erbost, dass sie auf ihn mit einem schmiedeeisernen Küchengerät, auch genannt Bratpfanne, losging. Da der Mann in seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit keinen anderen Rat mehr wusste, hielt er der Frau die Hände fest, damit sie ihm nicht das Küchenutensil über die Rübe donnern konnte. Bei seiner Defensivtaktik oder eher im Eifer des Gefechts hielt er die Hände der Frau so fest, dass sie Spuren an den Handgelenken davongetragen haben muss. Der Mann ist von der eskalierten Situation selber sehr entsetzt und ich merke, dass es ihm sehr leid tut und er nicht mehr weiter weiß. Eigentlich ist es eine von vielen Situationen, die SIE immer gerne in Beziehungen bringt, in denen SIE sich einmischt und Unfrieden stiftet. Auch ist es nicht unnormal, dass einer der beiden Partner durch jahrelange Überforderung mit unangemessenen Reaktionen oder gar Gewalt reagiert.
Mir fällt auf, wie die Situation umschlägt und der Mann, der eigentlich sein Leid klagen wollte und sich nicht zu helfen weiß, nun Zielscheibe immer wieder gleicher Vorwürfe werden wird.
Die Ratgeber, die sich gleich zu Anklägern entpuppen werden, haben sich mehrere Podien aus Pappe aufgebaut, sich Faschings-Richterroben übergeworfen und dazu noch weiße Perücken und ein ernstes, wichtiges Gesicht aufgesetzt. Sie werfen dem Mann nun vor, dass er die Situation eskalieren lassen hat und durch die Gewalt eine neue Grenze überschritten hätte. Im Grunde wird ihm aber in erster Linie Uneinsichtigkeit unterstellt. Das wird dem Mann, der in seiner Antrittsrede beteuert hatte, dass ihm die Sache Leid tut und er aus Überforderung und Hilflosigkeit gehandelt habe, immer wieder und wieder in wichtig klingender Rede angelastet.
Es ist so offensichtlich, dass der Fall nur dafür genutzt werden soll, damit sich die sogenannten gutmeinenden Ratgeber ein Podium verschaffen, um sich selbst in Szene zu setzen. Das wird dem älteren Mann schnell klar und mir natürlich auch. Ich bewundere die Ruhe, mit der er auf die immer gleichen Vorwürfe eingeht. Es dauert aber nicht lange, da wird es ihm zu bunt und mir bei diesem Schauspiel regelrecht übel. Er fängt langsam an, seine Beherrschung zu verlieren und passt sich dem Ton an, der hier seitens der Ankläger vorgelegt wird. Da. dummerweise ab und an so ein Gerechtigkeitsbedürfnis bei mir einsetzt, kann ich mir einen Kommentar zu dieser Show-Gerichtsverhandlung nicht verkneifen. Sofort schlägt die Energie der selbsternannten Staatsanwälte jetzt auch in meine Richtung um. Nun wird mir ebenfalls vorgeworfen, uneinsichtig zu sein und die wohlgemeinte Hilfe und selbstlosen Ratschläge nicht annehmen zu wollen.
Ich weise die Staatsanwält'innen darauf hin, dass hier ein unverhältnismäßig hohes moralisches Strafmaß angelegt wird, was an das Bild eines Schauprozesses oder eher an eine Fernehgerichtssendung erinnert und die entstehende Gruppendynamik eher wenig bis überhaupt nicht zielführend ist. Da die Debatte wie gewohnt wieder endlos weitergeführt werden will, ich aber spüre, dass mir das nur wieder Zeit und Energie abknappt, verlasse ich samt dem älteren Mann kopfschüttelnd den sogenannten Gerichtssaal und gehe weiter.
