ARRIVAL oder
“Die Letzten werden die Ersten sein”
Mir schlägt diese heiße Luft entgegen, die wie eine Wand wirkt. Es ist Mittag und die grelle Sonne brennt in meinen müden Augen, so dass alles beinahe überbelichtet, fast weiß erscheint.
Ich gehe die Gangway hinab, betrete das Rollfeld, das vor Hitze flimmert und trotte den anderen Schafen hinterher, einer wird schon wissen, wo es lang geht.
Beim Betreten des Terminals bin ich beinahe erleichtert, wieder diese künstliche, klimatisierte Luft zu atmen. Das eher kleine Abfertigungsgebäude wirkt unscheinbar und ist kein Vergleich zu dem riesigen verworrenen Hochglanzflughafen zuhause, der um ein Haar wie der Turmbau zu Babel geendet hätte. Nur dass beim Turmbau zu Babel der liebe Gott die Sprachen der einfachen Bauarbeiter verwirrte und bei besagten Flughafen nur für Verwirrung unter den Planern sorgte.
Egal, ich bin im Moment auch etwas verwirrt, ob ich am richtigen Gepäckband stehe, weil mein Koffer nicht dabei ist. Aber da meine Begleitung die Koffer vom selbigen schon vor Ewigkeiten erhalten hat, sind die Dinger vermutlich im richtigen Flieger gelandet. So kann es nur eine Frage der Zeit und der Hoffnung sein. In diesem Land braucht es, wie auch sonst in meinem Universum, eben Geduld. Mein Langmut und mein Glaube zahlen sich wie üblich aus und mein Koffer kommt als einer der letzten. Er scheint intakt, was darauf hindeutet, dass noch alle Sachen drin sind.
Erleichtert, meine Last auf Rollen wieder zu haben, macht sich eine andere Last bemerkbar, die ebenfalls nach Erleichterung verlangt und so begebe ich mich auf die Suche nach einem “Restroom”.
Als ich mich kurz darauf im Spiegel des Waschraums betrachte, fällt mir mein müdes, verspanntes Gesicht auf. Es gab wirklich schon Tage, an denen ich etwas ungestresster ausgesehen habe. Aber es ist wieder mein Gesicht, und ich will mich nicht beklagen. Es gab früher Zeiten, in denen ich es nicht wahrhaben wollte und vermieden habe, mich im Spiegel anzusehen.
Ich habe dieses aufgedunsene, teigige Gesicht mit den geröteten, wässrigen Augen gehasst und mich unendlich dafür geschämt. Es fühlte sich an, als würde sich mein verzweifeltes Inneres einen Weg nach außen bahnen und verräterisch alle meine Sünden, Haltlosigkeiten, den ganzen ohnmächtigen Wahnsinn preisgeben wollen. Auch war diese seltsame Schwäche in den chronisch drückenden, müden Augen. Diese Schwachheit, durch die es in solchen Momenten schwer fiel, anderen Leuten offen in die Augen zu schauen und den Blick zu halten. Es war eine verzweifelte Scham in mir wegen dem, was andere in meinem Gesicht und in mir sehen mussten. Da ich meine innere Verzweiflung nicht von meinem Gegenüber in Form von ablehnender Bewertung widergespiegelt haben wollte, vermied ich oft den direkten Augenkontakt.
Wiederum kenne ich auch das gelöste, feinsinnige Gesicht mit den entspannten, glänzenden Augen, in denen die Kraft der Droge steckte. Das wache Gesicht und die Augen, die Lächeln, Flirten und das Gegenüber wie vor einer Leinwand als ein lebendiges Gemälde wahrnehmen konnten. Die Augen, die ohne Schmerz und vollkommen entspannt die Umwelt wahrnahmen.
In denen auf Basis von C₂H₅OH und später C₁₇H₁₉NO₃ und dessen Derivaten eine zuvor nie gekannte Kraft, eine abgeklärte Gelassenheit und ein verborgenes Wissen steckte und dieses geheimnisvoll nach außen strahlte. Nur eben leider nur auf der Basis dieser externen Chemie. Es war nicht mein eigenes, sondern ein geborgtes Glück.
