Beiträge von rent

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    In the Chambers

    Mir kommt es manchmal hier unten so vor, als ob ich IHRE Anwesenheit auf andere Weise erlebe. Eigentlich ist es klar, weil ja jeder hier direkt oder indirekt mit IHR liiert war und verständlicherweise jetzt über sein Leben ohne SIE berichtet. Aber trotzdem fühlt es sich so an, als würde SIE sich hier unten nur verstecken und versucht auf anderem Wege wieder um meine Gunst und die ihrer anderen Liebhaber zu buhlen. Durch die oft gleichen und vorhersehbaren Diskussionen, die hier ausgetragen werden und des Öfteren auf einen Disput hinauslaufen, habe ich den Eindruck, dass sich viele hier ihre Energie, ihr Wohlbefinden und ihre Ablenkung aus solchen Streitgesprächen ziehen.

    Ich bin in einem Gesellschaftssystem aufgewachsen, in dem in gewisser Weise Vorgaben und Normen herrschten, die festlegten, was gesagt und was eher nicht gesagt werden sollte. Da ich relativ schnell Stimmungen und Situationen einschätzen kann, ich sozusagen schnell spüre, woher der Wind weht, werde ich mich an meine Kindheit und Jugend in dem damaligen System erinnert.

    Da ich meine eigenen Berechnungen vorerst beiseite gelegt habe, bleibt mir nun Zeit, um mir Tafeln und Lösungswege anderer Leute anzuschauen.
    Dabei bleibe ich vor einer Tafel stehen, um die sich eine große Traube von Menschen gebildet hat. Einige Leute reden auf einen Mann ein, der schon leicht ergraut ist, sehr gepflegt wirkt und um die 60 Jahre alt sein wird. Ich stelle mich dazu und verfolge das Geschehen.
    Der Mann, der nur indirekt mit IHR zu tun hat, beschreibt die Dreiecksbeziehung zwischen ihm, seiner Frau und IHR.
    In seiner Verzweiflung hat der Mann versucht, den sich immer weiter steigernden Liebesakt zwischen seiner Frau und IHR zu verhindern und warf SIE kurzerhand aus dem Haus. Seine Frau war daraufhin so erbost, dass sie auf ihn mit einem schmiedeeisernen Küchengerät, auch genannt Bratpfanne, losging. Da der Mann in seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit keinen anderen Rat mehr wusste, hielt er der Frau die Hände fest, damit sie ihm nicht das Küchenutensil über die Rübe donnern konnte. Bei seiner Defensivtaktik oder eher im Eifer des Gefechts hielt er die Hände der Frau so fest, dass sie Spuren an den Handgelenken davongetragen haben muss. Der Mann ist von der eskalierten Situation selber sehr entsetzt und ich merke, dass es ihm sehr leid tut und er nicht mehr weiter weiß. Eigentlich ist es eine von vielen Situationen, die SIE immer gerne in Beziehungen bringt, in denen SIE sich einmischt und Unfrieden stiftet. Auch ist es nicht unnormal, dass einer der beiden Partner durch jahrelange Überforderung mit unangemessenen Reaktionen oder gar Gewalt reagiert.

    Mir fällt auf, wie die Situation umschlägt und der Mann, der eigentlich sein Leid klagen wollte und sich nicht zu helfen weiß, nun Zielscheibe immer wieder gleicher Vorwürfe werden wird.
    Die Ratgeber, die sich gleich zu Anklägern entpuppen werden, haben sich mehrere Podien aus Pappe aufgebaut, sich Faschings-Richterroben übergeworfen und dazu noch weiße Perücken und ein ernstes, wichtiges Gesicht aufgesetzt. Sie werfen dem Mann nun vor, dass er die Situation eskalieren lassen hat und durch die Gewalt eine neue Grenze überschritten hätte. Im Grunde wird ihm aber in erster Linie Uneinsichtigkeit unterstellt. Das wird dem Mann, der in seiner Antrittsrede beteuert hatte, dass ihm die Sache Leid tut und er aus Überforderung und Hilflosigkeit gehandelt habe, immer wieder und wieder in wichtig klingender Rede angelastet.
    Es ist so offensichtlich, dass der Fall nur dafür genutzt werden soll, damit sich die sogenannten gutmeinenden Ratgeber ein Podium verschaffen, um sich selbst in Szene zu setzen. Das wird dem älteren Mann schnell klar und mir natürlich auch. Ich bewundere die Ruhe, mit der er auf die immer gleichen Vorwürfe eingeht. Es dauert aber nicht lange, da wird es ihm zu bunt und mir bei diesem Schauspiel regelrecht übel. Er fängt langsam an, seine Beherrschung zu verlieren und passt sich dem Ton an, der hier seitens der Ankläger vorgelegt wird. Da. dummerweise ab und an so ein Gerechtigkeitsbedürfnis bei mir einsetzt, kann ich mir einen Kommentar zu dieser Show-Gerichtsverhandlung nicht verkneifen. Sofort schlägt die Energie der selbsternannten Staatsanwälte jetzt auch in meine Richtung um. Nun wird mir ebenfalls vorgeworfen, uneinsichtig zu sein und die wohlgemeinte Hilfe und selbstlosen Ratschläge nicht annehmen zu wollen.
    Ich weise die Staatsanwält'innen darauf hin, dass hier ein unverhältnismäßig hohes moralisches Strafmaß angelegt wird, was an das Bild eines Schauprozesses oder eher an eine Fernehgerichtssendung erinnert und die entstehende Gruppendynamik eher wenig bis überhaupt nicht zielführend ist. Da die Debatte wie gewohnt wieder endlos weitergeführt werden will, ich aber spüre, dass mir das nur wieder Zeit und Energie abknappt, verlasse ich samt dem älteren Mann kopfschüttelnd den sogenannten Gerichtssaal und gehe weiter.
    Nach einiger Zeit hat sich die Versammlung um die Tafel des älteren Mannes aufgelöst und ich spaziere noch einmal dorthin, um das gesamte Protokoll in Augenschein zu nehmen. Dabei stelle ich fest, dass hier die Möglichkeit besteht, die Rechenwege und Formeln, aber auch die Kommentare der anderen zu bewerten. Das geschieht auf ganz simple Weise, indem einfach kleine bunte Pappsymbole auf die Tafel unter die jeweiligen Abschnitte geklebt werden.
    Beim Überfliegen der Abhandlungen stelle ich fest, dass unter meinen Passagen auch ein paar solcher Pappsymbole geklebt wurden.
    Und ich muss sagen, dass sich das wirklich gut anfühlt, beinahe wie ein Lob. Es lässt mich sogar ein klein wenig die Endorphine ausschütten, die ich früher, natürlich um ein Vielfaches mehr, im Zusammensein mit IHR erlebt habe. Und ich merke, wie mein Körper genau nach diesen Endorphinen dürstet und jeden noch so kleinen Ersatz gern willkommen heißt. So werden mir um einiges die Beweggründe der oft ähnlichen Debatten und Belehrungen klarer. Ich verstehe jetzt den Hintergrund der einstudierten Reden, welche den Geist der großen Masse widerspiegeln und somit hier eine große Resonanz finden, besser.
    Zum einen kann man als Mitglied der großen Gruppe den Delinquenten mit vorgefertigten Dogmen in die Ecke treiben, hat sogar ein leichtes Machtgefühl über ihn und kann ihm zum Schluss noch Unbeugsamkeit und mangelnde Einsicht vorwerfen. Zum anderen fühlt man sich in der großen Gruppe sicher, wird durch sie noch bestätigt und kann Lob in Form von Pappsymbolen sammeln, wenn man die richtige Botschaft rezitiert hat.

    Ich bin wie gesagt recht schnell im Erfassen von Stimmungen und Situationen und es wäre mir ein Leichtes, ebenfalls die geforderten Maxime aufzusagen und viele Pappsymbole und den damit einhergehenden leichten Endorphinausstoß zu ernten. Da mich das aber an Mechanismen und Strukturen aus dem damaligen Gesellschaftssystem meiner Kindheit und auch meiner jetzigen Arbeitsstelle erinnert und es sowieso nicht echt wäre, lasse ich es bleiben. Ich habe auch oft erleben müssen, wie es sich anfühlt, wenn kranke Persönlichkeiten ihr Ego auf meine Kosten aufbauen und das möchte ich niemandem zumuten. Und weil es sowieso nicht echt wäre, taugt es nichts und es würde keine Endorphinausschüttung stattfinden.
    Ich werde mich wohl anderweitig kümmern müssen, weil ich merke, wie mein Körper zwar nicht mehr nach IHR, aber schon nach den begehrten Stimmungsaufhellern lechzt.
    Vielleicht probiere ich es zur Abwechslung mal mit Sport. Oder ich verprügle einfach mal den einen oder anderen Arbeitskollegen, sperre meinen Vorgesetzten ohne Klopapier auf der Damentoilette ein und verpetze ihn dann anonym bei der Geschäftsleitung. Oder ich schreibe mir einfach manchen Scheiß von der Seele.



    Balaton-Baby - The End of the pure L.S. I.

