Beiträge von rent

    ARRIVAL oder
    “Die Letzten werden die Ersten sein”


    Mir schlägt diese heiße Luft entgegen, die wie eine Wand wirkt. Es ist Mittag und die grelle Sonne brennt in meinen müden Augen, so dass alles beinahe überbelichtet, fast weiß erscheint.

    Ich gehe die Gangway hinab, betrete das Rollfeld, das vor Hitze flimmert und trotte den anderen Schafen hinterher, einer wird schon wissen, wo es lang geht.
    Beim Betreten des Terminals bin ich beinahe erleichtert, wieder diese künstliche, klimatisierte Luft zu atmen. Das eher kleine Abfertigungsgebäude wirkt unscheinbar und ist kein Vergleich zu dem riesigen verworrenen Hochglanzflughafen zuhause, der um ein Haar wie der Turmbau zu Babel geendet hätte. Nur dass beim Turmbau zu Babel der liebe Gott die Sprachen der einfachen Bauarbeiter verwirrte und bei besagten Flughafen nur für Verwirrung unter den Planern sorgte.

    Egal, ich bin im Moment auch etwas verwirrt, ob ich am richtigen Gepäckband stehe, weil mein Koffer nicht dabei ist. Aber da meine Begleitung die Koffer vom selbigen schon vor Ewigkeiten erhalten hat, sind die Dinger vermutlich im richtigen Flieger gelandet. So kann es nur eine Frage der Zeit und der Hoffnung sein. In diesem Land braucht es, wie auch sonst in meinem Universum, eben Geduld. Mein Langmut und mein Glaube zahlen sich wie üblich aus und mein Koffer kommt als einer der letzten. Er scheint intakt, was darauf hindeutet, dass noch alle Sachen drin sind.

    Erleichtert, meine Last auf Rollen wieder zu haben, macht sich eine andere Last bemerkbar, die ebenfalls nach Erleichterung verlangt und so begebe ich mich auf die Suche nach einem “Restroom”.
    Als ich mich kurz darauf im Spiegel des Waschraums betrachte, fällt mir mein müdes, verspanntes Gesicht auf. Es gab wirklich schon Tage, an denen ich etwas ungestresster ausgesehen habe. Aber es ist wieder mein Gesicht, und ich will mich nicht beklagen. Es gab früher Zeiten, in denen ich es nicht wahrhaben wollte und vermieden habe, mich im Spiegel anzusehen.
    Ich habe dieses aufgedunsene, teigige Gesicht mit den geröteten, wässrigen Augen gehasst und mich unendlich dafür geschämt. Es fühlte sich an, als würde sich mein verzweifeltes Inneres einen Weg nach außen bahnen und verräterisch alle meine Sünden, Haltlosigkeiten, den ganzen ohnmächtigen Wahnsinn preisgeben wollen. Auch war diese seltsame Schwäche in den chronisch drückenden, müden Augen. Diese Schwachheit, durch die es in solchen Momenten schwer fiel, anderen Leuten offen in die Augen zu schauen und den Blick zu halten. Es war eine verzweifelte Scham in mir wegen dem, was andere in meinem Gesicht und in mir sehen mussten. Da ich meine innere Verzweiflung nicht von meinem Gegenüber in Form von ablehnender Bewertung widergespiegelt haben wollte, vermied ich oft den direkten Augenkontakt.

    Wiederum kenne ich auch das gelöste, feinsinnige Gesicht mit den entspannten, glänzenden Augen, in denen die Kraft der Droge steckte. Das wache Gesicht und die Augen, die Lächeln, Flirten und das Gegenüber wie vor einer Leinwand als ein lebendiges Gemälde wahrnehmen konnten. Die Augen, die ohne Schmerz und vollkommen entspannt die Umwelt wahrnahmen.
    In denen auf Basis von C₂H₅OH und später C₁₇H₁₉NO₃ und dessen Derivaten eine zuvor nie gekannte Kraft, eine abgeklärte Gelassenheit und ein verborgenes Wissen steckte und dieses geheimnisvoll nach außen strahlte. Nur eben leider nur auf der Basis dieser externen Chemie. Es war nicht mein eigenes, sondern ein geborgtes Glück.
    Aber wie es bei geborgten Sachen so ist, gibt es leider oft Sorgen damit. So wurde dieser Quell der geliehenen Glückseligkeit immer launischer und giftiger und versiegte letztendlich ganz. Am Boden dieses inneren Sees kamen nun wieder der Schmerz, die Verzweiflung, die Schuld und die Scham zum Vorschein, die alten guten Bekannten von früher und verlangten nach immer größerer Sedierung.
    Ich habe durch die Droge fast die Sonne berührt und erlebt, wie wunderbar sich Leben anfühlen kann. Ich habe mich in einer vorher nie gekannten Selbstliebe angenommen und diese gelassene Zufriedenheit, die auf der Droge basierte, aus meinem Inneren ausgestrahlt.

    Ich lasse die Erinnerungen an mir vorüber fließen, betrachte dabei den Strahl des Wassers, der im Abfluss versiegt und trockne meine Hände ab. Ich rücke mein Basecap zurecht, welches das Label einer Surfer-Marke trägt, obwohl ich noch nie in meinem Leben gesurft bin. Als ich prüfend an mir herunterschaue, um später tadelnde Blicke meiner Partnerin zu vermeiden, bleibt mein Blick an meinen Vans hängen, der Marke die ich schon seit Jahrzehnten an meinen Füßen mit mir herumtrage. Ich war nie ein besonders begabter Skateboarder, aber ich mag bis heute den Lifestyle, der durch diese Marke suggeriert wird. Diese coole Freiheit, verbunden mit einem Anderssein, die vermutlich nur findiges Marketing ist.
    In meinem Alter sollte ich mir sowieso langsam mal ein paar standesgemäße Lederslipper zulegen, aber ich mag mich manchmal einfach nicht von alten, gewohnten Dingen trennen. Vermutlich wird auf meiner Beerdigung der Kondolenzexperte meinem Schuhwerk eine besondere Aufmerksamkeit widmen: “Rent liebte seine Skater-Latschen und trug sie selbst noch im Altenheim beim Schieben seines Rollators, den er mit bunten Stickern verzierte…”

    Da ich jetzt noch keinen Rollator stoisch in Richtung allerletztes Exit schieben werde, sondern mein Koffer beinahe von alleine auf Samsonite-Rollen in Richtung Ausgang und Urlaub gleitet, versuche ich nach vorne zu schauen. Aber natürlich nicht zu weit in die Zukunft mit dem Rollator, sondern nur das, was ich gerade vor Augen habe.
    So rollen wir unsere Koffer zum Ausgang und wundern uns, wieso wir auf einmal in Freiheit stehen. Haben wir den Zollschalter inklusive dem grimmig dreinblickenden, schnurrbärtigen Borat, der sich als Beamter verkleidet hat, verpasst? Früher wechselte sein argwöhnischer Blick immer zwischen mir und meinem Pass, nur um mich dann nach endlosen Minuten wortlos durchzuwinken. Werden wir nun gleich von einem einheimischen SWAT-Kommando auf den Boden geworfen, in Gewahrsam genommen und nach Drogen durchsucht? Aber es passiert nichts.
    So fährt erleichternd die große gläserne Ausgangstür auf und ich nehme wieder diese heiße Luft wahr, die sich jetzt nicht mehr unangenehm anfühlt. Dieser warme Föhn schmiegt sich nun wie eine wohlige Decke an meinen Körper und gehört hier dazu, wie glitzernder Schnee und klirrende Kälte zum Wintersport.
    Auch werde ich durch diese tropische Hitze an längst vergangene Zeiten erinnert.

    Ich kann mich noch an meinen ersten Flug entsinnen. Das war die Zeit, als im Flugzeug noch geraucht werden durfte und Gratisgetränke, in meinem Fall Bier und Wein, in diesen transparenten Plastikgläsern serviert wurden. Ich habe noch dieses Schauspiel aus Natur und Technik vor Augen, als das Flugzeug durch die dicke Wolkendecke stieß und das weiße Himmelsgebilde von oben wie Zuckerwatte von einer strahlenden, goldgelben Sonne erleuchtet wurde. Ich weiß noch, wie wunderbar angeflutet ich damals die Treppen des Flughafengebäudes hinunter gegangen bin und wirklich alles in Ordnung schien. Naja nicht ganz, ich hatte mit meiner damaligen Freundin etwas Stress, weil ich es mit meiner Anflutung aus ihrer Sicht wieder etwas übertrieben hatte und wir noch durch die Passkontrolle und den Zoll mussten.
    Aber vielleicht kennt jemand die Momente, in denen die Dinge und Erlebnisse, die dich niedergedrückt und deprimiert haben, hinter dir liegen und sich alles gut anfühlt? Es ist dieses unschuldige Gefühl, das an Momente in der Kindheit erinnert, bevor das Leben mit seiner manchmal unaushaltbaren Last kam. Man denkt, man hat allen Scheiß hinter sich und glaubt, es wird auf ewig so bleiben, aber natürlich bleibt es meistens auf Dauer nicht so, wie es ist.
    Wenn ich ehrlich bin, habe ich aus heutiger Sicht und meinen Erlebnissen das Leben nie wieder so unbefangen wie damals wahrgenommen. Dafür ist in meinem Leben zu viel passiert und ich habe zu oft in den Abgrund geschaut. Auch gab es vor vielen Jahren infolge persönlicher Probleme beider Partner eine Trennung, unter der ich sehr lange gelitten habe und mir aufgrund meines Konsums die Alleinschuld gab.
    Aber es ist vor allem die Sucht an sich, die jetzt mit mir aus dem Flugzeug ausgestiegen ist. Sie zwängt und drängt mich nicht mehr wie früher, sie lässt mich größtenteils zufrieden, aber ich weiß auch, dass mein jetziger Zustand wieder mit dem ersten Glas vorbei sein könnte.
    Es ist in den Jahren etwas passiert, was mich nicht mehr alles so unbedarft wie früher betrachten lässt. Klar, man wird auch älter und ich habe jetzt als Ehemann, Familienvater und Versorger eine Verantwortung, die damals überhaupt nicht relevant war.
    Aber die Erinnerung an die Sucht fährt mit, zwar harmlos, aber in Präsenz.