Aber wie es bei geborgten Sachen so ist, gibt es leider oft Sorgen damit. So wurde dieser Quell der geliehenen Glückseligkeit immer launischer und giftiger und versiegte letztendlich ganz. Am Boden dieses inneren Sees kamen nun wieder der Schmerz, die Verzweiflung, die Schuld und die Scham zum Vorschein, die alten guten Bekannten von früher und verlangten nach immer größerer Sedierung.
Ich habe durch die Droge fast die Sonne berührt und erlebt, wie wunderbar sich Leben anfühlen kann. Ich habe mich in einer vorher nie gekannten Selbstliebe angenommen und diese gelassene Zufriedenheit, die auf der Droge basierte, aus meinem Inneren ausgestrahlt.
Ich lasse die Erinnerungen an mir vorüber fließen, betrachte dabei den Strahl des Wassers, der im Abfluss versiegt und trockne meine Hände ab. Ich rücke mein Basecap zurecht, welches das Label einer Surfer-Marke trägt, obwohl ich noch nie in meinem Leben gesurft bin. Als ich prüfend an mir herunterschaue, um später tadelnde Blicke meiner Partnerin zu vermeiden, bleibt mein Blick an meinen Vans hängen, der Marke die ich schon seit Jahrzehnten an meinen Füßen mit mir herumtrage. Ich war nie ein besonders begabter Skateboarder, aber ich mag bis heute den Lifestyle, der durch diese Marke suggeriert wird. Diese coole Freiheit, verbunden mit einem Anderssein, die vermutlich nur findiges Marketing ist.
In meinem Alter sollte ich mir sowieso langsam mal ein paar standesgemäße Lederslipper zulegen, aber ich mag mich manchmal einfach nicht von alten, gewohnten Dingen trennen. Vermutlich wird auf meiner Beerdigung der Kondolenzexperte meinem Schuhwerk eine besondere Aufmerksamkeit widmen: “Rent liebte seine Skater-Latschen und trug sie selbst noch im Altenheim beim Schieben seines Rollators, den er mit bunten Stickern verzierte…”
Da ich jetzt noch keinen Rollator stoisch in Richtung allerletztes Exit schieben werde, sondern mein Koffer beinahe von alleine auf Samsonite-Rollen in Richtung Ausgang und Urlaub gleitet, versuche ich nach vorne zu schauen. Aber natürlich nicht zu weit in die Zukunft mit dem Rollator, sondern nur das, was ich gerade vor Augen habe.
So rollen wir unsere Koffer zum Ausgang und wundern uns, wieso wir auf einmal in Freiheit stehen. Haben wir den Zollschalter inklusive dem grimmig dreinblickenden, schnurrbärtigen Borat, der sich als Beamter verkleidet hat, verpasst? Früher wechselte sein argwöhnischer Blick immer zwischen mir und meinem Pass, nur um mich dann nach endlosen Minuten wortlos durchzuwinken. Werden wir nun gleich von einem einheimischen SWAT-Kommando auf den Boden geworfen, in Gewahrsam genommen und nach Drogen durchsucht? Aber es passiert nichts.
So fährt erleichternd die große gläserne Ausgangstür auf und ich nehme wieder diese heiße Luft wahr, die sich jetzt nicht mehr unangenehm anfühlt. Dieser warme Föhn schmiegt sich nun wie eine wohlige Decke an meinen Körper und gehört hier dazu, wie glitzernder Schnee und klirrende Kälte zum Wintersport.
Auch werde ich durch diese tropische Hitze an längst vergangene Zeiten erinnert.
Ich kann mich noch an meinen ersten Flug entsinnen. Das war die Zeit, als im Flugzeug noch geraucht werden durfte und Gratisgetränke, in meinem Fall Bier und Wein, in diesen transparenten Plastikgläsern serviert wurden. Ich habe noch dieses Schauspiel aus Natur und Technik vor Augen, als das Flugzeug durch die dicke Wolkendecke stieß und das weiße Himmelsgebilde von oben wie Zuckerwatte von einer strahlenden, goldgelben Sonne erleuchtet wurde. Ich weiß noch, wie wunderbar angeflutet ich damals die Treppen des Flughafengebäudes hinunter gegangen bin und wirklich alles in Ordnung schien. Naja nicht ganz, ich hatte mit meiner damaligen Freundin etwas Stress, weil ich es mit meiner Anflutung aus ihrer Sicht wieder etwas übertrieben hatte und wir noch durch die Passkontrolle und den Zoll mussten.