Nach einiger Zeit hat sich die Versammlung um die Tafel des älteren Mannes aufgelöst und ich spaziere noch einmal dorthin, um das gesamte Protokoll in Augenschein zu nehmen. Dabei stelle ich fest, dass hier die Möglichkeit besteht, die Rechenwege und Formeln, aber auch die Kommentare der anderen zu bewerten. Das geschieht auf ganz simple Weise, indem einfach kleine bunte Pappsymbole auf die Tafel unter die jeweiligen Abschnitte geklebt werden.
Beim Überfliegen der Abhandlungen stelle ich fest, dass unter meinen Passagen auch ein paar solcher Pappsymbole geklebt wurden.
Und ich muss sagen, dass sich das wirklich gut anfühlt, beinahe wie ein Lob. Es lässt mich sogar ein klein wenig die Endorphine ausschütten, die ich früher, natürlich um ein Vielfaches mehr, im Zusammensein mit IHR erlebt habe. Und ich merke, wie mein Körper genau nach diesen Endorphinen dürstet und jeden noch so kleinen Ersatz gern willkommen heißt. So werden mir um einiges die Beweggründe der oft ähnlichen Debatten und Belehrungen klarer. Ich verstehe jetzt den Hintergrund der einstudierten Reden, welche den Geist der großen Masse widerspiegeln und somit hier eine große Resonanz finden, besser.
Zum einen kann man als Mitglied der großen Gruppe den Delinquenten mit vorgefertigten Dogmen in die Ecke treiben, hat sogar ein leichtes Machtgefühl über ihn und kann ihm zum Schluss noch Unbeugsamkeit und mangelnde Einsicht vorwerfen. Zum anderen fühlt man sich in der großen Gruppe sicher, wird durch sie noch bestätigt und kann Lob in Form von Pappsymbolen sammeln, wenn man die richtige Botschaft rezitiert hat.
Ich bin wie gesagt recht schnell im Erfassen von Stimmungen und Situationen und es wäre mir ein Leichtes, ebenfalls die geforderten Maxime aufzusagen und viele Pappsymbole und den damit einhergehenden leichten Endorphinausstoß zu ernten. Da mich das aber an Mechanismen und Strukturen aus dem damaligen Gesellschaftssystem meiner Kindheit und auch meiner jetzigen Arbeitsstelle erinnert und es sowieso nicht echt wäre, lasse ich es bleiben. Ich habe auch oft erleben müssen, wie es sich anfühlt, wenn kranke Persönlichkeiten ihr Ego auf meine Kosten aufbauen und das möchte ich niemandem zumuten. Und weil es sowieso nicht echt wäre, taugt es nichts und es würde keine Endorphinausschüttung stattfinden.
Ich werde mich wohl anderweitig kümmern müssen, weil ich merke, wie mein Körper zwar nicht mehr nach IHR, aber schon nach den begehrten Stimmungsaufhellern lechzt.
Vielleicht probiere ich es zur Abwechslung mal mit Sport. Oder ich verprügle einfach mal den einen oder anderen Arbeitskollegen, sperre meinen Vorgesetzten ohne Klopapier auf der Damentoilette ein und verpetze ihn dann anonym bei der Geschäftsleitung. Oder ich schreibe mir einfach manchen Scheiß von der Seele.
…
Balaton-Baby - The End of the pure L.S. I.
Ich schreibe eine Urlaubskarte an meine Fast-Freundin Mila. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich meine, dass es eine Karte mit dem Motiv leicht bekleideter junger Frauen im Vordergrund des Balatons war. Aus heutiger Sicht vielleicht etwas albern, aber damals hat das gut zu der Fast-Beziehung gepasst, die ich mit Mila beinahe geführt hatte. Ich hatte Mila vor noch nicht allzu langer Zeit in der heimischen Disco auf einem meiner unzähligen L.S.I. -Trips kennengelernt. Wir machen wortwörtlich je nach Lust und Laune immer gerne etwas miteinander rum, ohne aufs Ganze zu gehen. Vielleicht gehen wir gerade nicht aufs Ganze, weil das dann bedeuten würde, dass wir uns festlegen müssten. Wenn wir uns festlegen würden, wäre wahrscheinlich das ganze Leichte und Spielerische aus unserer Fast-Beziehung weggenommen. Vielleicht haben wir auch nur Angst dem Anderen zu zeigen, dass wir in einer festen Beziehung ziemlich normal und langweilig sind und dann dieses unverbindliche Turteln und sich necken, dieses vage und unerreichbar bleiben, dann für immer weg wäre.