    Ich habe schon ewig nicht mehr mit Craving zu kämpfen gehabt und das hier ist kein Craving, das ist Pille-Palle, das ist eher eine romantisierte Verklärung. Aber ich kenne mich, wenn ich diesem Gedanken Raum gebe, könnte er bald einen Brückenkopf installiert haben und dann wird es anstrengend.
    Heute ist es auch nicht dieser zerrende Suchtdruck, der sich früher sogar im Bereich des Solarplexus bemerkbar gemacht hat. Es ist eine Mischung aus Jetlag, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Unwohlfühlen, ein Nichtankommen in fremder Umgebung und Reizüberflutung. Auch spielt die Unzufriedenheit mit, die von einer verklärten Erinnerung genährt wird, sich nie wieder wie früher in gewohnter tropischer Urlaubsumgebung wegballern zu können. Sich nie wieder mit einer wohlschmeckenden, aber giftigen Chemie in den eigenen, ganz privaten südlichen oder universellen Sternenhimmel beamen zu können. Es ist ein Hadern mit mir und meinem Leben. “Warum ich?!”
    Klar, frag mal den, der unheilbar krank ist, der schmunzelt eventuell über dein Problem und wöllte vielleicht mit dir tauschen.

    Selbstmitleid hat noch nie geholfen. Ich bin meinen Weg schon so weit gegangen und habe ehrlich gesagt einen riesigen Respekt vor dem Umkehren. Ich weiß, dass durch einen Rausch, und mag er noch so klein sein, alles wieder weggespült werden würde. So gehe ich einfach weiter und werde mit jedem Schritt fester. Ich blicke nicht auf verklärte Momente zurück und schaue mich nicht um. Der Krieg und die ausgebombten Ruinen liegen hinter mir und ich schaue auf das Zarte, das jetzt neu und zerbrechlich aus den alten Trümmern hervorsprießt. Es ist wie eine Wiese, die neu eingesät wurde und anfänglich nur vorsichtig betreten werden sollte, um nicht gleich alles wieder zu zertrampeln.


    Golden Sundown and Clear Water

    Die Sonne senkt sich langsam über den Horizont und taucht den Himmel in strahlendes Gold und warme Orangetöne. Das Wasser glitzert wie tausend kleine Diamanten und die Wellen rollen sanft ans Ufer. Mir weht eine warme Brise entgegen und ich höre das ruhige Rauschen des Meeres. Alles ist in ein friedliches, goldenes Licht getaucht und ich verinnerliche diese Welt, die ein Ausdruck meines inneren Mikrokosmos, meines inneren Friedens ist, der nichts außer meines eigenen Seins benötigt.
    Mmh, das war vielleicht jetzt ein kleines bisschen übertrieben…

    Ich sitze zum Abend mit meinem Wasser im Hotel, wodurch der Abend etwas fad und geschmacklos wie das Wasser selbst wirkt. Ich werde auch beim späteren Bummel über die Promenade bei Wasser bleiben. Auch dränge ich nicht wie früher zum Halt in Tavernen und kleinen Lädchen, die mit einladenden, gut gekühlten Alkoholika mit exotischen Namen hinter kondensierten Scheiben eine mir sehr bekannte Erfrischung verheißen. Mir reicht es, die temporäre innere Zufriedenheit und Anflutung der anderen Urlauber von außen betrachten zu können. Ich fühle mich dabei wie ein Beobachter. In Ansätzen vielleicht auch wie ein Kind, das von draußen der glücklichen Familie unter dem geschmückten Weihnachtsbaum beim Geschenkeauspacken zusieht.

    Es ist halt so, wie es ist, es ist nicht mehr meine abendliche, alkoholisierte Urlaubswelt. In mir kommt trotzdem eine minimale Melancholie auf, dass es nicht mehr so ist, wie früher und auch nie wieder so sein wird. Auch klopft dieses bekannte Gefühl an, nicht dazuzugehören, beinahe noch nie wirklich in diese Welt integriert gewesen zu sein. In Summe fühlt sich das etwas fremd an, es ist diese Fremdheit und Leere, die ich mit der Droge so wunderbar kompensieren konnte.

    Da ich die momentane Gefühlslage, die vielleicht in dem Sinne wirklich auf einer Art Anderssein beruht, nicht ändern kann, nehme ich alles an und sage ja. Ich sage ja zu mir, meinem Leben und meinen Gefühlen, wie sie im Moment sind. Es macht keinen Sinn zu hadern, ich bin nunmal süchtig und vielleicht auch etwas anders, aber es ist so wie es ist und ich werde mich nicht mehr verbiegen.
    Ich weiß auch, dass morgen früh wieder alles in Ordnung sein wird, ich erleichtert aufstehen und zufrieden mit mir sein werde, dass ich seit langer Zeit ohne Droge bin und das tendenziell auch so bleiben wird.
    Aber heute Abend ist noch nicht morgen früh.

    Erfahrungsgemäß lässt diese abendliche Leere und Fremdheit meistens nach ein paar Tagen nach. Es hat bei mir auch viel mit einem Ankommen in fremder, ungewohnter Umgebung zu tun. Trotzdem wird dieses Gefühl meistens abends, zu den Zeiten, an denen ich mich früher berauscht habe, immer mal wieder in leichten Dosen aufkommen.
    Ich würde mir wünschen, dass es nicht so wäre und habe die Hoffnung, dass diese Leere irgendwann gänzlich durch ein Angekommensein, einem wirklichen Dabeisein ersetzt wird.
    Aber ich kann es auch nicht erzwingen.
    So sitze ich nun an diesen heißen Sommerabenden statt mit einem Tablett voller Weingeist, nun mit einem Tablet und dem Kopf voller Ideen da. Ich lasse mich trotzdem wie früher von einem weichen, warmen Wind umsäuseln, höre auf das Rauschen des Meeres und tippe meine Eindrücke in die Tastatur.
    So verarbeite ich nun nüchtern meinen Tag und brauche keine Angst mehr vor dem Zapfenstreich der Hotelbar zu haben. Der eine oder andere kennt bestimmt noch das Gefühl, mit zu wenig Rausch und aus Mangel an Nachschub keine Möglichkeit zu finden, die rauschende Ballnacht privat fortzuführen, und unbefriedigt in fremden Betten einzuschlafen. Auch ein Gefühl von Fremdheit, Einsamkeit und Leere, nur auf einer ganz anderen Seite des Zauns. Es ist immer eine Frage der Perspektive.



    Von “Die andere Wange hinhalten” oder so ähnlich

    2024, irgendwo im Süden mit einem gedanklichen Exkurs in längst vergangene Zeiten

    Mir ist heiß, ich bin müde und die grelle, bunte Stadt mit den vielen bunten Menschen hat mich total überreizt. Wir sind noch in so einem größeren Spittelladen gelandet, der sich Super-Market nennt. Eigentlich ist es eher so eine größere Markthalle, wo du von Gewürzen bis zum größten Urlaubskitsch alles kaufen kannst. Durch die Gerüche der Gewürze werde ich fast an einen Souk in Marrakesch erinnert.

    Nordafrika, Marokko. Da war ich einmal in meinem Leben und will dort nie wieder hin. Das Bier hat damals im Hotel 10 deutsche Mark gekostet, so dass ich gezwungen war, mir wie so ein Penner irgendwelche ungenießbare Weinplörre in schwarzer Plastiktüte unter meine Poolliege zu schmuggeln. Anders hätte ich das dort sowieso nicht ausgehalten. Klar wir hätten auch Kif, Aitsch oder getrocknete Kamelkacke von so einem ziegengesichtigen, jungkriminellen Kleindealer kaufen können, der uns beim Flanieren außerhalb des Hotels immer hinterher geschlichen ist. Aber da sein Vater, der als hiesiger Polizeichef wahrscheinlich auch die regionale Drogenproduktion inklusive Absatz innehatte und vermutlich mit seinem Schwager und dessen Großcousin in der nächsten dunklen Seitengasse auf uns gewartet hätte, habe ich es lieber gelassen.