    Ich schreibe eine Urlaubskarte an meine Fast-Freundin Mila. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ich meine, dass es eine Karte mit dem Motiv leicht bekleideter junger Frauen im Vordergrund des Balatons war. Aus heutiger Sicht vielleicht etwas albern, aber damals hat das gut zu der Fast-Beziehung gepasst, die ich mit Mila beinahe geführt hatte. Ich hatte Mila vor noch nicht allzu langer Zeit in der heimischen Disco auf einem meiner unzähligen L.S.I. -Trips kennengelernt. Wir machen wortwörtlich je nach Lust und Laune immer gerne etwas miteinander rum, ohne aufs Ganze zu gehen. Vielleicht gehen wir gerade nicht aufs Ganze, weil das dann bedeuten würde, dass wir uns festlegen müssten. Wenn wir uns festlegen würden, wäre wahrscheinlich das ganze Leichte und Spielerische aus unserer Fast-Beziehung weggenommen. Vielleicht haben wir auch nur Angst dem Anderen zu zeigen, dass wir in einer festen Beziehung ziemlich normal und langweilig sind und dann dieses unverbindliche Turteln und sich necken, dieses vage und unerreichbar bleiben, dann für immer weg wäre.
    (Gerade fällt mir ein, dass sich einige Zeit später doch beinahe etwas Festes mit Mila angebahnt hätte, aber da ich parallel zu der Zeit schon Anastasia kennengelernt habe, ist es eben bei der Fast-Beziehung geblieben. Es wäre interessant gewesen, wie sich die Geschichte in diesem Strang entwickelt hätte, vielleicht würde ich jetzt hier nicht schreiben und würde als langweiliger Angestellter mein langweiliges Wochenendbierchen trinken und mich dabei langweilen. Zumindest hätte ich mir in dem Zeitstrang viel Ärger und Leid erspart, naja, vielleicht auch nicht. Und gerade in dieser anfänglich noch so unschuldigen, aber auch so abgedrehten Zeit, setze ich das Fundament für meine Suchtkarriere, die mich nun über Jahrzehnte begleiten wird. Manche Dinge kommen halt, wie sie kommen und man kann sie nicht aufhalten.)

    Ich halte mich jetzt auch nicht länger mit der Karte auf, schreibe nur noch, dass ich hier viele hübsche Mädchen kennengelernt habe, die ähnlich wie auf der Karte aussehen, was ja auch nicht vollkommen gelogen ist. Und eigentlich will ich sie augenzwinkernd etwas eifersüchtig machen. Ich würde es ihr auch nicht übel nehmen, wenn sie mir umgedreht so etwas schreiben würde. Auf unserem Weg in die Stadt stecke ich die Karte in den Briefkasten und bummele mit Sandro und Burghardt durch die Straßen der ungarischen Stadt am Balaton.

    Da ich mir jetzt seit vielen Wochen Alkohol mit einem abendlichen Promille-Wert von mindestens 2 Flaschen Wein genehmige, kommt es früh manchmal in Nuancen vor, dass die Konturen der Umwelt krasser, beinahe feindlicher erscheinen. Und da ich immer mein goldenes, farbenfrohes und weichgespültes Bild gewohnt bin, stimmt mich das minimal nachdenklich. Aber ich bin noch viel zu sehr von meinem Tonikum, meinem L.S.I. begeistert, um mir ernsthaft Sorgen zu machen. Es kommen zwar Gedanken, den Konsum zu minimieren, aber die werden auf später, vielleicht nach dem Urlaub, vertröstet. Und diese eher unangenehme, leicht beängstigende Wahrnehmung findet nur kurzzeitig in leichten Facetten statt und vergeht auch wieder.

    So schlendern wir durch die sonnige, pulsierende Innenstadt und kehren in einen der unzähligen kleinen einladenden Biergärten ein. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob es nun vormittags oder nachmittags war, als wir auf der Außenterrasse eines Mini-Biergarten mit Namen Eden hängen bleiben, in dem die meisten Tische um einen kleinen Baum gestellt sind, der einen wunderbaren, lauschigen Halbschatten gibt. Durch den leichten Wind, der durch die Blätter des Baumes streicht, verändert sich immer wieder das Spiel von Licht und Schatten. Die Strahlen der durchscheinenden Sonne erzeugen beinahe ein Flirren der Lichtpartikel, ein Bokeh, wie eine sich ständig wechselnde Perspektive der Photonen.
    Es ist so, als würden sich dabei auch meine Perspektiven verändern, die soeben durch meine Gedanken streichen.

    Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob der Gedanke schon eher ab und zu auftauchte, wahrscheinlich war es nicht das erste Mal, aber ich habe auf einmal Bock, wieder Eine zu rauchen. Es war auf alle Fälle nicht der lange Kampf wie früher, dem ich auf kurz oder lang immer wieder nachgegeben habe.
    Hier geht es ganz schnell. Ich bestelle mir, ohne groß darüber nachzudenken, bei der hübschen Bedienung, eine Schachtel Camel, die es hier in einer kleineren 10er Packung zu geben scheint. Mehr brauche ich natürlich auch nicht, ich will ja nur mal wieder probieren und nicht wieder anfangen zu rauchen. Ich bin doch nicht blöde und mache so einen Scheiß. Ich habe mich doch nicht so lange mit dem Dreckszeug herumgeschlagen, was mich müde, melancholisch und halb depressiv gemacht hat, nur um jetzt wieder anzufangen und mich von vorne mit dem Dreck rumzuärgern.
    …Aber die Erinnerung an den Geschmack, den Rauch und diese Schachtel fügen sich so gut in dieses Bild von goldener Sonne, Biergarten und Urlaub ein. …Und Rauchen oder die Zigarette passt irgendwie doch gut zu mir, es ist so ein stimmiges, harmonisches Bild. …Erst durch das Rauchen sehe ich mich und das Bild meiner Umgebung in gewisser Weise erst richtig komplett.
    …Ich werde nur mal wieder probieren und schmeiß die Kippen dann weg oder gebe sie meinen österreichischen Kumpels, von denen viele quarzen. Burghardt und Sandro rauchen natürlich nicht, sie haben ja schon genug mit ihrer Red Bull Drogensucht zu kämpfen.

    Und so zünde ich mir nach einem sehr kurzen Bedenkmoment eine Zigarette mit einem Werbe-Streichholzbriefchen an, das mir die nette hübsche Bedienung, die dem Namensschildchen zufolge auf ihrer anziehenden Brust wahrscheinlich Eva heißt, mit hingelegt hat, da ich ja kein Feuerzeug mehr besitze.
    Irgendwie sind die Dinger leicht klamm und haben wohl über Nacht in einer Bierlache unter dem Tresen gelegen. Ich ratzle ein paar Mal über die Reibefläche und erst beim dritten oder vierten Mal gelingt es mir, eine Flamme zu erzeugen. Da eine warme, leichte Brise durch den Baum und mein Haar streichelt, führe ich die Flamme, mit der linken Hand abschirmend, gekonnt und in altgewohnter Weise zu meinem Mund, in der sich schon die Zigarette befindet. Die Zigarette fühlt sich zwischen meinen Lippen seltsam vertraut an. Insgesamt ist die Situation aber eher seltsam, aber wiederum habe ich sie schon mehrmals erlebt.
    Sollte ich wirklich? Ich bin schon so lange weg davon. Eigentlich will ich es nicht…aber eigentlich will ich es doch.
    …Ach scheiß drauf, ich bin jetzt so ein cooler Typ und ich werde es nur noch mal probieren. …Ein, zwei Zigaretten vielleicht. Höchstens drei. …Ja, alle guten Dinge sind drei, das sagt man doch so. …Oder bis die Schachtel alle ist, das wäre doch ein guter Abschluss, ich mag erledigte Dinge. …Und ich habe jetzt auch mein Tonikum und kann jederzeit wieder aufhören.

    Ich schüttelte diese letzten Bedenken ab, die sowieso nichts mehr aufhalten können, weil mit dem Kauf der Schachtel oder schon viel eher die Sache besiegelt war.
    So nehme ich meine ersten Züge, betrachte beinahe ehrfürchtig diesen Glimmstängel in meiner rechten Hand, den ich so lange entbehren musste und nehme den nächsten Zug.
    Es schmeckt natürlich erwartungsgemäß episch, schließlich habe ich nicht das erste Mal aufgehört und wieder angefangen. Diese ersten Züge und vor allem das befriedigende Gefühl, das mit der Stillung des Bedürfnisses nach kürzerer oder jetzt mit dieser längeren Auszeit einhergeht, ist mit das Geilste, was ich kenne. Es kommt beinahe einer Erlösung gleich und ist vielleicht der Grund, warum man überhaupt raucht. Alles, was später kommt, ist nur Dreck und kann mit dieser jungfräulichen Begegnung nicht mithalten. Wer mir erzählen will, dass die erste Zigarette nach längerer Auszeit nicht schmeckt, war nie ein richtiger Raucher.
    Ich spüre, wie das Nikotin über meine Lungen absorbiert wird und in die Blutbahn geht. Wie mir vor Aufregung sogar etwas die Finger kribbeln und etwas kälter werden, was sich eher leicht unangenehm anfühlt.
    Aber die Erlösung, die jetzt einsetzt, stellt alles in den Hintergrund. Diese Befriedigung der alten Sucht löst und entspannt alles in mir und ich merke, wie sich kurzzeitig ein warmes, erleichterndes Gefühl im Bereich des Solarplexus einstellt.
    Aber leider eben nur kurzzeitig. Als die Zigarette fast zu Ende geraucht ist, habe ich natürlich auch wieder meine alten Dämonen zu neuem Leben erweckt.
    Es ist ein Gefühl, das Falsche gemacht, nicht widerstanden zu haben. Durch eine unbedachte Handlung wieder etwas hervorgeholt zu haben, über das ich nie die Kontrolle hatte, wie, als hätte ich ein Stück altes Leben oder eine Facette von einer ungeliebten Vergangenheit heraufbeschworen. Eine latente Ungewissheit, was nun passieren soll, eine leichte Stimmung der Scham und der Schuld. Daran schuld zu sein, was gerade passiert ist. Ich merke auch, wie sich meine Wahrnehmung leicht verändert, es ist so, als hätte man lange durch eine Brille mit oranger Tönung geschaut, nimmt diese nun ab und sieht die Welt wieder in weniger bunten, warmen Farben und mit weniger Kontrast. Alles wirkt etwas fremder und weiter von mir entfernt. Ich bin nicht mehr ganz ein Teil dieser Welt, wie ich sie vorher immer durch den Genuss meines flüssigen Tonikums wahrgenommen habe. Einige Jahre später werde ich diese und ähnliche Situationen auch mit dem Alkohol nach längeren Trinkpausen erleben.