(Gerade fällt mir ein, dass sich einige Zeit später doch beinahe etwas Festes mit Mila angebahnt hätte, aber da ich parallel zu der Zeit schon Anastasia kennengelernt habe, ist es eben bei der Fast-Beziehung geblieben. Es wäre interessant gewesen, wie sich die Geschichte in diesem Strang entwickelt hätte, vielleicht würde ich jetzt hier nicht schreiben und würde als langweiliger Angestellter mein langweiliges Wochenendbierchen trinken und mich dabei langweilen. Zumindest hätte ich mir in dem Zeitstrang viel Ärger und Leid erspart, naja, vielleicht auch nicht. Und gerade in dieser anfänglich noch so unschuldigen, aber auch so abgedrehten Zeit, setze ich das Fundament für meine Suchtkarriere, die mich nun über Jahrzehnte begleiten wird. Manche Dinge kommen halt, wie sie kommen und man kann sie nicht aufhalten.)
Ich halte mich jetzt auch nicht länger mit der Karte auf, schreibe nur noch, dass ich hier viele hübsche Mädchen kennengelernt habe, die ähnlich wie auf der Karte aussehen, was ja auch nicht vollkommen gelogen ist. Und eigentlich will ich sie augenzwinkernd etwas eifersüchtig machen. Ich würde es ihr auch nicht übel nehmen, wenn sie mir umgedreht so etwas schreiben würde. Auf unserem Weg in die Stadt stecke ich die Karte in den Briefkasten und bummele mit Sandro und Burghardt durch die Straßen der ungarischen Stadt am Balaton.
Da ich mir jetzt seit vielen Wochen Alkohol mit einem abendlichen Promille-Wert von mindestens 2 Flaschen Wein genehmige, kommt es früh manchmal in Nuancen vor, dass die Konturen der Umwelt krasser, beinahe feindlicher erscheinen. Und da ich immer mein goldenes, farbenfrohes und weichgespültes Bild gewohnt bin, stimmt mich das minimal nachdenklich. Aber ich bin noch viel zu sehr von meinem Tonikum, meinem L.S.I. begeistert, um mir ernsthaft Sorgen zu machen. Es kommen zwar Gedanken, den Konsum zu minimieren, aber die werden auf später, vielleicht nach dem Urlaub, vertröstet. Und diese eher unangenehme, leicht beängstigende Wahrnehmung findet nur kurzzeitig in leichten Facetten statt und vergeht auch wieder.
So schlendern wir durch die sonnige, pulsierende Innenstadt und kehren in einen der unzähligen kleinen einladenden Biergärten ein. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob es nun vormittags oder nachmittags war, als wir auf der Außenterrasse eines Mini-Biergarten mit Namen Eden hängen bleiben, in dem die meisten Tische um einen kleinen Baum gestellt sind, der einen wunderbaren, lauschigen Halbschatten gibt. Durch den leichten Wind, der durch die Blätter des Baumes streicht, verändert sich immer wieder das Spiel von Licht und Schatten. Die Strahlen der durchscheinenden Sonne erzeugen beinahe ein Flirren der Lichtpartikel, ein Bokeh, wie eine sich ständig wechselnde Perspektive der Photonen.
Es ist so, als würden sich dabei auch meine Perspektiven verändern, die soeben durch meine Gedanken streichen.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob der Gedanke schon eher ab und zu auftauchte, wahrscheinlich war es nicht das erste Mal, aber ich habe auf einmal Bock, wieder Eine zu rauchen. Es war auf alle Fälle nicht der lange Kampf wie früher, dem ich auf kurz oder lang immer wieder nachgegeben habe.