    Um auf andere Gedanken zu kommen, hatten wir für damalige Zeiten einen vollkommen überteuerten Tagesausflug ins Atlas-Gebirge gemacht. Heutzutage bekommst du dafür nicht einmal mehr die Teppichmanufaktur oder das typische Dorf geboten.
    Ich hatte mich von meiner Reisegruppe etwas gelöst, weil der Reiseleiter in seinem Kaftan eine absolute Schlaftablette war und nur sich selbst und seine orientalische Ruhe genossen hatte. Der Typ hatte echt die Ruhe weg und erwartete wohl, dass ihn seine Touristen unterhalten. Der bräuchte mal zwei Wochen das mitteleuropäische Klima auf meiner Arbeit inklusive meiner Chefin, der wäre dort keine zwei Tage, das ist schon mal Fakt. Ich sehe ihn schon mit weit aufgerissenen, vor Entsetzen geweiteten Augen, im wehendem Kaftan und seinen lächerlichen Fez festhaltend, die Tore unseres schönen Betriebsgeländes blitzartig verlassen. Der kommt nie wieder und ich irgendwann auch nicht!

    Aber lassen wir nun den edlen Reiseleiter in seinen orientalischen Pantoffeln in Ruhe weiterschlafen und schwenken zu einem jungen Ziegenhirten in zerfransten Badeschlappen, der mir beinahe meine Ruhe und meine D-Mark geraubt hätte.
    Ich stehe wie schon erwähnt etwas abseits in flirrender Hitze, rauche eine Zigarette wie Omar Sharif in “Lawrence von Arabien” und betrachte mir dabei sinnierend das karge Atlas-Gebirge. Mir fallen die steinzeitlichen Lehmhütten auf, in denen tatsächlich Leute wohnen und ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, dieses Leben zu leben. Mir wird bewusst, dass wir Menschen eigentlich nichts dazu tun können, auf welchem Fleckchen Erde und in welches Umfeld wir hineingebohren werden. Die Umstände, welche oft den weiteren Verlauf unseres Lebens dramatisch mitbestimmen.

    Ganz versunken in meine tiefgehenden philosophischen Betrachtungen bekomme ich fast nicht mit, dass sich mir besagter dubioser Ziegenhirte nähert.
    Er bittet mich um eine Zigarette. Arglos wie ich bin, gebe ich ihm eine und sogar noch Feuer. Ich nicke ihm zu und wundere mich, warum er einfach ohne sich zu bedanken verschwindet. Da aber die Gebräuche hier wohl etwas anders sind, hoffe ich, dass ich nichts falsch gemacht habe und mir jetzt nicht die Mutter des Ziegenhirten, die wahrscheinlich auch die Schwester des Polizeichefs ist, in selbstgerechter Empörung irgendeine überteuerte Holzschnitzerei über mein Basecap ziehen könnte.
    Das passiert natürlich nicht, dafür kommt der Hirte mit einer kleinen Ziege angedackelt und macht mir klar, dass ich als Dank für die Kippe ein Foto mit seiner Ziege machen darf. Ich habe da echt keinen Bock drauf, aber der Kleintierfarmer, der auch ein guter Versicherungsverkäufer oder Vermögensberater wäre, lässt sich durch nichts von seiner guten Tat abbringen.
    Ich will es wirklich nicht! Aber da die Situation langsam nervig wird und ich ihn samt seiner Ziege nur noch loswerden will, bitte ich meine damalige Freundin sich zur Ziege zu stellen. Ich finde, dass das ein gutes Motiv ist, nämlich zwei Ziegen im Vordergrund einer malerischen, schroffen Berglandschaft. Ich schieße lustlos ein, zwei Fotos. Erleichtert darüber, dass sich die zwei Ziegen so gut vertragen haben und sich der Hirte samt seiner Ziege wieder in sein Bergdorf verkrümelt, will ich mich mit meiner Ziege wieder zu der anderen Hammelherde, auch genannt Reisegruppe, stellen. Als wir die Gruppe fast erreicht haben, kommen uns Ziegenhirt, samt seiner Schwester, vielleicht ist es auch, Großcousine oder nur eine Komparsin, laut schimpfend und gestikulierend hinterher gelaufen. Sie wollen mir klar machen, dass ich ihr Nutztier fotografiert und damit wohl geschändet habe. Um diese Schmach zu sühnen, fordern sie nun eine Entschädigung im Wert von mindestens 2 Bierkästen Marke “Sternburg Export" im Sonderangebot von mir.
    Angesichts dieser vollkommen nachvollziehbaren und logischen Forderung überkommt mich ein Schrecken. Es beschleicht mich die Sorge, dass meine Begleit-Ziege, die ebenfalls fotografiert wurde, nun den Gedanken hegt, von mir geschändet worden zu sein. Es liegt nahe, dass sie gleichermaßen auf eine monetäre Wiederherstellung ihrer Ehre besteht, um sich Schminkzeug oder anderen Klimbim zu kaufen. Vermutlich käme ich bei der marokkanischen Ziege deutlich besser weg. Aber meine deutsche Ziegenlady hat sich schon wieder unter die anderen Touris gemischt und macht wahrscheinlich dem Reiseleiter schöne Augen. Nur dass er das unter seiner nachgemachten Ray-Ban nicht bemerken wird, weil er bestimmt, wie schon die ganze Tour über, gemütlich einen abratzt. Und ich stehe wieder mal der Arbeitsgemeinschaft der betrügerischen Weiden-Warlords allein gegenüber.
    Die Sache spitzt sich zu, die beiden Hirtendarsteller werden immer lauter und übergriffiger. Der Hirte will mich nun wahrscheinlich in seine Herde integrieren, weil ich das Schutzgeld nicht zahlen wollte und beginnt mich am Oberarm festzuhalten. Das ist schlimm, ich möchte nicht in diesem steinzeitlichen Gebirgsdorf mein weiteres Dasein fristen. Wahrscheinlich wäre ich noch weniger Wert als eine Ziege, da ich keine Milch gebe. Meine eigentliche Sorge besteht aber eher darin, dass die Hirtin gleich ihren Berbergesang mit diesen hohen Kehllauten anstimmt und die beiden noch ein Folkloretänzchen darbieten. Bitte nicht!

    Da ich damals noch keine x Entzüge hinter mir habe, noch nicht von Menschen verarscht wurde, die mir sehr viel bedeutet haben und ich noch nicht 25 Jahre durch ein Kasperle-Theater, namens [meine Firma] konditioniert und klein gehalten wurde, fällt es mir relativ leicht, für mich einzustehen, meine Bedürfnisse zu formulieren und meine Grenzen zu setzen.
    Und mein jetziges Bedürfnis ist, dass sich die beiden Ziegenfressen samt ihrer Ziege verpissen sollen. Und meine Grenze ist, dass die männliche Ziegenvisage seine dreckige Ziegenpfote von meinem Oberarm zu nehmen hat, an dem er mich die gesamte Zeit festhält und irgendwelchen unverständlichen Kauderwelsch daher brabbelt.
    In mir lodert diese gerechte Empörung, ein wütender Ur-Gerechtigkeitssinn, was der Vogel sich einbildet, mich hier so abzocken zu wollen. Ich schubse, unterstützt durch eine Adrenalinausschüttung, die mir übermenschliche Kraft zu verleihen scheint, das Männeken, was er zum Glück ist, zwei bis drei Meter von mir weg. Der Schwung ist so stark, dass bei seinen abgefransten Badelatschen der Staub aufwedelt. Ich fauche ihn in meiner Rage zornig an, was er sich einbildet und er es NIE WIEDER wagen soll, mich anzufassen! Der trickbetrügende Ziegenhirte funkelt darauf wütend zurück und würde am liebsten sein Zicklein auf mich hetzen, das unberührt am steinigen Wegesrand vermutlich schon seit Tagen vergeblich nach etwas vernünftigem zu Fressen sucht.
    Aber er scheint auch gemerkt zu haben, dass hier kein Geschäft mehr zu machen ist und zieht sich drohend, aber geschlagen in seine Berghöhle zurück. Heute wird es eben ausnahmsweise kein leicht verdientes Trinkgeld geben, und er wird sich mit Ziegenmilch als Abendtrunk begnügen müssen.
    Die ziegenhütetende Betrügerin will wahrscheinlich noch von ihrem Frauenbonus profitieren und schimpft in gebührendem Abstand weiter auf mich ein. Ich lasse die Meckerziege einfach weiter meckern und geselle mich wieder zu meiner Reisegruppe. Der in sich ruhende und selbstzufriedene Reiseleiter hat natürlich nichts mitbekommen, weil er immer noch sich selbst und seine orientalische Ruhe genießt. Vielleicht ist er auch an einer Überdosis Schlafmohn für immer eingeschlafen, aber da ich seine Person einige Zeit später wieder mit seiner Ray-Ban aufrecht im Reisebus schlafen sehe, muss er zumindest zu seinem Platz schlafgewandelt sein.