Aber vielleicht kennt jemand die Momente, in denen die Dinge und Erlebnisse, die dich niedergedrückt und deprimiert haben, hinter dir liegen und sich alles gut anfühlt? Es ist dieses unschuldige Gefühl, das an Momente in der Kindheit erinnert, bevor das Leben mit seiner manchmal unaushaltbaren Last kam. Man denkt, man hat allen Scheiß hinter sich und glaubt, es wird auf ewig so bleiben, aber natürlich bleibt es meistens auf Dauer nicht so, wie es ist.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich aus heutiger Sicht und meinen Erlebnissen das Leben nie wieder so unbefangen wie damals wahrgenommen. Dafür ist in meinem Leben zu viel passiert und ich habe zu oft in den Abgrund geschaut. Auch gab es vor vielen Jahren infolge persönlicher Probleme beider Partner eine Trennung, unter der ich sehr lange gelitten habe und mir aufgrund meines Konsums die Alleinschuld gab.
Aber es ist vor allem die Sucht an sich, die jetzt mit mir aus dem Flugzeug ausgestiegen ist. Sie zwängt und drängt mich nicht mehr wie früher, sie lässt mich größtenteils zufrieden, aber ich weiß auch, dass mein jetziger Zustand wieder mit dem ersten Glas vorbei sein könnte.
Es ist in den Jahren etwas passiert, was mich nicht mehr alles so unbedarft wie früher betrachten lässt. Klar, man wird auch älter und ich habe jetzt als Ehemann, Familienvater und Versorger eine Verantwortung, die damals überhaupt nicht relevant war.
Aber die Erinnerung an die Sucht fährt mit, zwar harmlos, aber in Präsenz.
Ich habe schon ewig nicht mehr mit Craving zu kämpfen gehabt und das hier ist kein Craving, das ist Pille-Palle, das ist eher eine romantisierte Verklärung. Aber ich kenne mich, wenn ich diesem Gedanken Raum gebe, könnte er bald einen Brückenkopf installiert haben und dann wird es anstrengend.
Heute ist es auch nicht dieser zerrende Suchtdruck, der sich früher sogar im Bereich des Solarplexus bemerkbar gemacht hat. Es ist eine Mischung aus Jetlag, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Unwohlfühlen, ein Nichtankommen in fremder Umgebung und Reizüberflutung. Auch spielt die Unzufriedenheit mit, die von einer verklärten Erinnerung genährt wird, sich nie wieder wie früher in gewohnter tropischer Urlaubsumgebung wegballern zu können. Sich nie wieder mit einer wohlschmeckenden, aber giftigen Chemie in den eigenen, ganz privaten südlichen oder universellen Sternenhimmel beamen zu können. Es ist ein Hadern mit mir und meinem Leben. “Warum ich?!”
Klar, frag mal den, der unheilbar krank ist, der schmunzelt eventuell über dein Problem und wöllte vielleicht mit dir tauschen.
Selbstmitleid hat noch nie geholfen. Ich bin meinen Weg schon so weit gegangen und habe ehrlich gesagt einen riesigen Respekt vor dem Umkehren. Ich weiß, dass durch einen Rausch, und mag er noch so klein sein, alles wieder weggespült werden würde. So gehe ich einfach weiter und werde mit jedem Schritt fester. Ich blicke nicht auf verklärte Momente zurück und schaue mich nicht um. Der Krieg und die ausgebombten Ruinen liegen hinter mir und ich schaue auf das Zarte, das jetzt neu und zerbrechlich aus den alten Trümmern hervorsprießt. Es ist wie eine Wiese, die neu eingesät wurde und anfänglich nur vorsichtig betreten werden sollte, um nicht gleich alles wieder zu zertrampeln.
Golden Sundown and Clear Water
Die Sonne senkt sich langsam über den Horizont und taucht den Himmel in strahlendes Gold und warme Orangetöne. Das Wasser glitzert wie tausend kleine Diamanten und die Wellen rollen sanft ans Ufer. Mir weht eine warme Brise entgegen und ich höre das ruhige Rauschen des Meeres. Alles ist in ein friedliches, goldenes Licht getaucht und ich verinnerliche diese Welt, die ein Ausdruck meines inneren Mikrokosmos, meines inneren Friedens ist, der nichts außer meines eigenen Seins benötigt.