    Vielleicht ging es Adam im Garten Eden ja genauso, als ihm Eva oder eher die Schlange die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen untergejubelt hat. Der junge Adonis wollte eben auch nicht hören oder hat sich nicht unter Kontrolle gehabt und musste einfach mal probieren. Wie ich eben auch immer alles probieren muss und dann darauf hängen bleibe. Naja zumindest ist auch Adam nicht im Paradies hängen geblieben, sondern wurde von seinem Vater achtkantig aus der tollen Grünanlage rausgeworfen. Die Bitch namens Eva konnte er gleich mitnehmen, die hat nämlich auch nicht hören können und war wahrscheinlich ein schlechter Umgang für Adam.

    Ich habe mich früher immer gefragt, warum denn dieser Gott überhaupt die Tür zum verbotenen Giftschrank aufgelassen hat und dazu noch seine Knirpse mit so einem aalglatten Drogendealer in Schlangenlederjacke allein im Haus ließ, der dann mit gespaltene Zunge den unverdorbenen Kleinen die verbotenen Sachen schmackhaft gemacht hat. Der Altvater hätte doch wissen müssen, dass seine Kids sowieso machen, was sie wollen und nicht auf ihn hören. Die anti-autoritäre Erziehung ist in vielen Sachen bestimmt sehr hilfreich, aber hier war sie vielleicht etwas fehl am Platz. Und dann die ungezogenen Gören als Reaktion aus Haus und Garten zu werfen, mag zwar letztendlich konsequent gewesen sein, aber in Betrachtung der Vorgeschichte vielleicht etwas zu drastisch. Insgesamt schon etwas fahrlässig und in Folge leicht überreagiert. In jetziger Zeit würde so etwas eventuell das Jugendamt auf den Plan rufen.

    Aus meiner heutigen Sicht wird mir immer bewusster, dass der Mensch durch die Höhen und Tiefen, die er erlebt, geprägt wird und dieses Erleben zur Menschwerdung dazugehört.
    Dass es auch unumgänglich ist, Entscheidungen zu treffen, wir uns aber auf Grund von Vita, Prägung, Bedürfnissen, Emotionen, Kompromissen und Überforderung oft falsch entscheiden. Und wir infolge dieser Entscheidungen oder auch durch Entscheidungen anderer, die uns nur leicht tangieren, erschüttert und oft nie wieder ganz heil werden.

    Ich frage mich gerade, habe ich wirklich die alleinige Schuld an manchen Dingen, die in der Vergangenheit passiert sind, passieren und auch noch passieren werden?
    Ich habe eine Verantwortung für mein Leben. Ja, ich bin der Steuermann meines Schiffes. Aber wird nicht auch mein Schiff von vielen Winden und Strömungen gelenkt, von vielen äußeren und inneren Faktoren und habe ich wirklich immer die Kraft und den Willen, die Voraussicht und den Kompass, um gegenzusteuern?

    Ich muss an die traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik denken, Kintsugi oder Kintsukuroi, wo Bruchstücke und Scherben mit einer Paste aus Gold einfach wieder zusammengesetzt werden und daraus sehr wertvolle Gefäße entstehen.
    Die Fehlerhaftigkeit und die Makel werden zu einem Kunstwerk zusammengesetzt und nicht weggeworfen. Es sind Narben aus Gold. Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung besser gefällt, als wenn der Scherbenhaufen einfach ins Fegefeuer weggeworfen und auf ewig verbrannt werden würde.
    Hier am Südufer des Plattensees sind es bestimmt keine Narben aus Gold, hier hat mein Gefäß vielleicht gerade mal die ersten Risse. Naja, in meiner Kindheit und den folgenden Jahren hat es auch schon ganz schön gescheppert. Und da ich soeben wieder mit Rauchen angefangen habe, hat mein Gefäß einen Riss mehr. Zumindest empfinde ich das mit der Sicht auf damals gerade so.


    Nun sitze ich hier mit meiner Erkenntnis des Guten und des Bösen, einen Sprung mehr in der Schüssel und drücke meine Zigarette im Aschenbecher aus und bin nicht so recht glücklich damit, was ich soeben gemacht habe. Ich rauche natürlich eine zweite, um zu sehen, ob ich mich nun glücklicher fühle, was erfahrungsgemäß nicht eintritt. Aber es fühlt sich alles etwas normaler an, nämlich so, als hätte ich nie aufgehört zu rauchen.
    Und irgendwie ist mein geiles L.S.I. Gefühl, diese Empfindung, längere Zeit etwas Großartiges geschafft zu haben und durch mein Tonikum beinahe jemand anderes, zumindest die beste Version von mir selbst zu sein, etwas geschrumpft.

    Als wir bei der ungarischen Eva bezahlen, den lauschigen Halbschatten des Baumes und den Bier-Garten mit dem verheißungsvollen oder eher verheißungsschweren Namen verlassen und in das gleißende, grelle Licht der Mittagssonne treten, schmerzen mir durch den ungewohnten Lichtwechsel etwas die Augen. Meine Schachtel Kippen habe ich natürlich mitgenommen, ich kann sie einfach nicht liegen lassen. Außerdem habe ich sie ja schließlich bezahlt und da höre ich halt wieder zu Hause mit dem Rauchen auf. Aufhören will ich auf alle Fälle, bevor mich der Dreck wieder müde, melancholisch und halb depressiv macht.

    Aber hier will ich feiern, ohne über etwas nachdenken zu müssen. Hier in diesem wunderbaren, unendlich langen und heißen Sommer, mit meinem L.S.I., meinem Tonikum, was mich so wunderbar zu erfüllen und zu reparieren scheint. Hier in Ungarn des Jahres 1994, hier in Siófok.

    Der Fachkräftemangel führt aktuell in der Tat zu einem unausbalancierten Arbeitsmarkt zu Gunsten der Arbeitnehmer. Der Höhepunkt ist aber vermutlich schon überschritten. Die Wirtschaftsdaten in Deutschland kennen seit Monaten nur eine Richtung: nach unten. Die politischen Degrowth- und Wir-retten-die-Welt-Phantasien, die weltweit an der Spitze liegenden Energiepreise und der Bürokratie-Irrsinn führen bereits aktuell zu massiven Abwanderungen. Miele ist nur ein Beispiel von vielen. Die Dynamik nimmt noch zu. KI wird demnächst bei Brainworkern, die bisher von Rationalisierungsmaßnahmen weitestgehend verschont blieben, zur Substitution von Jobs durch Maschinen führen. Wenn man wirklich gut ist, muss einen das nicht kirre machen, aber den von Dir skizzierten Optimismus teile ich - zumindest mittelfristig - nicht.

    Ich muss sagen, dass ich vielleicht oft nicht weit über meinen eigenen Tellerrand hinausblicke und die globalen Entwicklungen eher weniger im Blick habe, die meiner Ansicht nach in heutigen Zeiten sowieso nicht stetig und nicht komplett vorhersehbar sind.

    Aber wie ich die Situation bei mir auf Arbeit, bei meiner Frau und auch anderswo erlebe, werden schon "händeringend" Fachkräfte gesucht. Ich kenne noch die Zeit, wo man früher beinahe froh sein konnte, wenigstens irgendwas bekommen zu haben. Und gerade diese "Urängste" stecken zum Teil noch viel in meiner Generation und wird eben gegebenenfalls noch als latentes Druckmittel von der Führung benutzt. Nach dem Motto. "Sei froh, was du hast". Das schwingt aber auch langsam um und ich weiß genau, dass sich unsere Abteilungs-Führung schon bewusst ist, was sie an vielen Mitarbeitern hat. Das bekommst du aber auch nie ins Gesicht gesagt, sonst könnte es dir ja zu gut gehen.

    Ich merke aber auch, wie die jüngeren Generationen mit einer ganz anderen Sichtweise einsteigen. Gerade manche Lehrlinge, haben wirklich die Sichtweise, "Sei froh, dass ich überhaupt da bin und wenn dir was nicht passt, werde ich Tiktoker oder Youtuber". Das ist jetzt natürlich etwas überzeichnet, aber soll das darstellen.)

    Ehrlich gesagt finde ich die Sichtweise nicht komplett verkehrt, weil sie genau das Gegenteil zu den Urängsten meiner Generation abbildet. Ich finde aber auch, es geht wie so oft im Leben um Ballance und es sollte immer ein gesundes Mittelmaß (und Miteinander) sein. Im Idealfall ein ausglichenes Geben und Nehmen. (Zumindest in der Theorie)


    So gesehen hat ein sicherer Job durchaus seine Vorzüge, aber wenn Dein Job sich so konträr zu Deinen Anforderungen und Bedürfnissen gestaltet, sollte das Sicherheitsargument m.E. nicht den Ausschlag geben.