    Ja, liebe Leser, das war wohl um 1996, in einer Zeit, in der ich noch sehr unbedarft und frei war.
    Ich stand noch am Anfang meiner Suchtkarriere und hatte noch nicht in meiner jetzigen Firma angefangen, die mir bis dato jahrzehntelang jeden Funken Selbstvertrauen nahm und meine Eier auf Erbsengröße schrumpfen ließ.
    Ich bin noch nicht von Menschen verarscht worden, die mir einmal viel bedeuteten und bei denen ich glaubte, einen Halt gefunden zu haben.

    Es war die Verbindung meines Alkoholmissbrauchs mit den damit einhergehenden, erdrückenden Scham- und Schuldgefühlen sowie der daraus folgenden Selbstabwertung. Eine Selbstablehnung, die durch meine dysfunktionale Kindheit und später durch ein verzweifeltes Festhaltenwollen einer längst verflossenen Beziehung befeuert wurde. Dies verlangte in der Folge nach noch mehr Sedierung, wodurch ein unendlich schwer zu durchbrechender Kreis der Sucht und die stärksten Selbstzweifel entstanden, die ich je erlebt habe.
    Ich war zu einem Menschen geworden, der es verlernt hatte, für sich selbst einzutreten. Ein Mensch, der keine eigenen Bedürfnisse mehr formulieren und nie echte Grenzen setzen konnte.
    Ich wollte nach dem verzweifelten Ende der damaligen Beziehung jedem gefallen, habe mich angepasst, eine Rolle gespielt und meine Sucht versteckt. Den unvermeidlich aufkommenden Frust, die Ohnmacht und die Depressionen habe ich wortwörtlich jahrzehntelang hinuntergespült und sediert. Das war mein toxischer Trost, mein zweischneidiges Schwert, mein Januskopf. Mein Himmel und meine Hölle.
    Dazu kamen wie schon erwähnt die kranken Strukturen in meiner Firma, für welche eine solche Schwäche ein gefundenes Fressen war. Ich habe mich in diesen Jahren meilenweit von mir selbst entfernt. Ich habe mich durch die Sucht, der damit einhergehenden Rückschläge, einem toxisches Arbeitsumfeld und manipulativen ‘Freunden’ immer mehr zu einem innerlich total unsicheren, sich selbst abwertenden Menschen entwickelt. Einem Menschen, der unter Scham- und Schuldgefühlen litt und dessen größte Sorge es war, wie über ihn gedacht werden könnte. Der deswegen stets bedacht darauf war, nicht das Geringste falsch zu machen oder negativ aufzufallen.

    Wäre mir vor nicht allzulanger Zeit dieselbe Situation mit dem Ziegenhirt passiert, hätte ich ihm wahrscheinlich freundlich und zuvorkommend mein Portemonnaie samt meiner Kreditkarte ausgehändigt und ihm mit dem Google-Übersetzer lächelnd meine Sparkassen-App erklärt. Im Anschluss hätte ich ihm wahrscheinlich noch mit gesenktem, höflichen Blick mein Smartphone unentsperrt übergeben.
    Des Weiteren hätte sich eine konditionierte Angst bemerkbar gemacht, dass er auf meiner Arbeit anrufen könnte, um sich über mich und mein Verhalten zu beschweren.
    Um dem zuvorzukommen, wäre ich ganz besonders nett und freundlich gewesen und hätte ihm bestimmt noch einen schönen Tag in seiner Lehmhöhle gewünscht. Natürlich nicht ohne ihn vorher respektvoll zu fragen, ob ich denn nicht nochmal ganz kurz seine tolle Ziege streicheln darf. Das wäre zwar in keinem Fall mein eigentliches Bedürfnis gewesen, aber ich hätte es getan, um nicht unangenehm aufzufallen und er mich doch in guter Erinnerung behalten möge.
    So wäre ich heutzutage für mich eingetreten, so hätte ich noch bis vor kurzem meine Bedürfnisse formuliert und meine Grenzen gesetzt.

    Aber ich habe noch diese lebendige Kraft von damals in mir, bevor mich die Droge und die damit einhergehenden Lebensumstände platt gemacht haben. Diese Stärke, die ich so lange unterdrückt habe und die da war, bevor ich begonnen habe, meine Emotionen und Bedürfnisse, im Grunde mich und mein ganzes Leben zu unterdrücken.
    Und ich arbeite an mir und hole mir mein Leben zurück, was ich mir selbst und durch die Droge so lange vorenthalten habe.
    Möge die Macht mit mir sein!


    Ja, lieber Leser, so sieht's nach 30 Jahren Alkoholmissbrauch und dysfunktionaler Kindheit aus, lassen Sie sich das und Ihren Kindern ein warnendes Beispiel sein. Seien Sie gewarnt, wenn Sie in geselliger Runde bierselig singen: “Einer geht noch, einer geht noch rein!”
    Oder wenn Ihnen vielleicht bei einem edlen Gläschen Wein bei Sonnenuntergang auf Ihrer Veranda diese Geschichte in die Hände fallen sollte. Urteilen Sie nicht vorschnell, wenn Sie verständnislos fragen, wie man sich so unkontrolliert gehen lassen kann.
    Denken Sie immer daran, es könnte jeden erwischen...auch Sie!!

    Schönen guten Abend.


    In eigener Sache:
    Für mich stellt sich von Zeit zu Zeit die Frage, wie geht's weiter, wo will ich eigentlich hin? Auch habe ich begonnen, Dinge von früher, aber auch aus jüngerer Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen.
    Ich möchte das jetzt nicht den letzten Diskussionen zugrunde legen, aber bei mir stellt sich nach solchen Debatten die Frage: Wie gehe ich mit meiner Zeit um, was nimmt mir nur die Energie und was tut mir wirklich gut?

    Auch habe ich nun “leider” recht feine Antennen, die mir einerseits gut gestatten, besser meine Umwelt und auch mich wahrzunehmen, aber die sich andererseits vielleicht auch manchmal etwas “übersensibel” äußern, was gewisse Dinge oder Atmosphären betrifft.
    Ich kann die Welt oder den anderen nicht ändern, wie ich mich auch nicht mehr verbiegen will. Nur habe ich auf Grundlage meiner Sucht gelernt, dass es manchmal besser ist, Dinge loszulassen, als endlos zu debattieren, dagegen anzukämpfen oder bei einem Spiel mitzumachen, welches nicht mehr meins ist. Derzeit ist auch meine Arbeitsstelle so ein Feld, wo es genau um diese Punkte geht.
    Sei es wie es sei.

    Aus o.g. Gründen fühlt es sich derzeit für mich richtig an, mich hier herauszunehmen.
    Ich danke euch für das Lesen und den Austausch, der mir sehr weitergeholfen hat und sage “Macht’s gut”. Schauen wir mal, was das Leben oder die Zeit so bringt :)

    Leben und leben lassen.

    - FORTUNE - und Oran-Gina

    danke für eure super Beiträge. Ihr habt meine Gedanken 1A auf einen Nenner gebracht.
    Es geht um ein Geben und Nehmen, um leben und leben lassen. Dem anderen den Raum geben, den er braucht, aber sich im Gegenzug natürlich auch nicht den eigenen Raum nehmen lassen, den man selbst benötigt. Ich möchte nicht, nur weil ich ein Problem mit etwas habe, von allen anderen erwarten, dass sie sich nach mir zu richten haben oder meine Sicht- oder Lebensweise dem anderen überstülpen. Natürlich kann der Umgang mit dem Problem von Fall verschieden aussehen und lässt sich nicht katalogisieren.

    Wir sind alle immer sehr schnell damit, dass “Gute” bzw. das, wovon wir überzeugt sind, dass es das Richtige ist (und wir das vermutlich auch so erlebt haben) auf den anderen anwenden zu wollen. Auch kann dadurch aus einem Impuls oder einem gutgemeinten Rat relativ schnell eine bewertende Bevormundung werden. Zumindest besteht die Möglichkeit, dass es vom anderen unter Umständen so aufgefasst wird.
    Auch kann dadurch gerade in unserer "Branche" dem anderen ungewollt ein zusätzliches Joch übergestülpt werden, was nicht zielführend ist und (zumindest mich) unnötig einengt. Zudem besteht die Gefahr des Dogmatismus, wenn ich auf einem Weg beharre, der für mich zwar der Richtige sein mag, beim anderen jedoch eher Druck erzeugt. Und ich habe unter Druck noch nie gut funktioniert.


    Sollte ich dir da auf den Schlips getreten sein sollte, war das keineswegs gewollt. Bighara friedferig mit imaginärer Friedenspfeife! Hough! ✌🏻

    Kein Problem, ich fühle mich nicht auf den Schlips getreten. Mir war es nur wichtig, meine Ansicht zu der Sache mitzuteilen. Vermutlich habe ich auch etwas "undiplomatischer" reagiert, weil das eine Sache war, die mich im anderen Forum unendlich genervt hat.

    Ehrlicg gesagt, liest sich das für mich schon so, dass du zu dem damaligen Zeitpunkt nicht sonderlich gut für dich und deine Bedürfnisse einstehen konntest. Darf ich etwas fordern? Ja. Du darfst. Die Angst vor Ablehnung steckt dahinter.