Mmh, das war vielleicht jetzt ein kleines bisschen übertrieben…
Ich sitze zum Abend mit meinem Wasser im Hotel, wodurch der Abend etwas fad und geschmacklos wie das Wasser selbst wirkt. Ich werde auch beim späteren Bummel über die Promenade bei Wasser bleiben. Auch dränge ich nicht wie früher zum Halt in Tavernen und kleinen Lädchen, die mit einladenden, gut gekühlten Alkoholika mit exotischen Namen hinter kondensierten Scheiben eine mir sehr bekannte Erfrischung verheißen. Mir reicht es, die temporäre innere Zufriedenheit und Anflutung der anderen Urlauber von außen betrachten zu können. Ich fühle mich dabei wie ein Beobachter. In Ansätzen vielleicht auch wie ein Kind, das von draußen der glücklichen Familie unter dem geschmückten Weihnachtsbaum beim Geschenkeauspacken zusieht.
Es ist halt so, wie es ist, es ist nicht mehr meine abendliche, alkoholisierte Urlaubswelt. In mir kommt trotzdem eine minimale Melancholie auf, dass es nicht mehr so ist, wie früher und auch nie wieder so sein wird. Auch klopft dieses bekannte Gefühl an, nicht dazuzugehören, beinahe noch nie wirklich in diese Welt integriert gewesen zu sein. In Summe fühlt sich das etwas fremd an, es ist diese Fremdheit und Leere, die ich mit der Droge so wunderbar kompensieren konnte.
Da ich die momentane Gefühlslage, die vielleicht in dem Sinne wirklich auf einer Art Anderssein beruht, nicht ändern kann, nehme ich alles an und sage ja. Ich sage ja zu mir, meinem Leben und meinen Gefühlen, wie sie im Moment sind. Es macht keinen Sinn zu hadern, ich bin nunmal süchtig und vielleicht auch etwas anders, aber es ist so wie es ist und ich werde mich nicht mehr verbiegen.
Ich weiß auch, dass morgen früh wieder alles in Ordnung sein wird, ich erleichtert aufstehen und zufrieden mit mir sein werde, dass ich seit langer Zeit ohne Droge bin und das tendenziell auch so bleiben wird.
Aber heute Abend ist noch nicht morgen früh.
Erfahrungsgemäß lässt diese abendliche Leere und Fremdheit meistens nach ein paar Tagen nach. Es hat bei mir auch viel mit einem Ankommen in fremder, ungewohnter Umgebung zu tun. Trotzdem wird dieses Gefühl meistens abends, zu den Zeiten, an denen ich mich früher berauscht habe, immer mal wieder in leichten Dosen aufkommen.
Ich würde mir wünschen, dass es nicht so wäre und habe die Hoffnung, dass diese Leere irgendwann gänzlich durch ein Angekommensein, einem wirklichen Dabeisein ersetzt wird.
Aber ich kann es auch nicht erzwingen.
So sitze ich nun an diesen heißen Sommerabenden statt mit einem Tablett voller Weingeist, nun mit einem Tablet und dem Kopf voller Ideen da. Ich lasse mich trotzdem wie früher von einem weichen, warmen Wind umsäuseln, höre auf das Rauschen des Meeres und tippe meine Eindrücke in die Tastatur.
So verarbeite ich nun nüchtern meinen Tag und brauche keine Angst mehr vor dem Zapfenstreich der Hotelbar zu haben. Der eine oder andere kennt bestimmt noch das Gefühl, mit zu wenig Rausch und aus Mangel an Nachschub keine Möglichkeit zu finden, die rauschende Ballnacht privat fortzuführen, und unbefriedigt in fremden Betten einzuschlafen. Auch ein Gefühl von Fremdheit, Einsamkeit und Leere, nur auf einer ganz anderen Seite des Zauns. Es ist immer eine Frage der Perspektive.
…
Von “Die andere Wange hinhalten” oder so ähnlich
2024, irgendwo im Süden mit einem gedanklichen Exkurs in längst vergangene Zeiten
Mir ist heiß, ich bin müde und die grelle, bunte Stadt mit den vielen bunten Menschen hat mich total überreizt. Wir sind noch in so einem größeren Spittelladen gelandet, der sich Super-Market nennt. Eigentlich ist es eher so eine größere Markthalle, wo du von Gewürzen bis zum größten Urlaubskitsch alles kaufen kannst. Durch die Gerüche der Gewürze werde ich fast an einen Souk in Marrakesch erinnert.