Hier geht es ganz schnell. Ich bestelle mir, ohne groß darüber nachzudenken, bei der hübschen Bedienung, eine Schachtel Camel, die es hier in einer kleineren 10er Packung zu geben scheint. Mehr brauche ich natürlich auch nicht, ich will ja nur mal wieder probieren und nicht wieder anfangen zu rauchen. Ich bin doch nicht blöde und mache so einen Scheiß. Ich habe mich doch nicht so lange mit dem Dreckszeug herumgeschlagen, was mich müde, melancholisch und halb depressiv gemacht hat, nur um jetzt wieder anzufangen und mich von vorne mit dem Dreck rumzuärgern.
…Aber die Erinnerung an den Geschmack, den Rauch und diese Schachtel fügen sich so gut in dieses Bild von goldener Sonne, Biergarten und Urlaub ein. …Und Rauchen oder die Zigarette passt irgendwie doch gut zu mir, es ist so ein stimmiges, harmonisches Bild. …Erst durch das Rauchen sehe ich mich und das Bild meiner Umgebung in gewisser Weise erst richtig komplett.
…Ich werde nur mal wieder probieren und schmeiß die Kippen dann weg oder gebe sie meinen österreichischen Kumpels, von denen viele quarzen. Burghardt und Sandro rauchen natürlich nicht, sie haben ja schon genug mit ihrer Red Bull Drogensucht zu kämpfen.
Und so zünde ich mir nach einem sehr kurzen Bedenkmoment eine Zigarette mit einem Werbe-Streichholzbriefchen an, das mir die nette hübsche Bedienung, die dem Namensschildchen zufolge auf ihrer anziehenden Brust wahrscheinlich Eva heißt, mit hingelegt hat, da ich ja kein Feuerzeug mehr besitze.
Irgendwie sind die Dinger leicht klamm und haben wohl über Nacht in einer Bierlache unter dem Tresen gelegen. Ich ratzle ein paar Mal über die Reibefläche und erst beim dritten oder vierten Mal gelingt es mir, eine Flamme zu erzeugen. Da eine warme, leichte Brise durch den Baum und mein Haar streichelt, führe ich die Flamme, mit der linken Hand abschirmend, gekonnt und in altgewohnter Weise zu meinem Mund, in der sich schon die Zigarette befindet. Die Zigarette fühlt sich zwischen meinen Lippen seltsam vertraut an. Insgesamt ist die Situation aber eher seltsam, aber wiederum habe ich sie schon mehrmals erlebt.
Sollte ich wirklich? Ich bin schon so lange weg davon. Eigentlich will ich es nicht…aber eigentlich will ich es doch.
…Ach scheiß drauf, ich bin jetzt so ein cooler Typ und ich werde es nur noch mal probieren. …Ein, zwei Zigaretten vielleicht. Höchstens drei. …Ja, alle guten Dinge sind drei, das sagt man doch so. …Oder bis die Schachtel alle ist, das wäre doch ein guter Abschluss, ich mag erledigte Dinge. …Und ich habe jetzt auch mein Tonikum und kann jederzeit wieder aufhören.
Ich schüttelte diese letzten Bedenken ab, die sowieso nichts mehr aufhalten können, weil mit dem Kauf der Schachtel oder schon viel eher die Sache besiegelt war.
So nehme ich meine ersten Züge, betrachte beinahe ehrfürchtig diesen Glimmstängel in meiner rechten Hand, den ich so lange entbehren musste und nehme den nächsten Zug.
Es schmeckt natürlich erwartungsgemäß episch, schließlich habe ich nicht das erste Mal aufgehört und wieder angefangen. Diese ersten Züge und vor allem das befriedigende Gefühl, das mit der Stillung des Bedürfnisses nach kürzerer oder jetzt mit dieser längeren Auszeit einhergeht, ist mit das Geilste, was ich kenne. Es kommt beinahe einer Erlösung gleich und ist vielleicht der Grund, warum man überhaupt raucht. Alles, was später kommt, ist nur Dreck und kann mit dieser jungfräulichen Begegnung nicht mithalten. Wer mir erzählen will, dass die erste Zigarette nach längerer Auszeit nicht schmeckt, war nie ein richtiger Raucher.