    Die Angst vor Ablehnung war mir seit meiner dysfunktionalen Kindheit ein "treuer und weiser Ratgeber" und war unter anderem auch ein Grundpfeiler meiner Sucht. Mir wird auch immer mehr bewusst, dass es dort noch viel aufzuräumen gibt. Und ich bin gerade dabei.

    Wiederum würde ich meinen nüchternen Weg aus jetziger Sicht genauso konfrontativ gehen. Es ist mein Weg, der unter anderem auch aus meiner persönlichen Fallbeurteilung und eigener Erfahrung besteht. Gerade durch angstmachende Erfahrungen und Erlebnisse anderer, sehe ich die Gefahr, dass ich ein Modell annehme, was im schlimmsten Fall in einem totalen Rückzug enden könnte.

    Auch sehe ich dort die Gefahr des Dogmatismus. Ich würde unreflektiert glauben, was andere erlebt haben, das 1:1 auf mich ummünzen und es wiederum an andere weitergeben

    Ich brauche diese Konfrontation. Beispielsweise in den Getränkemarkt zu gehen oder Gästen moderat Alkohol anzubieten, ist für mich eine "Normalität" die ich (derzeit?) noch benötige und mich erstarken lässt. Auch stelle ich den Alkohol nicht auf eine Stufe mit z.B. Heroin, da es meiner Ansicht nach wirklich Menschen gibt, die Alkohol kontrolliert trinken können. Nur ich eben nicht.

    Auch waren die Kompromisse mit meiner Partnerin und meinem Umfeld genau richtig, ich brauchte diese "Normalität", alles andere hätte die Leere noch vergrößert.

    Jeder Rückzug, Meiden und Ausblenden hätte in mir eine Angst vor einem lauernden übermächtigen Gegner produziert und ihm (dem Alk) mehr Macht zugesprochen, als er tatsächlich hat.Das habe ich früher schon oft erlebt.

    Das ist MEIN Weg und ich behaupte nicht, dass er für jeden geeignet ist. Aber daraus zu schließen, dass ich in der Richtung nicht für meine Bedürfnisse einstehen konnte, weil ich es nicht so mache, wie es "empfohlen" wird, ist doch etwas am Ziel vorbei.

    Gerade das war damals mein erster Schritt in die Freiheit, weil ich auf mich gehört habe und es nicht so gemacht habe, wie die anderen es von mir erwartet haben. In der Richtung war mir das andere Forum sehr "lehrreich". Dort wurde mir auch ein Rückfall prophezeit, der sich gewaschen haben soll.


    Ich weiß auch manchmal nicht, warum mich gerade diese Sache mit dem alkfreien Umfeld immer so triggert. Vermutlich fühle ich gerade dort meine Grenzen verletzt, weil mir immer wieder jemand sagen will, wie es richtig ist und wie ich zu machen habe.

    Sorry, das musste mal raus.

    Wenn es mir nicht gut tut, wenn mein Partner zuhause am besten noch in meiner Gegenwart Alkohol konsumiert, darf ich ihn denn dann nicht darum bitten, Rücksicht auf mich zu nehmen?

    Bin ich denn weniger wichtig als andere?

    Ich kann da nur für mich sprechen und es kann auch gut möglich sein, dass ich über Jahre Defizite entwickelt habe, wenn es darum geht, eigene Bedürfnisse formulieren. Vielleicht habe ich dort wirklich auch einen blinden Fleck.

    Ich hatte weiter oben schon geschrieben, dass meine Frau mir damals angeboten hat, mir zuliebe auch nichts mehr zu trinken. Ich hatte das aber abgelehnt, weil ich mich dadurch anfänglich noch leerer gefühlt hätte. Gerade das Vorhandensein eines kleinen Vorrats hatte mir damals ein Gefühl der Sicherheit, ein Gefühl der "Normalität" gegeben.

    By the Way, vor vielen Jahren, als ich noch solo war, habe ich bei meinen Aufhörversuchen regelmäßig alle Flaschen ausgegossen und mich nach einem Rückfall wieder neu eingedeckt. Ich habe damal wirklich selbstironisch zu mir gesagt: Stelle das Zeug einfach in den Keller und hole es dann "bei Bedarf" wieder hoch, das ist preisgünstiger, als ständig neu zu kaufen.

    Für mich war es auch stressfreier, bei einer Feier moderat Alkohol anzubieten, als den ganzen Rattenschwanz erklären zu müssen, warum nun von heute auf morgen kein Tropfen Alkohol im Haus serviert wird. Ich kann es nicht anders erklären, aber es hätte sich in dem Moment noch leerer angefühlt. Das hängt vermutlich auch mit Verstrickungen innerhalb des Familien- u. Freundeskreis zusammen und kann bei jedem anders aussehen.

    Auch habe ich, wenn es sich nicht umgehen lies, ab und an einen Sixpack zum Grillen eingekauft. Für mich ist das eine Möglichkeit, mich mit meiner Sucht zu konfrontieren und ein "normaler" Umgang, der mich sogar selbstbewusst macht. Mir ist das so lieber, als das ich den Alkohol als einen Angreifer sehe, der auf mich lauert. Gerade durch die ständige Angst vor ihm gebe ich ihm meiner Ansicht nach mehr Macht, als er eigentlich hat. Und da er überall present ist, ist mir das so lieber.

    Ich sehe ihn als eine "neutrale" Flüssigkeit, die ich missbraucht habe und der ich nicht gewachsen war, die aber an sich nicht "böse" ist.

    Ich meine ihm Buch der AA gelesen zu haben, dass sogar einige Sponsoren (diejenigen, die sich um ihre Anvertrauten, Sponsees, kümmern) Alkohol im Haus haben, um bei kalten Entzügen, Delirium... entgegenzuwirken.

    Und ja, das ist ein großer Unterschied, ob ich den Alkohol für o.g. Notfälle im Haus habe oder zum Feiern anbiete. Aber der Grundmechanismus ist der gleiche, es ist eine Flüssigkeit (von mir aus wie eine giftige Säure) die mit mir nichts mehr zu tun hat und mir nicht gefährlich werden kann, sofern ich sie nicht in mich hineinlasse.

    Und ich behaupte auch nicht, dass das bei jedem so sein muss, aber für mich fühlt sich das derzeit stimmig an und ich fahre so recht gut.


    Bin ich denn weniger wichtig als andere?

    Mag vielleicht sein, dass meine o.g. Strategie zum Teil darauf fußt und ich unterbewusst nicht noch andere mit meinem Problem "nerven" wollte. Scham- und Schuld spielen wohl da auch eine große Rolle.

    Meiner Ansicht kommt es aber auch dort auf Ballance, ein richtiges Maß an. Es hätte sich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht richtig angefühlt, meinem Partner auch noch dieses "Joch" auferlegen.

    Hallo Brant,

    ich finde das eine sehr schwierige Thematik. Meiner Ansicht nach kommt es auch sehr darauf an, ob ich allein lebe (damit muss ich mich nur auf mich achten) oder mit Partner*in, welcher kein Suchtproblem hat und ab und zu ein Glas Wein wirklich genießt. Soll ich dem anderen mein "Joch" (was in dem Sinne für mich keins mehr ist) mit auferlegen und meine "Krankheit" wie ein Schild vor mir hertragen?

    Mich hat auch nie die halbe Flasche himmlisches Tröpfchen meiner Partnerin in der Speisekammer getriggert, sondern ich habe mir, wenn ich dem Suchtdruck nachgegeben habe, immer MEINE Getränke in ausreichender Menge besorgt, da war viel Zeit und viel Weg dazwischen. Und Alk gibt es ja nun "leider" an jeder nächsten Straßenecke zu kaufen. Sollte er jetzt verboten werden, weil ICH ein Problem damit habe? Ich mag im übrigen auch keine Beschränkungen und Verbote, nur weil ein Teil der Leute mit gewissen Sachen nicht umgehen können und das dann immer für alle verallgemeinert werden muss.

    Insgesamt sehr schwierig, die Problematik. Und ich denke, jeder sollte den Weg gehen, mit dem er sich am besten damit identifizieren kann. Zumindest ist das mein derzeitiger Erkenntnisstand.

    Für unsere Gäste kaufen wir keinen Alkohol ein - das würde sich für uns nicht richtig anfühlen, weil uns so richtig bewusst geworden ist, wie Alkohol Schaden anrichtet. Kein Gastgeber würde schließlich auch Zigaretten oder sonstige Drogen bereit halten, wenn seine Gäste das sonst konsumieren.

    Ich finde das sehr konsequent und richtig. Ich gehe dort den Weg des geringeren Widerstandes, kaufe für die Gäste zum Grillen etc. einen Sixpack und den eventuellen Rest gebe ich ihnen mit. Es ist für mich einfach der unkompliziertere Weg.

    Es fußt aber auch darauf, dass ICH ein Sucht-Problem habe und andere Alkohol wirklich bewusst genießen können. So mach dem Motto, nur weil ich nichts mehr trinke, dürfen jetzt die anderen auch nicht. Auch hat meine Frau ihren Hugo oder anderes Krabbelwasser in der Abstellkammer, da sie von Zeit zu Zeit ein Glas wirklich genießt. Sie hatte mir zu Beginn angeboten, wegen mir auch "verzichten" zu wollen, aber das wollte ich nicht. Mittlerweile ist es aber auch so geworden, dass sie durch mich kaum noch etwas trinkt. Es war früher auch so eine Gruppen-/ Paardynamik.