    Das ist ein großer Aspekt, der bei mir sehr die Waagschale in Richtung "Bleiben" bewegt. Zumal ich in meinem Fall die Arbeit/ Tätigkeit an sich recht gern mache, aber sich das Klima über die Jahre sehr verschlechtert hat. Was mir eben in einer anderen Firma genauso passieren kann und ich zudem dort noch einmal von vorne anfange, was manche Sachen betrifft.

    Mir gibt auch manchmal die Sichtweise Hoffnung, dass ich zumindest die Möglichkeit hätte (die ich ja auch habe), zu wechseln. Ist vielleicht eine Art positives Denken ;) , aber es nimmt mir etwas von diesem "auf immer und ewig" festzustecken, was bei mir eher Druck/ Zwang erzeugt. Und Zwang hat mir noch nie wirklich bei einer Entscheidungsfindung geholfen.

    Das machts ja schwierig, gut möglich, dass der neue Job dann auch nicht bringt, was er versprochen hat. Genau wie bei mir aktuell. Nach vier Monaten ist die Anfangseuphorie verflogen und es harzt ein bisschen. Ich glaube und hoffe, dass es sich einpendelt. Kann aber auch sein, dass ich nicht happy werde am neuen Ort.

    Ich habe schon einige Arbeitsstellen durch und war damals wirklich froh, bei meinem jetzigen Posten gelandet zu sein. Leider hat sich durch neue Kollegen/ Umstrukturierungen viel zum Negativen verändert.

    Ich will auch nicht bis zum bitteren Ende an etwas festhalten, was mal gut war, aber jetzt nicht mehr ist. Manchmal ist noch ein Stück naive Hoffnung dabei, dass sich doch wieder etwas ändert.

    In der Waagschale taucht aber bei mir auch immer wieder der Punkt auf, was ist, wenn der neue Job dann auch nichts bringt. Ok, das kann ich nur herausfinden, in dem ich es ausprobiere und ins kalte Wasser springe.

    Ist schon eine Zwickmühle und irgendwo das Prinzip des Leidensdrucks. Zumal ich nicht mehr für mich alleine verantwortlich bin, sondern auch für meine Familie. Und über die Jahre wird man nun einfach immer festgefahrener, man weiß was man hat und eventuell aufgeben wurde.


    Kann aber auch sein, dass ich nicht happy werde am neuen Ort. Aber weisst du was? Ich bereue den Entscheid keine Sekunde (und das sag ich nicht bloss, um mir selbst Mut zu machen). Ich weiss jetzt, dass ich auch ausserhalb meines gewohnten Umfelds bestehen kann - wenn ich denn will.

    Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Dieser Satz macht in gewisser Weise Mut und stellt die eigene festgefahrene Angst vor Veränderungen in den Hintergrund 👍

    Nur aber, eines wurmt mich ein bisschen, und dazu habe ich eine Frage an Euch: Würdet ihr mit offenen Karten spielen und offiziell ankündigen, dass ihr euch beruflich ggf. neu orientieren würdet oder würdet ihr es heimlich machen?

    Ich sag ja immer, der Teufel ist ein Eichhörnchen und Heimlichtuerei wird schnell zu einem Bumerang. Deswegen hab ich so das Besteben mit offenen Karten zu spielen um vielleicht doch ein entgegenkommen zu verhandeln, sofern meine Arbeit irgendwie wertgeschätzt werden sollte. Wenn nicht, dann ist die Sache so oder so klar.
    Ich habe mir selber gesagt, 2024 ist das Jahr der Entscheidungen, irgendwas wird passieren!

    Ich würde mir hauptsächlich die Frage stellen, was erreiche ich letzendlich damit.

    Meine Situation auf Arbeit erlebe ich teilweise auch sehr unerfüllend und setze mich gedanklich immer mal wieder mit einer Wechsel auseinander.

    Ich habe vor kurzem ein Gespräch mit meiner Chefin geführt und ihr mitgeteilt, dass ich die Situation mitunter unerträglich empfinde und mich mit einem Wechsel der Arbeitsstelle auseinandersetze bzw. das zumindest bewege, falls sich in einigen Richtungen nichts ändern sollte. Für mich hat sich seit dieser Zeit wirklich einiges gebessert, sofern dass in diesen verstricken Strukturen meiner Arbeitsstelle möglich ist. Mir hat aber auch das Gespräch sehr geholfen, um mich innerlich zu sortieren und aus dieser latenten Leibeigenschaft, die in unserer Firma gerne versucht wird, dem undemütigen Mitarbeiter überzustülpen und als Druckmittel benutzt wird, herauszukommen.

    Andererseits sehe ich mich nicht in der Pflicht, da ich ja kein Leibeigeigener bin, meinem Arbeitgeber zu informieren, dass ich mich nach einer neuen Stelle umsehe/ mich bewerbe.


    Aus meiner Sicht kann sich die Geschichte in verschiedene Richtungen entwickeln.

    Wie ich unsere Führung einschätze, die viele Sachen sehr "persönlich" nimmt, könnte ein Spiesrutenlauf beginnen, wenn sie von meinen (unangekündigten) Wechselambitionen durch den Buschfunk/ hinten herum erfahren würde. Ok, wenn ich die neue Stelle in der Tasche habe, läuft es eben dann auf ein Aussitzen der Kündigungszeit hinaus und man hat die Hoffnung, endlich danach sein jahrelanges Quantamo in Richtung Freiheit zu verlassen. (in der Hoffnung, dass bei der nächsten Anstellung einiges besser wird)

    Wenn ich die Firma aber ehrlich über meine neue Jobsuche/ informieren würde und ich finde dann nichts, könnte sich das für mich eher negativ auswirken. Ich könnte vorstellen, wie dann ein Insider-Gag hinter dem Rücken daraus wird. Nach dem Motto: "Da soll er sich eben wieder mal woanders bewerben, um dann wieder mit gesenkten Haupt zu uns zurückzukommen. Bei uns ist es eben doch noch am schönsten". In der Richtung könnte es wieder als latentes Druckmittel führungsseitig zum Kleinhalten verwendet werde. Und der eigene Trumpf wäre nach einmaligen Einsatz verpufft.

    Ich denke, es kommt auch darauf an, was man für ein Verhältnis zu seinem Vorgesetzte hat. Bei einem sehr guten Verhältnis auf Augenhöhe könnte ich mir sogar vorstellen, dahingehend die Karten etwas auf den Tisch zu legen. Ich würde aber immer damit rechnen, dass etwas durchsickert und sich eventuell dann für mich negativ auswirken könnte.

    Summa Summarum würde ich keine Notwendigkeit sehen, meine Führung über einen anstehenden Jobwechsel zu informieren. Dafür ist ja auch die Kündigungsfrist da, dass mein Arbeitgeber sich rechtzeitig Ersatz suchen kann.

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    Sometime after the point of no return

    Ich fahre mit dem Auto Richtung Feierabend entgegen und lasse diese nervtötende Woche in diesen seltsamen, verrückten Betrieb und diesen seltsamen, verrückten Leuten, die scheinbar meine Arbeitskollegen sein sollen, hinter mir. Die Kopfschmerzen und der Druck hinter Stirn und Augen bleiben.
    Zu allem Übel musste ich noch vor dem Wochenende erfahren, dass ich kommende Woche meinen Chef auf eine mehrstündige Dienstreise zu einem Workshop begleiten muss. Der mega-langweilig Workshop ist ohne meine Führungskraft schon anstrengend genug, aber mit ihm müsste ich eigentlich Erschwerniss-Zuschläge beantragen. Noch anstrengender als diese Show-Veranstaltung ist die lange Autofahrt mit ihm dahin und wieder zurück.
    Im Grunde seines Herzens ist mein Chef nicht verkehrt, aber er ist dienstlich wie auch privat sehr in die Strukturen dieses Kasperle-Theaters, was eine Firma sein soll, verstrickt. Diese sogenannte Firma, wo sich der Sauhaufen unter hochglänzenden, wichtigen Zertifikaten und Corporate Design versteckt und er ein mittelgroßes Zahnrad verkörpert. Aber eigentlich ist er eine total arme Wurst und ich wöllte auf keinen Fall mit ihm tauschen.