Ich spüre, wie das Nikotin über meine Lungen absorbiert wird und in die Blutbahn geht. Wie mir vor Aufregung sogar etwas die Finger kribbeln und etwas kälter werden, was sich eher leicht unangenehm anfühlt.
Aber die Erlösung, die jetzt einsetzt, stellt alles in den Hintergrund. Diese Befriedigung der alten Sucht löst und entspannt alles in mir und ich merke, wie sich kurzzeitig ein warmes, erleichterndes Gefühl im Bereich des Solarplexus einstellt.
Aber leider eben nur kurzzeitig. Als die Zigarette fast zu Ende geraucht ist, habe ich natürlich auch wieder meine alten Dämonen zu neuem Leben erweckt.
Es ist ein Gefühl, das Falsche gemacht, nicht widerstanden zu haben. Durch eine unbedachte Handlung wieder etwas hervorgeholt zu haben, über das ich nie die Kontrolle hatte, wie, als hätte ich ein Stück altes Leben oder eine Facette von einer ungeliebten Vergangenheit heraufbeschworen. Eine latente Ungewissheit, was nun passieren soll, eine leichte Stimmung der Scham und der Schuld. Daran schuld zu sein, was gerade passiert ist. Ich merke auch, wie sich meine Wahrnehmung leicht verändert, es ist so, als hätte man lange durch eine Brille mit oranger Tönung geschaut, nimmt diese nun ab und sieht die Welt wieder in weniger bunten, warmen Farben und mit weniger Kontrast. Alles wirkt etwas fremder und weiter von mir entfernt. Ich bin nicht mehr ganz ein Teil dieser Welt, wie ich sie vorher immer durch den Genuss meines flüssigen Tonikums wahrgenommen habe. Einige Jahre später werde ich diese und ähnliche Situationen auch mit dem Alkohol nach längeren Trinkpausen erleben.
Vielleicht ging es Adam im Garten Eden ja genauso, als ihm Eva oder eher die Schlange die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen untergejubelt hat. Der junge Adonis wollte eben auch nicht hören oder hat sich nicht unter Kontrolle gehabt und musste einfach mal probieren. Wie ich eben auch immer alles probieren muss und dann darauf hängen bleibe. Naja zumindest ist auch Adam nicht im Paradies hängen geblieben, sondern wurde von seinem Vater achtkantig aus der tollen Grünanlage rausgeworfen. Die Bitch namens Eva konnte er gleich mitnehmen, die hat nämlich auch nicht hören können und war wahrscheinlich ein schlechter Umgang für Adam.
Ich habe mich früher immer gefragt, warum denn dieser Gott überhaupt die Tür zum verbotenen Giftschrank aufgelassen hat und dazu noch seine Knirpse mit so einem aalglatten Drogendealer in Schlangenlederjacke allein im Haus ließ, der dann mit gespaltene Zunge den unverdorbenen Kleinen die verbotenen Sachen schmackhaft gemacht hat. Der Altvater hätte doch wissen müssen, dass seine Kids sowieso machen, was sie wollen und nicht auf ihn hören. Die anti-autoritäre Erziehung ist in vielen Sachen bestimmt sehr hilfreich, aber hier war sie vielleicht etwas fehl am Platz. Und dann die ungezogenen Gören als Reaktion aus Haus und Garten zu werfen, mag zwar letztendlich konsequent gewesen sein, aber in Betrachtung der Vorgeschichte vielleicht etwas zu drastisch. Insgesamt schon etwas fahrlässig und in Folge leicht überreagiert. In jetziger Zeit würde so etwas eventuell das Jugendamt auf den Plan rufen.