Nordafrika, Marokko. Da war ich einmal in meinem Leben und will dort nie wieder hin. Das Bier hat damals im Hotel 10 deutsche Mark gekostet, so dass ich gezwungen war, mir wie so ein Penner irgendwelche ungenießbare Weinplörre in schwarzer Plastiktüte unter meine Poolliege zu schmuggeln. Anders hätte ich das dort sowieso nicht ausgehalten. Klar wir hätten auch Kif, Aitsch oder getrocknete Kamelkacke von so einem ziegengesichtigen, jungkriminellen Kleindealer kaufen können, der uns beim Flanieren außerhalb des Hotels immer hinterher geschlichen ist. Aber da sein Vater, der als hiesiger Polizeichef wahrscheinlich auch die regionale Drogenproduktion inklusive Absatz innehatte und vermutlich mit seinem Schwager und dessen Großcousin in der nächsten dunklen Seitengasse auf uns gewartet hätte, habe ich es lieber gelassen.
Um auf andere Gedanken zu kommen, hatten wir für damalige Zeiten einen vollkommen überteuerten Tagesausflug ins Atlas-Gebirge gemacht. Heutzutage bekommst du dafür nicht einmal mehr die Teppichmanufaktur oder das typische Dorf geboten.
Ich hatte mich von meiner Reisegruppe etwas gelöst, weil der Reiseleiter in seinem Kaftan eine absolute Schlaftablette war und nur sich selbst und seine orientalische Ruhe genossen hatte. Der Typ hatte echt die Ruhe weg und erwartete wohl, dass ihn seine Touristen unterhalten. Der bräuchte mal zwei Wochen das mitteleuropäische Klima auf meiner Arbeit inklusive meiner Chefin, der wäre dort keine zwei Tage, das ist schon mal Fakt. Ich sehe ihn schon mit weit aufgerissenen, vor Entsetzen geweiteten Augen, im wehendem Kaftan und seinen lächerlichen Fez festhaltend, die Tore unseres schönen Betriebsgeländes blitzartig verlassen. Der kommt nie wieder und ich irgendwann auch nicht!
Aber lassen wir nun den edlen Reiseleiter in seinen orientalischen Pantoffeln in Ruhe weiterschlafen und schwenken zu einem jungen Ziegenhirten in zerfransten Badeschlappen, der mir beinahe meine Ruhe und meine D-Mark geraubt hätte.
Ich stehe wie schon erwähnt etwas abseits in flirrender Hitze, rauche eine Zigarette wie Omar Sharif in “Lawrence von Arabien” und betrachte mir dabei sinnierend das karge Atlas-Gebirge. Mir fallen die steinzeitlichen Lehmhütten auf, in denen tatsächlich Leute wohnen und ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, dieses Leben zu leben. Mir wird bewusst, dass wir Menschen eigentlich nichts dazu tun können, auf welchem Fleckchen Erde und in welches Umfeld wir hineingebohren werden. Die Umstände, welche oft den weiteren Verlauf unseres Lebens dramatisch mitbestimmen.
Ganz versunken in meine tiefgehenden philosophischen Betrachtungen bekomme ich fast nicht mit, dass sich mir besagter dubioser Ziegenhirte nähert.
Er bittet mich um eine Zigarette. Arglos wie ich bin, gebe ich ihm eine und sogar noch Feuer. Ich nicke ihm zu und wundere mich, warum er einfach ohne sich zu bedanken verschwindet. Da aber die Gebräuche hier wohl etwas anders sind, hoffe ich, dass ich nichts falsch gemacht habe und mir jetzt nicht die Mutter des Ziegenhirten, die wahrscheinlich auch die Schwester des Polizeichefs ist, in selbstgerechter Empörung irgendeine überteuerte Holzschnitzerei über mein Basecap ziehen könnte.