    Mein Großmogul gibt sich auf Dienstreisen erfahrungsgemäß immer freundlich und volksnah. Natürlich lässt er es aber auch nicht zu, dass sich das Gespräch auf Augenhöhe bewegen könnte, schließlich ist er der Vorgesetzte und ich nur sein kleiner, dummer Untergebener. Das sagt er mir natürlich nicht so offen ins Gesicht, aber da ich ihn und seine manchmal herablassende Art kenne, fällt es mir relativ leicht, die Schmierenkomödie unserer Abteilung als das zu sehen, was sie ist. Nämlich ein Haufen aus Halbwahrheiten und Schwindel, Diffamierung, Machtspielchen und Aufbauschen von Nichtigkeiten. Dazu kommen noch unverhältnismäßige Disziplinarmaßnahmen gegen einige Mitarbeiter und permanentes Kleinhalten selbiger, aber wiederum wohlwollendes Auge zudrücken und Lobhudelei bei anderen rebellischen Mitarbeitern. Man bekommt auch nur die Informationen zugeteilt, die personengebunden für richtig befunden werden und ein manipulatives Lenken des jeweiligen Mitarbeiters einfacher machen.
    Alles dient letztendlich dem Zweck, um willenlose Arbeitsameisen zu erziehen und von eigenen Defiziten abzulenken. Es läuft darauf hinaus, das Ego der Mitarbeiter so klein wie möglich zu halten, ihnen latent eine Grundschuld am eigenen Misslingen und Fehlplanungen überzuhelfen und somit ein gutes Druckmittel zu besitzen.
    Als ich früher noch täglich mein Tonikum genoss, was zu der Zeit keins mehr war, sondern eher das Gift, das mich immer kränker werden ließ, machte ich das ihnen unterbewusst auch recht leicht.
    Nun zieht das psychische Druckmittel, das gerne von unserer Führung gegen undemütige Mitarbeiter eingesetzt wird, nicht mehr so ganz. Und der Mitarbeiter macht sich seine eigenen Gedanken, ohne dass er sich jetzt noch verkatert um Schuld, Scham, Verpeiltheit und alle anderen lustigen Begleiterscheinungen eines alltäglichen feucht-fröhlichen Abends kümmern muss. Dem Mitarbeiter fiel es schon zu Zeiten des Tonikums schwer, gute Miene zum bösen Spiel zu heucheln, aber ohne Tonikum sieht der Mitarbeiter die Sache, wie sie ist: Ein Kasperletheater, über das man nicht einmal schmunzeln kann und es fällt ihm deswegen nicht leichter.

    Nun ist Dienstreise und Theater-Show-Vorführung erst nächste Woche und ich spiele mit der Vorstellung, meinen Comandante auf der langen Fahrt an irgendeinem Bratwurststand nahe der Autobahn ohne Handy und Papiere auszusetzen. Ein paar Euros für eine Wurst und ein Bier würde ich ihm natürlich lassen. Ich bin ja schließlich kein Unmensch.
    Aber wir befinden uns hier in Deutschland und nicht im australischen Outback.
    Und Dinge haben Konsequenzen, Rent, so ist das nun mal im Leben. Egal ob man bewusstseinsverändernde, süchtig machende Substanzen zu sich nimmt, gegen eine Dienstanweisung verstößt und die Tür nur einmal, statt zweimal zuschließt und damit haarscharf an einer Abmahnung vorbeischlittert oder seinen Boss auf einer verlassenen Autobahnraststätte aussetzt, früher oder später kommt alles wieder auf dich zurück. Schlechtes Karma, Rent, du hast es in der Hand. Es ist dein Leben, deine Zukunft und dein Chef.


    Ich mache mir keine weiteren Gedanken über Zukunft oder Vergangenheit, weil ich zu Hause angekommen bin und meine Kopfschmerzen schon ohne Chef unerträglich genug sind. Ich lasse einfach das ganze Affentheater, wo es ist, steige aus und schließe mein Auto ab. Früher hätte ich mich bei einem so leidlichen Allgemeinbefinden erst einmal ordentlich weggeballert und noch ein paar Schmerzmittel dazu eingeworfen. Aber das geht nun nicht mehr, besser gesagt, ich möchte das nicht mehr. So schließe die Wohnungstür auf, ziehe meine Vans aus und gehe ins Haus.
    Da wieder mal die Busse streiken und dadurch immer ein großer logistischer Aufwand entsteht, hat meine Mutter die Kinder aus der Schule abgeholt. Ich komme in die Stube, wo sie mit den Kindern auf mich wartet und ich merke, dass die Stimmung eher angespannt ist. Meine kleine Tochter tut sich seit einiger Zeit immer wieder schwer, früh zur Schule zu gehen und hat teilweise regelrechte Panik davor und mein Großer hat zur Zeit ziemliche “handfeste” Probleme mit einigen Mitschülern. Meine Mutter war auch noch nie ein optimistischer Fröhlichkeitsgarant und ich bin immer froh, wenn es halbwegs ohne große Reibereien mit ihr läuft. Im Moment gibt es zwar keine Reibereien, aber die Problemlösungsansätze meiner Mutter gehen eher in Richtung unbestimmte Verzweiflung und Schwarzmalerei und sind, wie so oft, nicht hilfreich.
    In mir kommt so eine Hilflosigkeit auf, weil es nicht um meine eigenen Probleme geht, die ich vielleicht noch stemmen kann oder zur Not eben meinen Chef irgendwo auf der Autobahn aussetze, sondern um die Probleme meiner Kinder, bei denen ich ihnen nur gut zureden kann. Ich kann aktiv nichts unternehmen und fühle nur ihre beschissene Situation nach.
    Bei meinem Sohn bin ich versucht zu sagen, gib diesen Stänkerfritzen mal ordentlich eins auf die Fresse, damit sie ihre Fresse halten und dich zufrieden lassen. Aber da sie in der Überzahl, einige einen halben Kopf größer, stärker und wahrscheinlich auch noch wortgewandter sind, würde der Tip mit Keule und Faustkeil eher nach hinten losgehen. Erfahrungsgemäß würde so ein Ratschlag auf kurz oder lang sowieso floppen, da Gewalt, ob psychisch oder “nur” verbal immer nur neuen Ärger produziert. Ich habe zwar auf meiner Arbeitsstelle die Vorteile von gepflegten verbalen Präventischlägen und den richtigen Spruch zur richtigen Zeit, um sich mal kurz etwas Luft zu machen, zu schätzen gelernt, sehe das aber bei meinem Sohn als kaum umsetzbar und auf Dauer nicht zielführend an.
    Und da mein Sohn relativ feinfühlig und selten auf Krawall aus ist, sehe ich die Möglichkeit, verbal offensiv zurückzuschlagen, bei ihm eher weniger. Zumal er sich gegen eine Gruppe behaupten müsste, die ihm Feigheit oder sonst was unterstellt, aber sich selbst nicht zu feige sieht, um auf einem Einzelnen herumzutrampeln und ihn herumzuschubsen. Meine Frau und ich belassen es dabei, dass er versuchen soll, sich so gut wie möglich aus der Situation herauszunehmen und planen eventuelle andere Schritte, die aber erwartungsgemäß auch nicht hundertprozentig erfolgversprechend sein könnten und den Stänker-Willis eventuell sogar neues Futter bieten könnte.


    Diese Stimmung, liebe Leser, die zum Einläuten eines friedvollen Feierabends eher weniger taugt, durchlebt eben nun gerade der treu arbeitende, jetzt cleane Familienvater, der zudem nächste Woche noch seinen Chef am Hals hat.
    Kinder, wo ist mein Bier, meine Zeitung und meine Pantoffeln? Ach nein, zumindest das mit dem Bier war ja nicht mehr. Zeitung haben wir keine und wenn es mich nach Pantoffeln verlangen sollte, mache ich mir langsam Sorgen.

    Apropos Bier oder Alk im Allgemeinen, das juckt mich schon lange nicht mehr. Mich ekelt es regelrecht, wenn ich an die letzten Beduselung denke, da war nichts mehr mit Golden Moments, das war eher dauerbreit. Ich wüsste auch, dass ich ziemlich tief ins Glas und den Arzneischrank schauen müsste, um eine wirkliche Linderung meines körperlichen und vor allem meines geistigen Befinden zu haben.
    Ich höre gerade, wie mir Freimut, der Obermufti aus meiner Selbsthilfegruppe, in gewohnter Barschheit vorwirft, dass das nasses alkoholisches Denken wäre.
    Nein lieber Freimut, so einfach ist es manchmal nicht, man kann auch mal einen Gedanken in der Richtung zulassen oder zu Ende denken, ohne gleich einen Rückfall zu erwarten, der sich gewaschen hat. Man muss sich auch nicht jahrzehntelang in seiner Selbsthilfegruppe, hinter seinen Erfahrungen und seinen alkoholfreien Jahren verstecken und die eigene Angst von Generation zu Generation weitergeben. Es ist für mich ein riesen Unterschied, wie ich eben diese alkoholfreien Jahre, wie ich mein Leben jetzt verbringe. Soviel dazu, lieber Freimut.

    Es ist manchmal eher eine Suchtverlagerung auf kleinere Endgegner, die bei mir einsetzen will. Ich habe meine letzten Opioide schon ewig entsorgt, ich weiß von meinen Möglichkeiten von Sport, Spaziergang, Reden, Schreiben oder auch mal Schreien. Schreien kommt natürlich nur heimlich für mich auf einer Autofahrt in Frage und natürlich ohne Chef.
    By the Way, vielleicht schreie ich mein Oberhaupt nächste Woche einfach doch mal aus der Kalten an, das wäre für uns beide eine sehr interessante Erfahrung. Ok, vielleicht setzt er mich dann auf einer Raststätte aus, da kauf ich mir anstatt Bier und Bratwurst, eben zwei Bratwürste, was solls.