Aus meiner heutigen Sicht wird mir immer bewusster, dass der Mensch durch die Höhen und Tiefen, die er erlebt, geprägt wird und dieses Erleben zur Menschwerdung dazugehört.
Dass es auch unumgänglich ist, Entscheidungen zu treffen, wir uns aber auf Grund von Vita, Prägung, Bedürfnissen, Emotionen, Kompromissen und Überforderung oft falsch entscheiden. Und wir infolge dieser Entscheidungen oder auch durch Entscheidungen anderer, die uns nur leicht tangieren, erschüttert und oft nie wieder ganz heil werden.
Ich frage mich gerade, habe ich wirklich die alleinige Schuld an manchen Dingen, die in der Vergangenheit passiert sind, passieren und auch noch passieren werden?
Ich habe eine Verantwortung für mein Leben. Ja, ich bin der Steuermann meines Schiffes. Aber wird nicht auch mein Schiff von vielen Winden und Strömungen gelenkt, von vielen äußeren und inneren Faktoren und habe ich wirklich immer die Kraft und den Willen, die Voraussicht und den Kompass, um gegenzusteuern?
Ich muss an die traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik denken, Kintsugi oder Kintsukuroi, wo Bruchstücke und Scherben mit einer Paste aus Gold einfach wieder zusammengesetzt werden und daraus sehr wertvolle Gefäße entstehen.
Die Fehlerhaftigkeit und die Makel werden zu einem Kunstwerk zusammengesetzt und nicht weggeworfen. Es sind Narben aus Gold. Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung besser gefällt, als wenn der Scherbenhaufen einfach ins Fegefeuer weggeworfen und auf ewig verbrannt werden würde.
Hier am Südufer des Plattensees sind es bestimmt keine Narben aus Gold, hier hat mein Gefäß vielleicht gerade mal die ersten Risse. Naja, in meiner Kindheit und den folgenden Jahren hat es auch schon ganz schön gescheppert. Und da ich soeben wieder mit Rauchen angefangen habe, hat mein Gefäß einen Riss mehr. Zumindest empfinde ich das mit der Sicht auf damals gerade so.
Nun sitze ich hier mit meiner Erkenntnis des Guten und des Bösen, einen Sprung mehr in der Schüssel und drücke meine Zigarette im Aschenbecher aus und bin nicht so recht glücklich damit, was ich soeben gemacht habe. Ich rauche natürlich eine zweite, um zu sehen, ob ich mich nun glücklicher fühle, was erfahrungsgemäß nicht eintritt. Aber es fühlt sich alles etwas normaler an, nämlich so, als hätte ich nie aufgehört zu rauchen.
Und irgendwie ist mein geiles L.S.I. Gefühl, diese Empfindung, längere Zeit etwas Großartiges geschafft zu haben und durch mein Tonikum beinahe jemand anderes, zumindest die beste Version von mir selbst zu sein, etwas geschrumpft.
Als wir bei der ungarischen Eva bezahlen, den lauschigen Halbschatten des Baumes und den Bier-Garten mit dem verheißungsvollen oder eher verheißungsschweren Namen verlassen und in das gleißende, grelle Licht der Mittagssonne treten, schmerzen mir durch den ungewohnten Lichtwechsel etwas die Augen. Meine Schachtel Kippen habe ich natürlich mitgenommen, ich kann sie einfach nicht liegen lassen. Außerdem habe ich sie ja schließlich bezahlt und da höre ich halt wieder zu Hause mit dem Rauchen auf. Aufhören will ich auf alle Fälle, bevor mich der Dreck wieder müde, melancholisch und halb depressiv macht.
Aber hier will ich feiern, ohne über etwas nachdenken zu müssen. Hier in diesem wunderbaren, unendlich langen und heißen Sommer, mit meinem L.S.I., meinem Tonikum, was mich so wunderbar zu erfüllen und zu reparieren scheint. Hier in Ungarn des Jahres 1994, hier in Siófok.