Das passiert natürlich nicht, dafür kommt der Hirte mit einer kleinen Ziege angedackelt und macht mir klar, dass ich als Dank für die Kippe ein Foto mit seiner Ziege machen darf. Ich habe da echt keinen Bock drauf, aber der Kleintierfarmer, der auch ein guter Versicherungsverkäufer oder Vermögensberater wäre, lässt sich durch nichts von seiner guten Tat abbringen.
Ich will es wirklich nicht! Aber da die Situation langsam nervig wird und ich ihn samt seiner Ziege nur noch loswerden will, bitte ich meine damalige Freundin sich zur Ziege zu stellen. Ich finde, dass das ein gutes Motiv ist, nämlich zwei Ziegen im Vordergrund einer malerischen, schroffen Berglandschaft. Ich schieße lustlos ein, zwei Fotos. Erleichtert darüber, dass sich die zwei Ziegen so gut vertragen haben und sich der Hirte samt seiner Ziege wieder in sein Bergdorf verkrümelt, will ich mich mit meiner Ziege wieder zu der anderen Hammelherde, auch genannt Reisegruppe, stellen. Als wir die Gruppe fast erreicht haben, kommen uns Ziegenhirt, samt seiner Schwester, vielleicht ist es auch, Großcousine oder nur eine Komparsin, laut schimpfend und gestikulierend hinterher gelaufen. Sie wollen mir klar machen, dass ich ihr Nutztier fotografiert und damit wohl geschändet habe. Um diese Schmach zu sühnen, fordern sie nun eine Entschädigung im Wert von mindestens 2 Bierkästen Marke “Sternburg Export" im Sonderangebot von mir.
Angesichts dieser vollkommen nachvollziehbaren und logischen Forderung überkommt mich ein Schrecken. Es beschleicht mich die Sorge, dass meine Begleit-Ziege, die ebenfalls fotografiert wurde, nun den Gedanken hegt, von mir geschändet worden zu sein. Es liegt nahe, dass sie gleichermaßen auf eine monetäre Wiederherstellung ihrer Ehre besteht, um sich Schminkzeug oder anderen Klimbim zu kaufen. Vermutlich käme ich bei der marokkanischen Ziege deutlich besser weg. Aber meine deutsche Ziegenlady hat sich schon wieder unter die anderen Touris gemischt und macht wahrscheinlich dem Reiseleiter schöne Augen. Nur dass er das unter seiner nachgemachten Ray-Ban nicht bemerken wird, weil er bestimmt, wie schon die ganze Tour über, gemütlich einen abratzt. Und ich stehe wieder mal der Arbeitsgemeinschaft der betrügerischen Weiden-Warlords allein gegenüber.
Die Sache spitzt sich zu, die beiden Hirtendarsteller werden immer lauter und übergriffiger. Der Hirte will mich nun wahrscheinlich in seine Herde integrieren, weil ich das Schutzgeld nicht zahlen wollte und beginnt mich am Oberarm festzuhalten. Das ist schlimm, ich möchte nicht in diesem steinzeitlichen Gebirgsdorf mein weiteres Dasein fristen. Wahrscheinlich wäre ich noch weniger Wert als eine Ziege, da ich keine Milch gebe. Meine eigentliche Sorge besteht aber eher darin, dass die Hirtin gleich ihren Berbergesang mit diesen hohen Kehllauten anstimmt und die beiden noch ein Folkloretänzchen darbieten. Bitte nicht!
Da ich damals noch keine x Entzüge hinter mir habe, noch nicht von Menschen verarscht wurde, die mir sehr viel bedeutet haben und ich noch nicht 25 Jahre durch ein Kasperle-Theater, namens [meine Firma] konditioniert und klein gehalten wurde, fällt es mir relativ leicht, für mich einzustehen, meine Bedürfnisse zu formulieren und meine Grenzen zu setzen.
Und mein jetziges Bedürfnis ist, dass sich die beiden Ziegenfressen samt ihrer Ziege verpissen sollen. Und meine Grenze ist, dass die männliche Ziegenvisage seine dreckige Ziegenpfote von meinem Oberarm zu nehmen hat, an dem er mich die gesamte Zeit festhält und irgendwelchen unverständlichen Kauderwelsch daher brabbelt.