    Zurück zu den kleinen chemischen Helfern. Durch Pollenallergie und teilweise chronische Sinusitis brauche ich manchmal Schnupfenmittel, die in keinster Weise einen Rausch erzeugen, aber teilweise total eklig müde machen. Ich habe ein Medikament, das nannte ich immer “die schlechte Laune-Pille” und habe sie früher immer ungern oder nur abends genommen.
    Seit den letzten Erkältungen und Pollenallergien habe ich gemerkt, dass ich ab und zu gerade diese eher eklige Müdigkeit erzeugen will. Ich muss wirklich verzweifelt sein, in der Not frisst der eben Teufel Fliegen. Als ich das Mittel auf Abhängigkeitspotential google, komme ich auf eine offizielle Seite, wo medizinische Fachkräfte vor Missbrauch einiger Erkältungsmittel warnen. Aber so schlau oder eher so dumm, dass nebenher noch die ungefähre Anleitung steht, wie man aus legalen Zutaten einen illegalen Rausch zusammenbasteln kann. Man nehme…
    Und das mir, liebe Leser, der ich doch mit den besten und ehrlichen Absichten auf Internet-Recherche gegangen bin.
    Ok, den Alk gibt's auch an jeder Tanke und in jedem Penny, so viel dazu. Ab einem gewissen Alter sollte Eigenverantwortlichkeit eben eine Rolle spielen

    Kehren wir nun wieder zurück zu der eher unangenehmen Freitag-Nachmittags-Feierabend-Situation.
    Mir geht eigentlich alles auf den Sack, ich weiß mit meinen Emotionen und den Spannungskopfschmerzen nicht wohin und will mich mit irgendwas minimal sedieren, müde machen, irgendwas. Da mir das wiederum zu blöd ist, mache ich Sport und schlage auf den Boxsack meines Sohnes ein. Manchmal stelle ich mir beinahe einen dickeren Arbeitskollegen vor, der nicht mein bester Freund ist, aber vom Umfang deutlich dicker als der Boxsack ist. Das klappt schonmal nicht. Nein, natürlich schlage ich nicht gedanklich auf einen Menschen ein, sondern eher auf die Situation und den Frust, den manche Zeitgenossen in ihrem ewigen Neid-Denken und Diffamierungen nunmal erzeugen. Ich gebe dem Kollegen, nein, natürlich dem Boxsack ein paar Low-Kicks und ein paar Ellenbogen und schlage mit meiner kaum erwärmten Rechten einen schönen rechten Seitwärts-Haken, der mit der Kraft der Verzweiflung angetrieben wird und gut sitzt. So gut, dass ich mir gleich mal den Daumen halb verstauche.
    Ich sehe schon meiner Frau, die mich mit einem Blick anschauen wird, der sagt, “Ach Mensch, was hast du nur wieder gemacht” und ich werde abwehrend sagen, “Alles halb so schlimm, ist kaum was”, obwohl mir der Daumen gerade anschwillt und doch etwas über Gebühr schmerzt. Da der Frust-Kampf-Sport nun mal ausfallen muss und meine Hand beim Joggen bei jeder Bewegung schmerzen würde und ich sie gerade kühle, lasse ich lieber alles bleiben.

    Ich fange an, in den “Golden Moments” weiterzuschreiben, was mir immer recht gut hilft und mich etwas erdet. Mir wird beim Schreiben wieder bewusst, was ich bin und bleiben werde: Süchtig. Und das löst in mir keine Verzweiflung aus, sondern es ist eher ein Annehmen von mir und der Situation, sogar verbunden mit einem leichten Trotz, beinahe einer positiven, kämpferischen Stärke.
    Tough Life hier bin ich und ich stehe, noch! Egal wie die Emotionen gerade sind, es sind meine Emotionen und sie spiegeln nur die derzeitige Situation wider. Die Situation ist scheiße, aber ich kann sie im Moment nicht ändern. Was ich kann, ist sie samt meiner momentanen negativen Gefühle anzunehmen. Es ist so, wie es gerade ist.

    Was seltsam ist, ich hatte vor kurzem noch das Bedürfnis, mich mit einem zweitklassigen Erkältungsmittel, was früher nie die erste Klasse oder Wahl gewesen wäre, mich in einen drittklassigen müden Zustand zu versetzen oder alles in Scherben zu hauen.
    In mir kommt aber jetzt wieder das zum Tragen, was ich so sehr mit mir, meiner Sucht und der Annahme selbiger in Verbindung bringe.
    Durch dieses innere Aufgeben oder Annahme der Situation transformieren sich mein Frust, meine Verzweiflung und meine hässlichen Kopf- und Augenschmerzen zu einer Energie, die mich schon oft angetrieben hat. Es ist ein Annahme der Dinge, die ich derzeit nicht verändern kann und in mich kommt eine Ruhe, ein Gefühl der Stärke, was zwar noch weit weg von echter Gelassenheit ist, aber diese hilflose Verzweiflung ersetzt.
    Es ist alles so, wie es gerade ist. Ich bin mehrmals durch das Leben zerschlagen worden, aber gerade dadurch bin ich stark geworen und stehe aufrecht. Ich kenne die Sucht und den Rausch, ich kenne das unbändige Verlangen danach, aber ich bin darüber hinweg. Für heute und hoffentlich für immer, wer weiß das schon genau. Aber zumindest für heute weiß ich es mit Sicherheit.
    Ich klappe die Tastatur zu und kühle weiter meinen Daumen.

    Hallo Moonlight,

    ebenfalls von mir ein herzliches Willkommen hier.

    Was du schreibst, kann ich gut nachvollziehen. Ich habe ebenfalls den Alkohol sehr lange benutzt, um Ängste zu betäuben, meine Stimmungen zu regulieren und um mich eben besser zu fühlen. Nach einer längeren Trockenperiode habe ich versucht, wieder kontrolliert zu trinken. Ich habe das aber so erlebt, dass es viel anstrengender ist, den Alkohol kontrollieren zu wollen und bin immer mehr an mir und dem Alkohol verzweifelt. Auch habe ich mir damit ein riesen Stück von meinem Leben und meiner Lebensqualität abgeschnitten.

    Heute erlebe ich es so, dass es eine Befreiung ist, ohne Alkohol zu leben und möchte dieses nüchterne Leben nicht mehr hergeben.

    Schön, dass du es hier her geschaft hast.

    Auf einen guten Austausch.

    LG Rent

    Hallo Tom,

    von mir ebenfalls noch ein herzliches Willkommen hier und auf einen guten Austausch.

    In vielem, was du schreibst, finde ich mich gut wieder.

    Konkret heisst das, auf diese Kackstimmung und Anfeindungen bei der Arbeit hab ich kein Bock (bin dort seit ein paar Monaten in Vorgesetztenfunktion). Im Moment schau ich das als herausforderung an. Weiss aber, dass ich das Mittel bis langfristig nicht will.

    Drum die Preisfrage: Wie erkennt man, ob (und vorallem wie lange) sich eine unangenehme Situation lohnt, durchzustehen, und wann ist oder wäre der Zeitpunkt um zu sagen, byebye, ohne mich?

    Ich kann das gut nachvollziehen, weil ich mich derzeit bzw. schon länger in einer ähnlichen Situation befinde.

    Ich schaue mir das auch schon lange als Herausforderung an. Es ist halt wie mit dem Alkohol, solange der Leidensdruck noch nicht zu groß ist, verharrt man erstmal in der Situation und unternimmt nichts. Es ist schon schwierig, da es alle Für und Wieders abzuwägen gilt. Und irgendwo ist halt noch ein Stück (naive) Hoffnung, dass sich an der Situation wieder etwas ändert, die vor Jahren deutlich angenehmer war. Naja, die Hoffnung stirbt zuletzt ;)


    Bei meinem ersten Entzug Mitte 20 hatte ich permanent das Gefühl, verzichten zu müssen, ein Alki-Stigma auf der Stirn zu tragen, von der grossen Party um mich herum ausgeschlossen zu sein, versagt zu haben. Erstaunlich, dass ich es doch fast 3 Jahre durchgehalten hatte. Der Druck, den Führerausweis überhaupt je wieder zurückzuerhalten hatte mir sicherlich geholfen.

    Der weitere Verlauf war klassisch. Der Irrglaube, dass man ja bewiesen hat, ohne zu können beweise, dass man ja ruhig mal was trinken darf...

    Genau, du rennst jahrelang mit dem Gefühl durch die Gegend, irgendwas zu verpassen und das Beste aufgegeben zu haben/ für immer verzichten zu müssen. Man fühlt sich wie der größte Versager, würde am liebsten auf einer Betriebsfeier o. ä. am Bierglas nippen, nur um zu zeigen, dass man "dazugehört" und kein Suchtproblem hat. Das Perfide daran ist, daß man wahrscheinlich selbst sein größter Kritiker ist, das Stigma am größten an die Wand malt und am schlechtesten über sich selber denkt.

    Aber egal, ob man den Druck nun Jahre aushält oder nur Wochen aushält, kommt es irgendwann zum Schluss, daß man es doch vielleicht mal wieder, "diesmal natürlich kontrolliert und diesmal ist natürlich alles anders... bli bla blub...", probieren könne.

    Mit dem richtigen Mindset habe ich es das letzte Mal aber eher als Befreiung erlebt und ich möchte meine Nüchternheit und Klarheit nicht wieder hergeben. Ich sehe das jetzt so, dass es das Beste ist, was mir passieren konnte.

    Ich denke auch, dass alles sehr viel mit Selbstannahme zusammenhängt. Wenn man ehrlich zu sich selbst ist, fällt es z. B. auch leichter, zumindest zu einem vertrauenswürdigen Kreis von Leuten ehrlich zu sein. Insgesamt ist das "Outing" aber eher ein schwierigeres Thema.


    Aber wie gesagt: schön sachte. Mein grösster Fehler war, immer alles auf einmal ändern zu wollen. Mit Zigaretten, Alk, Drogen schlechter Ernährung aufzuhören, beginnen Sport zu treiben, Freundin suchen... klappt natürlich NICHT. Und bestätigt indirekt, dass man es eh nicht schafft und somit weitermachen kann wie bisher.