    Ein sehr guter Freund von mir meinte mal zu mir, er halte es für eine Sache des Respekts, in meiner Gegenwart keinen Alkohol zu konsumieren. Er halte es nicht für in Ordnung jemandem, der ein echtes Problem mit Alkohol hat, durch das Konsumieren von Alkohol in dessen Gegenwart auch noch vor Augen zu halten, dass er ein Problem hat. - Ich hab vor Rührung geweint, als er das sagte.

    Der Satz stimmt mich zutiefst nachdenklich.

    Meine Gedanken darüber kommen vielleicht mit meinem obigen Ansichten leicht in Konflikt. Ich denke, dass macht wirklich einen sehr guten Freund aus und drückt echten Respekt aus.

    Ich wurde zu meiner letzten größeren Feier gebitzelt, dass ich doch mal endlich einen richtigen Schnaps auf den Tisch stellen soll, obwohl niemand der Gäste "harte Sachen" trinkt. Ich nehme es den Leuten nicht übel, aber das zeigt, wie wenig Verständnis meiner Sucht entgegengebracht wird. Es stellt dar, wie tief wirklich intelligente und empathische Menschen noch in dieser albernen Humtata-Feier-Mentalität feststecken und Alkohol als Grundstein einer jeden gelungen Feier sehen. Wie ich übrigens früher auch...

    Hallo Lala,

    ich denke, dass ist vor allem auch eine Kopfsache.

    Wenn ich wüsste, dass eine Soße mit verkochtem Wein o.ä. zubereitet wurde, würde ich es lassen, obwohl es vielleicht keine Rolle spielen würde.

    Kefir vermeide ich z.B. auch, seit ich weiß, dass dort geringe Mengen Alkohol enthalten sein können. Hätte ich es nicht gewusst, wäre vielleicht auch nichts passiert. Ich denke, der Körper schleust den minimalen Alkoholanteil unbewusst mit durch. Bei alkoholfreiem Bier ist die Triggergefahr bestimmt deutlich höher, weil es an an echtes Bier erinnert. Das habe ich früher mal getrunken, aber hier ist mir der Kosten-Nutzen Faktor zu hoch.

    VG Rent

    Hallo Paul,

    Ist das nun Abtrainieren, seine Festplatte (Suchtgedächnis) umschreiben oder nur pure Gewöhnung und/oder brauchen nur all die millionen Rezeptoren, Synapsen und die "Organe", welche all die Botenstoffe erzeugen, die für unsere Gefühle verantwortlich sind Zeit, um sich zu regenerieren?


    Ich denke, es ist vielleicht von jedem etwas.

    Der menschliche Körper ist ja in dem Sinne ein Wunderwerk der Technik, er regeneriert sich täglich und versucht, selbst den kleinsten Kratzer zu reparieren. Er stellt sich sogar auf ein Gift ein, was jahrzehntelange durch Kreislauf und Organe geschickt wurde und auf verschiedene Neurotransmitter wirkt. Sicherlich gewöhnt sich der Körper auch über Jahre daran, wundert sich dann, warum auf einmal keine giftige Fracht mehr kommt und stellt sich nach und nach wieder auf normale Prozesse ein.

    Was eben länger bleibt, sind die alten Verknüpfungen, die Konditionierungen und Gewöhnungen, die unbewusst in meine bewusste Steuerung eingreifen. Und natürlich auch die Gründe (Ängste, mangelndes Selbstwertgefühl, nicht abschalten können u.s.w.) warum ich zur Flasche gegriffen habe, kommen wieder zu Tage.

    Ich finde es manchmal für mich sehr hilfreich, wie ich über etwas denke oder betrachte. Trauere ich einer Sache nach, bin verzweifelt über meinen Ist-Zustand und halte somit meine Schaltstellen noch in alter Position, “kämpfe” ich gegen mich selber ODER gebe ich “mich” (bzw. mein altes Leben) auf.
    Ich habe mir damals gesagt: Alles was nun kommt, wird besser als das Leben, was du mit dem Rausch (zum Schluss nur noch Beduselung) hattest. Gerade meine Schuldgefühle hatte ich damals auch immer als eine große Last empfunden.

    Ich habe jetzt sozusagen eine positive Erwartung von meinem “neuen Leben”. Nenne es von mir aus auch ein “Recht auf Leben”, weil ich nicht mehr trinke. (Und diese Erwartung wird nicht mehr von hinderlichen Schuldgefühlen unterdrückt)
    Man kann das vielleicht auch mit einer körperlichen Narbe vergleichen, die mit zunehmender Zeit und Geduld heilt, weil keiner mehr (Alk) daran herum kratzt und ich auf mich und meinen Körper vertraue, dass alles werden wird.
    Mag das vielleicht positives Denken sein (von dem ich ehrlich gesagt nicht viel halte), aber ich finde, dass man durch den Betrachtungswinkel schon einige Schalter stellen kann, die sich real positiv (und sei es manchmal nur in der eigenen Bewertung der Dinge) auswirken.

    VG Rent

    Hallo AmSee13 ,

    ebenfalls vielen Dank für die Urlaubswünsche 👍

    Im Prinzip überschreibst du ja nun die alte Konditionierung bzw. programmierst dich um und konditionierst dich durch andere positiv besetzte nüchterne Erfahrungen neu.

    Ja, genau so ist es. Ich überschreibe alte "Programme" mit neuen positiv besetzten Erfahrungen. Und gerade auch die Zeit ist dort ein großer Faktor, der hilft, alles mit Geduld zu festigen. Also keine Schnellformatierung, sondern ausgedehnte Scans der Festplatte und Tiefenreinigung ;)

    LG Rent

    Hallo Bighara ,

    vielen Dank für die Urlaubswünsche 👍

    Ja, Gedanken kommen und gehen und es sind nur Gedanken. Die Zeit arbeitet in dem Sinne auch auch für mich, ich muss nicht mehr hilflos Opfer meiner Gedanken und alter Konditionierungen sein und jeder Schnapsidee nachgeben.

    LG Rent

    Wir sind seit längerem wieder mal in den Urlaub in den Süden geflogen. Den “Reisestress” (zurechtfinden auf unübersichtlichen, riesigen Flughafen inkl. der Menschenmassen, leichter Jet-Lag und Eingewöhnen in ungewohnter Urlaubs-Umgebung) war ich überhaupt nicht mehr gewohnt. Bei Ankunft hatte ich so richtig schön Bock auf abendlichen Rotwein, einheimischen Schnaps und alles was dazugehört. Mich halt so richtig schön wie früher wegzuballern.

    Das hatte ich lange nicht mehr und wenn sich das festgesetzt hätte, wäre es vermutlich sehr unangenehm geworden. Die alten Konditionierungen sitzen, ich war beinahe seit Jahrzehnten nicht mehr im Hotel mit Alkohol unterwegs, aber es war so, als wäre es gestern gewesen. Und klar kommt der Schemen eines Gedanken: Was wäre wenn und natürlich "nur mal im Urlaub und dann natürlich “nie wieder".

    Was cool ist, der "Gegen"-Gedanke, dass ich wahnsinnig viel Gutes aufgeben würde und ich (erfahrungsgemäß) nicht mehr in den Spiegel schauen könnte, ist viel mächtiger als die kurze Schnapsidee an den Rausch. Es war beinahe eine unemotionale Kosten - Nutzen Rechnung, die zu Beginn der Nüchternheit nie funktioniert hätte. Und ich sag mal so, es fühlt sich wahnsinnig gut an, wenn du am nächsten Morgen aufstehst und du weißt, du bist seit über einem Jahr ohne Alk&Opiate und weißt, das das tendenziell auch so bleiben wird.

    Klar spüre ich abends manchmal den Hauch einer gewissen Leere, die sich mit Wasser, Cola oder auch mit Aktivitäten schwer füllen lässt. (Erfahrungsgemäß brauche ich meistens 2-3 Tage, um anzukommen und das minimale Gefühl der Leere lässt schon nach)

    Es ist aber auch kein Ankämpfen, sondern ein Annehmen der neuen Situation, in dem Wissen, das Richtige zu tun, den Weg gewählt zu haben, der auf Dauer Gutes verheißt.

    Und das fühlt sich wiederum auch gut an, es hat beinahe etwas “Rebellisches”. Wie ich früher mit meinem “ungewöhnlichen” Konsum rebellisch, sozusagen anders war, verhalte ich mich nun auch wieder etwas “unkonventionell” 🙃.