In mir lodert diese gerechte Empörung, ein wütender Ur-Gerechtigkeitssinn, was der Vogel sich einbildet, mich hier so abzocken zu wollen. Ich schubse, unterstützt durch eine Adrenalinausschüttung, die mir übermenschliche Kraft zu verleihen scheint, das Männeken, was er zum Glück ist, zwei bis drei Meter von mir weg. Der Schwung ist so stark, dass bei seinen abgefransten Badelatschen der Staub aufwedelt. Ich fauche ihn in meiner Rage zornig an, was er sich einbildet und er es NIE WIEDER wagen soll, mich anzufassen! Der trickbetrügende Ziegenhirte funkelt darauf wütend zurück und würde am liebsten sein Zicklein auf mich hetzen, das unberührt am steinigen Wegesrand vermutlich schon seit Tagen vergeblich nach etwas vernünftigem zu Fressen sucht.
Aber er scheint auch gemerkt zu haben, dass hier kein Geschäft mehr zu machen ist und zieht sich drohend, aber geschlagen in seine Berghöhle zurück. Heute wird es eben ausnahmsweise kein leicht verdientes Trinkgeld geben, und er wird sich mit Ziegenmilch als Abendtrunk begnügen müssen.
Die ziegenhütetende Betrügerin will wahrscheinlich noch von ihrem Frauenbonus profitieren und schimpft in gebührendem Abstand weiter auf mich ein. Ich lasse die Meckerziege einfach weiter meckern und geselle mich wieder zu meiner Reisegruppe. Der in sich ruhende und selbstzufriedene Reiseleiter hat natürlich nichts mitbekommen, weil er immer noch sich selbst und seine orientalische Ruhe genießt. Vielleicht ist er auch an einer Überdosis Schlafmohn für immer eingeschlafen, aber da ich seine Person einige Zeit später wieder mit seiner Ray-Ban aufrecht im Reisebus schlafen sehe, muss er zumindest zu seinem Platz schlafgewandelt sein.
Ja, liebe Leser, das war wohl um 1996, in einer Zeit, in der ich noch sehr unbedarft und frei war.
Ich stand noch am Anfang meiner Suchtkarriere und hatte noch nicht in meiner jetzigen Firma angefangen, die mir bis dato jahrzehntelang jeden Funken Selbstvertrauen nahm und meine Eier auf Erbsengröße schrumpfen ließ.
Ich bin noch nicht von Menschen verarscht worden, die mir einmal viel bedeuteten und bei denen ich glaubte, einen Halt gefunden zu haben.
Es war die Verbindung meines Alkoholmissbrauchs mit den damit einhergehenden, erdrückenden Scham- und Schuldgefühlen sowie der daraus folgenden Selbstabwertung. Eine Selbstablehnung, die durch meine dysfunktionale Kindheit und später durch ein verzweifeltes Festhaltenwollen einer längst verflossenen Beziehung befeuert wurde. Dies verlangte in der Folge nach noch mehr Sedierung, wodurch ein unendlich schwer zu durchbrechender Kreis der Sucht und die stärksten Selbstzweifel entstanden, die ich je erlebt habe.
Ich war zu einem Menschen geworden, der es verlernt hatte, für sich selbst einzutreten. Ein Mensch, der keine eigenen Bedürfnisse mehr formulieren und nie echte Grenzen setzen konnte.
Ich wollte nach dem verzweifelten Ende der damaligen Beziehung jedem gefallen, habe mich angepasst, eine Rolle gespielt und meine Sucht versteckt. Den unvermeidlich aufkommenden Frust, die Ohnmacht und die Depressionen habe ich wortwörtlich jahrzehntelang hinuntergespült und sediert. Das war mein toxischer Trost, mein zweischneidiges Schwert, mein Januskopf. Mein Himmel und meine Hölle.
Dazu kamen wie schon erwähnt die kranken Strukturen in meiner Firma, für welche eine solche Schwäche ein gefundenes Fressen war. Ich habe mich in diesen Jahren meilenweit von mir selbst entfernt. Ich habe mich durch die Sucht, der damit einhergehenden Rückschläge, einem toxisches Arbeitsumfeld und manipulativen ‘Freunden’ immer mehr zu einem innerlich total unsicheren, sich selbst abwertenden Menschen entwickelt. Einem Menschen, der unter Scham- und Schuldgefühlen litt und dessen größte Sorge es war, wie über ihn gedacht werden könnte. Der deswegen stets bedacht darauf war, nicht das Geringste falsch zu machen oder negativ aufzufallen.