    Deshalb bin ich Fan der kleinen Schritte (zumindest da, wos möglich ist: ein bisschen nicht trinken geht nicht😀)

    Und so hab ich mir die Benzos abgewöhnt, da ich völlig ausser Kontrolle war in Kombi mit Alk. Zigaretten, da ich kaum noch Treppensteigen konnte. Dann hab ich wieder mit dem Spazieren/Wandern begonnen. Und jetzt der Alk, weil ich wieder Freude am Leben haben will. Sport ist das nächste, was mich dabei unterstützt.

    Ich kann das total nachvollziehen, früher wollte ich auch alles auf einmal. Meinem jetzigen Erleben nach gelingt es aber besser, kleine Schritte zu gehen. Das macht vielleicht auch jeder anders, aber durch allzu große Vorsätze kann es auch zu großen Enttäuschungen kommen. Aber du hast natürlich recht, "ein bisschen nicht trinken geht nicht" ;)

    Andererseits bin ich auch der Typ, der immer wieder versucht hat, sein Sucht zu verlagern (früher durch Kettenrauchen oder in letzter Zeit durch Opioide/ Schmerzmittel) Und ich habe das wirklich so erlebt, dass die "kleinen" Drogen immer wieder die Grenze zum Alk aufgeweicht haben, aber manchmal war es natürlich auch anders herum.

    Echte Freiheit hat sich erst durch Weglassen sämtlicher Hilfsmittel eingestellt. Vielleicht ist das aber auch bei jedem anders.


    Dir weiterhin alles Gute und auf einen guten Austausch.

    Rent

    9

    In the Chambers

    Ich bin eigentlich nur hergekommen, um meine Tafel mit meinen Berechnungen abzuwischen, meine Unterlagen einzusammeln und dann für immer zu verschwinden.
    Ich habe die vergangenen Erlebnisse sacken lassen und frage mich, was mir der ganze Mumpitz bringen soll. Meine Energie, die sich nach der Trennung von IHR wieder aufzubauen scheint, möchte ich nicht für endlose und nicht zielführende Debatten verbrauchen. Auch werde ich den Eindruck nicht los, dass hier einige wiederum eben ihre Energie aus diesen oft gleichen Debatten ziehen. Jedem wie es beliebt, für mich ist hier Schluss.
    Ich wische meine Formeln weg, schreibe noch ein paar Abschiedsworte, die vielleicht flapsig klingen, aber es überhaupt nicht sind, auf meine sonst leere Tafel und bin im Begriff zu gehen.

    Als ich meine Sachen in einen zerfledderten Karton einpacke, bei dem ich mir Sorgen mache, dass er die nächsten Meter heil übersteht, nähert sich eine Frau mit dunkelblonden Haaren, die wie einige andere hier auch so einen grauen Drillisch ähnlich einer Uniform trägt. Ich muss sagen, dass sie darin gar nicht mal schlecht aussieht. Zumindest wirkt sie darin nicht wie eine Gefängnisaufseherin. Manche Menschen können eben alles tragen. Ich denke, dass hängt sehr damit zusammen, wie man sich selbst sieht und an das glaubt, was man macht, besser gesagt, was man ist.
    Sie überfliegt meinen Text und schaut mich samt meinem lapprigen Karton an, dessen Unterseite sich schon unheilschwanger biegt.
    Ich will ihr gerade mitteilen, dass es nicht nötig ist, mich wieder zu belehren, da ich sowieso im Begriff bin zu gehen. Sie kommt mir zuvor und sagt, dass sie es schade findet und dass manche hier anfangs Startschwierigkeiten hatten und es eben für den einen oder anderen etwas Zeit braucht, um sich hier herein zu finden.

    Es ist das erste Mal hier unten, dass ich ein Minimum an echter Empathie spüre. Ich fühle mich das erste Mal ein klein wenig in meiner Person angenommen, ohne das Gefühl zu haben, mich für jeden Satz rechtfertigen zu müssen. Sie wird auch diejenige sein, die mir einige Zeit später bei meinem endgültigen Ausstieg noch ein paar wohlwollende Worte mitgibt und die Tür offenhalten will, was aber kurz darauf nicht mehr gehen wird.
    Ich finde es wirklich schade, dass nicht prozentual mehr Leute ihres Schlages vertreten sind. Sie empfiehlt mir, erst einmal meine Unterlagen hier zu lassen, vorerst nur zu beobachten und die Formeln anderer zu lesen. Und falls ich Bock habe, meine Berechnungen einfach später weiterzuführen.
    Ich teile ihr mit, dass ich das Fortführen meines Rechenweges gerade eben in dem hier herrschenden Umfeld sehr schwierig empfinde und mich nur unnötig Energie kosten würde. Ich bedanke mich aufrichtig und will samt meinem Karton die Situation verlassen. Aber da der zerfledderte Karton sowieso keine 5 Schritte mehr aushält und es meinerseits nur ungeschickt und hilflos wirken könnte, wenn mein ganzer Krimskrams sich beim Gehen verteilt, setze ich ihn vorsichtig ab und lasse ihn zumindest erst einmal hier auf meinem Platz stehen.

    In einem der vielen Vorräume, in denen man sich privat unterhalten kann, treffe ich diesen Tyler. Da wir beide von dem hier vorherrschenden Klima wenig überzeugt sind, kommen wir sehr einfach ins Gespräch. Er erzählt mir von seiner Zeit mit IHR und wie er es geschafft haben will, mit Hilfe eher unorthodoxen Formeln einen aus seiner Sicht besseren Lösungsweg aufzustellen, der für ihn bis jetzt erfolgreich zu funktionieren scheint.
    Ich schaue mir seine Unterlagen an und stelle fest, dass ich viele Gleichungen von der Herangehensweise ähnlich gelöst habe. Manche Formeln habe ich auch stehen lassen oder anders berechnet. Aber mich bestärkt, dass sein Rechenweg, dessen Gleichungen zum Teil ähnlich wie meine bewältigt wurden, zu funktionieren scheint.

    Eines der Hauptaugenmerke seiner und meiner Berechnungen liegt nicht auf der ständigen Identifikation mit der ewigen Krankheit, die ohne Frage eben durch die lange Verbindung und Trennung von IHR erfolgt und hier immer wieder propagiert wird, sondern eher auf einer Erlösung, einer Befreiung von selbiger. Mir ist zweifellos bewusst, dass die körperliche Verbindung mit IHR sofort wieder die Krankheit, diese alte Liebe, entflammen lassen würde
    Aber solange das nicht so ist, betrachte ich mich als gesund. Auch finde ich dieses Damoklesschwert des ewigen Krankseins und einem etwaigen Wiederaufleben der Beziehung mit IHR eher beängstigend und versuche nach vorn, auf mein neues Leben zu schauen.
    Daraus folgend liegt der Fokus nicht auf einem Rückzug aus dem Leben, Flucht und ständiger Alarmbereitschaft vor IHR, sondern eher auf der wunderbaren Freiheit des Lebens ohne IHRE Gegenwart.
    Beim weiteren Vergleichen stelle ich fest, dass sich der Rechenweg in anderen Sachen deutlich unterscheidet. Tyler legt ein großes Augenmerk auf seine eigene Stärke, seine Willenskraft und Entschlussfreudigkeit, sein Durchhaltevermögen und Ziele, was auch stark an körperliche und sportliche Aktivitäten gekoppelt zu sein scheint. Für ihn liegt ein sehr großer Fokus auf der eigenen Entscheidung und der damit einhergehenden Entscheidungsfreiheit.
    Aus meinen Erfahrungen habe ich aber diese Entscheidungsfreiheit zum Schluss nicht mehr wirklich gehabt. Zumindest hatte ich dieses Durchhaltevermögen, was in den früheren Jahren nie ein Problem darstellte, zum Ende kaum noch.
    In mir war eher eine Verzweiflung, überhaupt nicht mehr den Willen für eine Entscheidung und das folgende erforderliche Durchhaltevermögen zu besitzen.
    Manchmal kam es mir vor, als ob sich mein altes verletztes, bitteres Ego in zwei Teile gespalten hätte.

    Der eine Teil wollte von Herzen IHRE Gesellschaft loswerden, schien aber zu schwach und wurde durch mich und von IHR unterdrückt. Es war der Teil von mir, den ich nie annehmen wollte und früher immer wieder versucht hatte, ihn mit IHRER Hilfe zu verbiegen und zu verändern.

    Der andere Teil schien stärker, selbstbewusster, zielsicherer zu sein, war aber im Nachhinein gesehen, vollkommen von IHR abhängig.
    Mir kam es so vor, als würde dieser sogenannte stärkere Teil in mir mit viel eitler Willenskraft und vorgegaukelter Entscheidungsfreiheit den Torwächter spielen wollen, ließ sich aber dabei unbewusst von IHR steuern.
    Eine wirkliche Entscheidungsfreiheit habe ich deshalb in mir nicht mehr gesehen.

    Ich kann das insgesamt schlecht beschreiben, aber durch das Erkennen meiner eigenen Unfähigkeit, meiner Ausweglosigkeit, kam es zu einem Aufgeben dieses vermeintlich starken Teils und allem Stolz in mir. Dadurch kam wieder dieser Teil in mir zum Vorschein, den ich jahrelang mit IHRER Hilfe unterdrückt hatte, mein wirkliches Ich.
    Aus leidvoller Erfahrung weiß ich aber auch, dass sich dieser Zerbruch nicht einfach produzieren oder reproduzieren lässt, sondern sehr stark mit Leidensdruck, Verzweiflung und Ausweglosigkeit einhergeht. Aus eigenen früheren Erleben weiß ich auch, dass gerade bei einem Wiederholungsversuch sofort wieder dieser vermeintlich starke Teil in mir auftauchte. Der Teil, der sich immer mit übersteigerter Selbstwahrnehmung einbildete, alles im Griff zu haben. Der Teil von mir, der wieder den Torwächter spielen wollte, aber auf Dauer nie wirklich zuverlässig war. Letztendlich lief das zumindest bei mir stark auf Kampf und Durchhalten hinaus.