    Es ist halt so wie es ist bzw. ich bin halt so, wie ich bin und muss nicht (mehr) wie die anderen mein Bacardi-Feeling mit tatsächlichem Bacardi-Rum erzeugen 😎

    Selbst während meiner wilden Endphase waren es oft noch etliche Tage die ich dann eisern durchzog. Trockene Tage waren also nie ein Problem. Warum ich wieder anfing? Weil ich nicht wusste wie am Ball bleiben mit dieser depremiert - verkaterten "Nie wieder Alkohol" Erkenntnis. Aus heutiger Sicht würde ich sagen ich war nicht bereit ein echtes Zeichen, ein Fundament zu setzen um aus meinem Kreislauf herauszukommen

    Ich kann diese Gedanken sehr gut nachvollziehen. Trockene Tage waren für mich früher auch nie großes ein Problem. Gerade damit habe ich mir auch jahrelang eingeredet, kein "echter" Alkoholiker zu sein.

    Meiner Ansicht nach ist es sehr wichtig, eine neuen Umgang mit Verhaltensweisen, alten Gewohnheiten und Stressfaktoren zu entwickeln, die ja nach wie vor immer noch da sind bzw. u.a. der Grund für das Trinken waren.

    Mir hat auch sehr gut geholfen, ein Ziel, beinahe eine Vision zu haben, um die relativ "unangenehmen" Wochen des körperlichen Entzugs durchzustehen und vor allem das länger andauernde psychische Verlangen kompensieren zu können. Sonst lief immer alles auf ein Durchhalten hinaus, dem ich auf Dauer nicht gewachsen war und ich musste dem Druck früher oder später wieder nachgeben. Und damit habe ich jedesmal mein Selbstwertgefühl, den Glaube es je zu schaffen durch vollkommen unnütze Scham- und Schuldgefühle wieder mehrere Level zurückgesetzt.

    Im wahrsten Sinne des Wortes eine "Sisyphos-Arbeit" bzw. ein Kreislauf, der ohne positives Ziel nicht zu durchbrechen erschien.

    Ich erfreue mich auch über viele schöne Dinge die ich sehe, aber im Gegensatz zu früher, muss ich sie heute nicht mehr besitzen.

    Eine sehr interessanter Gedanke, über den es sich wirklich lohnt, zu reflektieren. Richtig gelebt wäre vieles für mich selbst und auch für die anderen einfacher. Womöglich gäbe es auch etwas weniger Neid in der Welt.

    Ich weiß nicht ob das an der Gruppe hier liegt, aber es wurde eigentlich immer nur gesagt wie toll AA ist, das mann sich an den Tisch setzen soll, da wird einem geholfen. Jeder der da schon länger nüchtern ist macht eigentlich einen abgesang auf AA. Ich muss dazu sagen das die Gruppe mittlerweile ein sehr hohes Durchschnittsalter hat. Es fehlt mir das z.B. die 12 Schritte mehr erklärt werden. Es werden Themen angesprochen und letztendlich erzählt jeder wieder von seinem Erfahrungen und wie toll AA ist.

    Es sind leider immer wieder die selben Erfahrungsberichte die Mann nach 5 - 6 Meetings schon auswendig kann.

    Ich will aber auch nicht unken. Ich geh dahin um in Kontakt zu treten und das für mich beste mitzunehmen.

    Und Mann darf nichts kritisieren oder hinterfragen, da gucken dich alle böse an.

    Mir wurde direkt gesagt daß es da Mal Unstimmigkeiten gab und Streit , wie auch immer.

    Wenn ich manches lese, kommt mir das vor, als dass du dir eine große Mühe geben musst, um dort dran zu bleiben. Ich habe das an anderer Stelle in einem anderen Kontext erlebt und mich hat das zum Schluss nur müde und mürbe gemacht und wahnsinnig Energie gekostet. Ich hab das so befreiend empfunden, dort heraus zu sein.

    Das Problem bei der Sucht ist, dass du jeden Strohhalm nimmst, den du bekommen kannst. Und du verbiegst dich, wie du dich früher mit dem Alk verbogen hast, nun in dem neuen Umfeld und versucht dich anzupassen Ich bin wahrscheinlich auch manchmal nicht ganz einfach, aber ich kann und will mich einfach nicht mehr verbiegen.

    Ich will das auch nicht ausreden und es gibt gewiss auch Sachen, bei den man etwas "dran" bleiben muss. Dazu kommt noch, dass es bei uns in der Provinz nicht viele SHG's zu geben gibt. AA ist zum Beispiel ewig weit weg. Aber so oder so, ich denke es ist wichtig, gerade jetzt, in deiner beginnenden Klarheit auf dich zu hören.

    Ich habe das blaue Buch der AA übrigens auch gelesen bzw. als Hörbuch gehabt und ich finde das nicht verkehrt, teilweise sehr gut. Aber wenn ich mich in den (realen) Strukturen nicht wohlfühlen würde, würde ich mir Alternativen suchen. Ich habe mich mein Leben lang mit Alk&Co verbogen und habe überhaupt nicht mehr die Kraft oder die Lust mich wieder neu zu verbiegen.

    Aber insgesamt schon schwierig, weil wohl immer in einer Gemeinschaft unterschiedliche Leute aufeinandertreffen und es wie leider so oft im Leben Machtspiele und Rangkämpfe gibt. Das war schon auf dem Schulhof so ;)

    Ich wünsche dir, dass du ne gute SHG findest bzw. dass du noch besser in deine jetzige SHG hereinkommst.

    Hallo Mops,

    Ich weiß auch das Alkoholismus eine Krankheit ist, aber bei mir kam immer eine mangelnde Willensstärke hinzu. Denke da muss ich ansetzen. Und auch langfristiger denken.

    ich würde mal sagen, dass die “Krankheit” ja unter anderem gerade die Willensstärke, den eigenen Willen und unsere Entscheidungsfähigkeit angreift oder zumindest schwächt. Genau das macht es ja erst so perfide. Ich würde auch nicht sagen, dass du, ich oder auch andere hier nur einen schwachen Willen haben. Wenn du diesen Glaubenssatz über dich zulässt, sind ja die kontraproduktiven Schuld- und Schamgefühle schon vorprogrammiert. DU bist schwach und hast es WIEDER nicht geschafft! Dieses Versagenspirale vernichtet den letzten Rest des verbliebenen Selbstwertgefühls.

    Ich kann den Weg von Honk gut nachvollziehen, da ich auch Teile davon nutze. Gerade der Fokus auf die neugewonne Freiheit und ein Erleben (und Wiedererleben) vieler positiver Stimmungen und Aktivitäten ohne diese Kette am Bein, können wahnsinnig hilfreich sein. Auch habe ich oft versucht, meinen “Alkoholdämon” auszuhungern, mir haben mitunter Visualisierungen geholfen, um dieses schwer greifbare Verlangen zu packen, was anfänglich sein gewohnheitsmäßiges “Recht” einfordern will.

    Trotzdem finde ich es manchmal zu einfach gesagt, man muss sich nur willentlich entscheiden, ich muss doch nur wollen. Ich meine gehört zu haben, dass mitunter das Unterbewusstsein recht stark zu agieren scheint und ich mit meinem “eigenen” Willen manchmal recht wenig entgegenzusetzen habe. In der Hinsicht ist es vielleicht gut, dass man sich anfänglich nicht Situationen aussetzt, die zusätzlich triggern würden.

    Zu früheren Zeiten war das Aushungern des Monsters auch nie das größte Problem, aber scheinbar war es relativ resistent und hat sich oft sehr lange versteckt. Was dann in einer Suchtverlagerung und letztendlich wieder mit Alk im heimlichen Spiegeltrinken endete.
    In mir hatte sich über Monate und sogar Jahre immer mehr eine SehnSUCHT aufgebaut, die mich die ganzen verzweifelten und beschissenen Momente von früher vergessen lassen hat. Ich hatte das Gefühl, das Beste aufgegeben zu haben. Alle anderen dürfen weitertrinken, nur ich nicht. Die Vergangenheit wird eben immer etwas verklärter betrachtet, als sie wirklich ist.

    Mir hat es geholfen, die Abstinenz nicht als Verlust zu sehen, gegen dieses Verlangen ich mit meinem Willen ankämpfen muss, sondern ich betrachte jetzt meine Nüchternheit als riesigen Gewinn, beinahe das Beste, was ich in der letzten Zeit erleben durfte.

    Um nochmal auf die Willensstärke und zurückzukommen. Zum Schluss hatte ich überhaupt nicht mehr den Willen oder den Glauben, es je (dauerhaft) schaffen zu können.
    Ich denke, dass lag auch viel daran, dass ich früher immer gesagt habe, ich MUSS dagegen mit meinem Willen ankämpfen. Ich habe den Alk als meinen Feind gesehen, der es auf mich abgesehen hat. Man ist sozusagen immer in ständiger Anspannung, wann man es denn endlich “geschafft” hat oder ob “Er” (der Alk) einen wieder erwischt.