Wäre mir vor nicht allzulanger Zeit dieselbe Situation mit dem Ziegenhirt passiert, hätte ich ihm wahrscheinlich freundlich und zuvorkommend mein Portemonnaie samt meiner Kreditkarte ausgehändigt und ihm mit dem Google-Übersetzer lächelnd meine Sparkassen-App erklärt. Im Anschluss hätte ich ihm wahrscheinlich noch mit gesenktem, höflichen Blick mein Smartphone unentsperrt übergeben.
Des Weiteren hätte sich eine konditionierte Angst bemerkbar gemacht, dass er auf meiner Arbeit anrufen könnte, um sich über mich und mein Verhalten zu beschweren.
Um dem zuvorzukommen, wäre ich ganz besonders nett und freundlich gewesen und hätte ihm bestimmt noch einen schönen Tag in seiner Lehmhöhle gewünscht. Natürlich nicht ohne ihn vorher respektvoll zu fragen, ob ich denn nicht nochmal ganz kurz seine tolle Ziege streicheln darf. Das wäre zwar in keinem Fall mein eigentliches Bedürfnis gewesen, aber ich hätte es getan, um nicht unangenehm aufzufallen und er mich doch in guter Erinnerung behalten möge.
So wäre ich heutzutage für mich eingetreten, so hätte ich noch bis vor kurzem meine Bedürfnisse formuliert und meine Grenzen gesetzt.
Aber ich habe noch diese lebendige Kraft von damals in mir, bevor mich die Droge und die damit einhergehenden Lebensumstände platt gemacht haben. Diese Stärke, die ich so lange unterdrückt habe und die da war, bevor ich begonnen habe, meine Emotionen und Bedürfnisse, im Grunde mich und mein ganzes Leben zu unterdrücken.
Und ich arbeite an mir und hole mir mein Leben zurück, was ich mir selbst und durch die Droge so lange vorenthalten habe.
Möge die Macht mit mir sein!
Ja, lieber Leser, so sieht's nach 30 Jahren Alkoholmissbrauch und dysfunktionaler Kindheit aus, lassen Sie sich das und Ihren Kindern ein warnendes Beispiel sein. Seien Sie gewarnt, wenn Sie in geselliger Runde bierselig singen: “Einer geht noch, einer geht noch rein!”
Oder wenn Ihnen vielleicht bei einem edlen Gläschen Wein bei Sonnenuntergang auf Ihrer Veranda diese Geschichte in die Hände fallen sollte. Urteilen Sie nicht vorschnell, wenn Sie verständnislos fragen, wie man sich so unkontrolliert gehen lassen kann.
Denken Sie immer daran, es könnte jeden erwischen...auch Sie!!
Schönen guten Abend.
In eigener Sache:
Für mich stellt sich von Zeit zu Zeit die Frage, wie geht's weiter, wo will ich eigentlich hin? Auch habe ich begonnen, Dinge von früher, aber auch aus jüngerer Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen.
Ich möchte das jetzt nicht den letzten Diskussionen zugrunde legen, aber bei mir stellt sich nach solchen Debatten die Frage: Wie gehe ich mit meiner Zeit um, was nimmt mir nur die Energie und was tut mir wirklich gut?
Auch habe ich nun “leider” recht feine Antennen, die mir einerseits gut gestatten, besser meine Umwelt und auch mich wahrzunehmen, aber die sich andererseits vielleicht auch manchmal etwas “übersensibel” äußern, was gewisse Dinge oder Atmosphären betrifft.
Ich kann die Welt oder den anderen nicht ändern, wie ich mich auch nicht mehr verbiegen will. Nur habe ich auf Grundlage meiner Sucht gelernt, dass es manchmal besser ist, Dinge loszulassen, als endlos zu debattieren, dagegen anzukämpfen oder bei einem Spiel mitzumachen, welches nicht mehr meins ist. Derzeit ist auch meine Arbeitsstelle so ein Feld, wo es genau um diese Punkte geht.
Sei es wie es sei.
Aus o.g. Gründen fühlt es sich derzeit für mich richtig an, mich hier herauszunehmen.
Ich danke euch für das Lesen und den Austausch, der mir sehr weitergeholfen hat und sage “Macht’s gut”. Schauen wir mal, was das Leben oder die Zeit so bringt