    So betrachte ich die Sache schon lange nicht mehr. Es war damals eher ein Aufgeben dieses “Willenskampfes” und ein Bewusstwerden, dass ich den Alk nicht brauche, ihn im Prinzip noch nie gebraucht habe, um zufrieden und glücklich zu leben. Es ist schwer, diesen erlebten Moment zu beschreiben.
    Man könnte es vielleicht am Besten mit einer verflossenen Beziehung vergleichen, der man ewig nachgetrauert hat und irdendwann feststellen musste, das man vom Partner nur verarscht wurde. Und dass dieser Partner auch überhaupt nicht so attraktiv und erstrebenswert war, wie ich immer geglaubt hatte. Zumindest ist bei mir dadurch der Groschen gefallen und ich habe dadurch mit diesem “Willenskampf” aufgehört, der mich früher nur noch mehr mürbe werden lassen hat. Ich betrachte den Alk auch nicht mehr als Feind, sondern als etwas was in einer anderen Liga spielt und mich nicht (mehr) interessiert.

    VG

    Moin Mops,

    von mir auch ein herzliches Willkommen und schön, dass du hier hergefunden hast.


    Aber ich hab große Angst rückfällig zu werden. Meine Selbstachtung ist im Keller und ich schäme mich sehr für meine Alkoholsucht.

    Ich glaube, da bist du hier nicht allein. Gerade die Scham verhindert ja zu einem großen Teil, dass man sich Hilfe sucht und das Problem angeht. Anderseits hast du dir ja dein Problem nicht wirklich ausgesucht und dadurch, dass du es jetzt angehst, übernimmst du Verantwortung und kommst aus der passiven Haltung heraus. Vielleicht will dir die Scham in Verbindung mit der Sucht auch einreden, dass du wertlos bist, dass es sowieso keinen Sinn macht und einfach weitertrinken das kleinere Übel wäre. So habe ich das zumindest erlebt, dass ist aber eine Lüge, ein falscher Glaubenssatz, der dich von einem wirklichen Leben in Freiheit abhalten will.

    Und egal, wie sehr dein Leben mit dem Alk verstrickt ist (oder war), mit der Nüchternheit hast du ein festes Fundament, womit du alle anderen Nebenkriegsschauplätze angehen kannst, die durch die Sucht besetzt wurden.

    Anfänglich fühlt sich das manchmal nicht immer leicht an, aber es wird mit der Zeit kontinuierlich besser und vor allem einfacher.

    Sag dir immer, du bist jetzt auf dem richtigen Weg und hast das Schlimmste hinter dir.


    VG und dir alles Gute

    Rent

    Ja, das ist schon ein Schritt, nach vielen Jahren so einen Schritt zu tun, zumal man selbst immer eingefahrener wird und es oft abzuwägen gilt.


    Doch mein Leben wurde bunt, ist bunt, ist schön und lebenswert. Der Job aber blieb so wie er ist

    Ich wünsche dir auf alle Fälle, dass dein neuer Job ebenfalls bunt, schön und lebenswert wird, wie dein "neues" Leben 👍

    Also dass das Verhalten der Person aus der eigenen Angst vor Bindungsverlust kommen könnte, das wäre in der Tat eine Erklärung.
    Das würde auch andere Verhaltensweisen erklären.
    Allerdings, und das zeigen ja auch die letzten Jahre, teils Jahrzehnte, ist dieser Klammern so extrem geworden, dass es nur noch belastet und damit automatisch zu Distanz führt.

    Ich würde sagen, dass jeder seine Rolle im "System" spielt, welche er sich aus verschiedenen Gründen selbst antrainiert hat, aber auch von anderen Menschen oder Lebensumständen konditioniert wurde. Und gerade aus dieser Rolle ist es sehr schwer auszubrechen, weil sie immer gerne wieder vom jeweiligen System übergeholfen wird und man selbst die Rolle schon so lange "gespielt" hat, dass man sie beinahe "lebt" .

    Und wenn jemand sich entscheidet, aus dem (für ihn negativen) System auszubrechen, kommt es eben zu einem Ungleichgewichts der bestehenden Struktur. Und die anderen "Zahnräder", die aus diesem Gefüge Sicherheit, Wohlbefinden, Harmonie, Macht, Gebrauchtwerden... auf Kosten demjenigen, der eben mit diesem System nicht mehr zurechtkommt, gesaugt haben, reagieren verständlicherweise mit Manipulation (sind wütend, traurig, verletzt, sind entäuscht, Strafen mit Nichtbeachtung, drohen...) um ihr "funktionierendes System" zu erhalten.

    Gerade im familiären Bereich (aber auch in früheren toxischen Beziehungen) finde ich es besonders schwierig, das bestehenden System zu verlassen und seine Rolle abzulegen. Ich erlebe das manchmal so, dass sich manche Personen überhaupt nicht bewusst sind, dass sie manipulieren und doch alles nur "gut gemeint" ist. Jeder hat seine Bewältigungsstrategien und spielt sozusagen unbewusst seine Rolle und versucht auf diese toxische, manipulative Art die Umstände zu bewältigen bzw. seine Vormachtstellung zu erhalten.

    Wenn die Möglichkeit besteht (und keine vernünftige Lösung möglich ist) bleibt wohl wirklich nur noch ein Fernhalten, mitunter ist das aber oft nicht einfach.

    Und andererseits habe ich manchmal den Eindruck, dass man seine Glaubenssätze über sich selbst, seine "Rolle", die man jahrelang gespielt hat, unter Umständen an andereren Stellen ebenfalls widergespiegelt bekommt, diese sozusagen mit "umziehen".

    Ich finde in der Veränderung in dem, was ich (wirklich) über mich glaube und von welchen Ängsten ich mich leiten lasse, liegt ein großer Schlüssel, zumindest ist das mein derzeitiges Empfinden.

    Mich bewegt das zur Zeit auch an verschiedenen Fronten und mir werden einige Dreckhaufen bewusst, die ich jahrelang nur abgedeckt habe. Und das fühlt sich mitunter nicht sehr angenehm an, aber jetzt (nüchtern und mit klarem Kopf) sehe ich mich wirklich erstmals in der Lage, Lebensumstände anders zu betrachten und sie gegebenenfalls zu verändern.

    Ich hatte heute eine sehr grenzverletzende Situation mit einer höchst anstrengenden Kollegin. Aus leidvoller Erfahrung weiß ich, wie es früher abgelaufen wäre:

    Über sie ärgern - Ärger herunterschlucken - Ärger mit nach Hause nehmen und nagen lassen - Ärger mit dem sedierenden Getränk herunterspülen, was noch mehr Ärger bereitet, mental schwächt und absolut nichts zur Klärung der Situation beiträgt - am Morgen danach Kater, Scham-und Schuldgefühle, Ärger auf mich und meine Hilflosigkeit gegenüber der ungeklärten Situation + Ärger auf die Kollegin - vor lauter Ärger noch hilfloser, durch Schuldgefühle gehemmt und durch Kater verpeilt - Ärger herunterschlucken und unbewusst noch mehr Fläche für erneute Angriffe + daraus resultierenden Ärger bieten. Der Teufelskreis ist schon vorprogrammmiert...


    Heute ist es so abgelaufen:

    Über sie geärgert - sie unemotional zur Rede gestellt - Grenzen festgelegt - Situation zu meinen Gunsten geklärt.

    Die sehr spezielle spezielle Kollegin hat sich sogar bei mir entschuldigt, obwohl ich darauf nichts gebe, weil ich sie kenne und sie ein Mensch ist, von dem man nichts erwarten kann. Sie ist eine Person, die auf ihre Art vollkommen in sich gefangen ist und scheinbar auch nicht anders kann. Aber das ist nicht mein Problem.


    Bei mir wirken solche Konflikte immer etwas nach, weil dadurch oft noch alte Wunden aufbrechen und größere Dreckhaufen bewusst werden, die jahrelang unbearbeitet geblieben sind. Umso dankbarer bin ich, dass absolut kein Verlangen mehr da ist, die Situation auf alte Weise zu bekämpfen und ich mich in der Lage sehe, meine Herausforderungen wie ein normaler Mensch zu anzugehen. Das fühlt sich richtig gut an, es ist ein Gefühl von wahrer Stärke, Selbstvertrauen und echter Freiheit.

    Und es ist ein Weg, der wie bei einem Training aufwärts, in eine positive Richtig verläuft und nicht immer weiter abwärts, wie der oben beschriebene Teufelskreis.

    Das sind Momente, die "entschädigen" beinahe diese verschenkten Jahre mit einem trüben Rausch. Und es sind auch Momente, wo ich merke, wie wertvoll mir meine Nüchternheit geworden ist.

    Ich war schon immer sehr aufmerksam (achtsam), Alkohol, so lange er funktionierte, verhinderte das ganz gut, was ich nicht gerade als Nachteil ansah - ich war entspannter und viel gelassener, dachte nicht mehr sooo viel nach, nahm Dinge wie sie sind und fertig!

    Ich kann Paul vielleicht in der Hinsicht verstehen, dass durch den Alkohol eine zu große Sensibilität verhindert wurde, die nun ungefiltert an die Oberfläche kommt und im Vergleich zur sedierenden Wirkung (wo der Alk noch gut funktionierte) eher nervig sein könnte.

    Ich merke z.B. wenn ich jetzt nüchtern lange auf größeren Feiern herumsitze, wird mir es irgendwann zuviel und ich versuche zu gehen. Und auch beim (ewigen) Nachdenken über Dinge oder eher das Loslassen selbiger ist bei mir auch noch Luft nach oben.