    Ich werde erst später feststellen, dass Teile dieses Lösungsweg wahrscheinlich auch von den Anonymen Arithmetikern genutzt werden. Aus meiner Sicht besteht aber der Unterschied in unseren Formeln darin, dass die Anonymen Arithmetiker ihre Unfähigkeit an eine höhere Macht, die eher von außen zu kommen scheint, abgeben und ich meine Unfähigkeit an den vermeintlich schwächeren Teil in mir abgegeben habe. Vielleicht ist das aber auch das gleiche, ich weiß es nicht genau.
    Aber da aus meiner Sicht die Anonymen Arithmetiker ebenfalls sehr auf ihrem eigenen Rechenweg beharren, der zwar ohne Frage recht erfolgreich zu sein scheint, sehe ich dort wieder diese Dogmatik dahinter, die mir persönlich widerstrebt.

    Aber zumindest hat mir diese Herangehensweise bis jetzt gut geholfen.
    In alten Unterlagen, die wahrscheinlich viele vom Namen her kennen, aber die meistens niemand gelesen hat, habe ich für mich einige Parallelen entdeckt. Zumindest ist mir nachträglich eine Gleichung aufgefallen, in der es darum geht, die alte Lebensformel aufzugeben und sie damit neu zu gewinnen. Da aber diese Rechnung Verzicht und Ödnis impliziert, habe ich wissentlich nie versucht, diese Formel auf die Beziehung mit IHR anzuwenden.

    Wiederum behaupte ich auch nicht, dass meine Lösungsansätze die einzig Richtigen sind und mir liegt es mehr als fern, andere damit zu bekehren.
    Gerade im Gespräch mit Tyler wird mir bewusst, dass jeder Mensch eine andere Sichtweise auf Grundlage seiner Prägung und Erfahrung entwickelt. Und da jeder Mensch anders ist, gibt es natürlich auch unterschiedliche Beziehungen zu IHR, die sich in Dauer, Intensität, Kontext und Rahmenhandlung vollkommen unterscheiden.
    Und daraus folgend kann es durchaus möglich sein, unterschiedliche Rechenwege mit kurzen oder längeren Formeln anzuwenden.

    Ich habe durch meine Prägung und Vorgeschichte gelernt, relativ sensibel Menschen und Situationen einzuschätzen.
    Wie mir durch den Disput mit dem Mann im schwarzen Anzug und seinen Anhängern, dem Gespräch hier im Moment mit Tyler, aber auch in vielen anderen Situationen immer wieder bewusst wird, sind wir alle sehr schnell dabei, Regeln und Glaubenssätze aufzustellen. Im Prinzip ist das keine schlechte Sache und zumindest sind Regeln notwendig, damit dieses verrückte Leben hier auf unserer schönen Erde wenigstens teilweise funktioniert.
    Ich sehe aber eine große Gefahr des Dogmatismus und der Intoleranz in der Behauptung oder der Proklamation des eigenen Lösungsweg als die einzig zielführende Methode und die damit einkehrende Erwartung, dass dieser Weg von jedem eingeschlagen werden muss.
    Aber mir ist natürlich bewusst, dass ich genauso schnell im Aufstellen von Glaubenssätzen, Schubladen, Kategorien und der damit einhergehenden Kritik und Selbstkritik bin. Nur habe ich erst durch den Trennungsakt von IHR erfahren, dass manche Glaubenssätze eher kontraproduktiv sein können. Mir ist bewusst geworden, dass mein Leben ohne diese Dogmen viel besser funktioniert und ich wieder zu dem Mensch werden kann, der ich wirklich bin. Diese Gedanken beziehen sich natürlich nicht nur auf die Herangehensweise im Umgang mit IHR, sondern prinzipiell auf meine Sicht auf das Leben.

    Da ich so vertieft in meine Gedanken und Reflexionen bin, nehme ich den kleinen dicken Buddha, der uns wahrscheinlich schon eine Weile zuschaut, erst nach einiger Zeit wahr. Wie das manchmal so ist, erschrickt man unter Umständen beinahe, wenn man nicht erwartet hat, dass sich noch eine Person schon lange in der Nähe befunden hat. Little Buddha, der wahrscheinlich nie etwas sagt und die Welt vermutlich immer nur in seinem achtsamen Langmut betrachtet, sieht mich in dem Moment sogar etwas ernster, einen Tick durchdringender an. In seinem sonst so gelassenen Blick meine ich diesmal auch etwas von verborgenem Schmerz wahrzunehmen, welchen ich primär erst einmal seiner vergangenen Beziehung mit IHR zuordne.
    Da ich auf Grund meiner Prägung lieber in freundlichere Gesichter schaue und hinter ernsteren Blicken eher Kritik und Strafe vermute, kann ich diesen Blick schlecht einschätzen. Vielleicht soll mich dieser Blick sogar ermutigen, vielleicht auch nicht, ich bin mir in dem Moment nicht wirklich sicher.

    Als ich mich Tyler zuwenden will, um seine Reaktion auf diesen Bademantelmönch abzuwarten, scheint dieser schon gegangen zu sein. Hätte er ja wenigstens mal etwas sagen können, aber da hier unten die Gesetze von Raum und Zeit anders zu funktionieren scheinen, nehme ich es ihm auch nicht übel. Ich nehme es auch meinem Bademantelmönch nicht krumm, der sich jetzt wohl ebenfalls aus dem Staub gemacht hat. Ich wundere mich nur, wie er es immer schafft, aufzutauchen und wieder zu verschwinden, ohne mit seinen quietschenden Badeschlappen aufzufallen.
    Wahrscheinlich hat er wie ein Ninja oder Zen-Meister geheime Kampfkünste oder Skills drauf. Aber da hier unten Raum und Zeit sowieso keine große Rolle spielt, mache ich mir darüber keine weiteren Gedanken, verlasse ebenfalls den Eingangsbereich und trete erstmal ins Freie.


    . . .


    1994 Balaton Baby - Never Ending Summer

    Eine sehr hübsche junge Ungarin bringt uns Kaffee und wir bestellen Palatschinken zum Frühstück. Ihre blauen Augen passen wunderbar zu diesem strahlend blauen Morgenhimmel und dieser geilen nimmermüden Sonne, die den Vormittag in ein goldenes Licht taucht und alles beinahe ein kleines Stück verzaubert wirken lässt.

    Seit ich regelmäßig mein neu entdecktes Tonikum einnehme, wirkt es so, wie manche Momente in der Kindheit vor langer Zeit, nur dass sich die Farben und Intensität jetzt fast noch etwas kontrastreicher präsentieren.
    Es erinnert auf eine Weise an einen sonnigen Morgen an einem freien Samstag früh oder den Anfang der großen Ferien, wo wirklich alles in Ordnung schien. Es ist so, wie nach einer herrlich entspannten Nacht frei und ausgeschlafen aufzustehen und du vorher schon weißt und spürst, dass heute ein wunderbarer Tag wird.
    Es sind auch Momente, wo das Licht dem entspannten und aufmerksamen Beobachter wunderschöne Details der Umwelt preisgibt, die im normalen, leicht gestressten Zustand kaum wahrnehmbar sind. Durch diese Wahrnehmung, die ich später leicht verändert auch mit anderen Betäubungsmitteln haben werde, ist es leicht, alle Dinge mit Liebe zu betrachten und beinahe zu erfassen, dass ich ein Teil von all dem bin. So ist es beispielsweise einfach, eine abgewrackte alte Holztreppe, die zu einem verlassenen Dachboden führt, nicht als abgenutztes Skelett zu sehen, sondern kleine Details, wie die Maserung des Holzes oder das wunderbare Spiel von Licht und Schatten wahrzunehmen. Und bei all dem eine Nähe, eine Verbundenheit zu spüren, als würde ich wirklich dazugehören, als wäre ich wirklich dabei, als wäre ich ein Teil von dieser Welt, als wäre es meine Welt. Es fühlt sich an, als würde beinahe Leben, vielleicht sogar ein Gott oder was weiß ich, in all dieser Materie, in dieser Welt stecken.
    Es sind MEINE GOLDENEN MOMENTE, denen ich nun auf vollkommen falschem Weg hinterherlaufe und sie meistens nie auf Dauer behalten werde.
    Es ist die Suche nach dieser angenehmen, erfüllenden Wahrnehmung und Serenität, für die später meine Gesundheit, Umfeld, sozialer Status und Beziehungen an untergeordnete Stelle stehen werden. In mir wird sich festsetzen, dass ich unfertig bin und das Leben ohne Droge nur trist, öde und schwer zu ertragen ist, aber sich alles mit Hilfe einer externen Chemie wunderbar einfach in Einklang bringen lässt. Mir wird sich verankern, dass sich meine Sinne und Emotionen in einen Zustand bewegen lassen, der nichts mehr mit der zuvor gekannten Tristesse zu tun hat.
    Ich werde diese Momente auch noch später erleben, aber sie werden nicht mehr die Kraft haben, über die triste Realität meines Lebens und die Folgen des Missbrauchs hinwegzutäuschen.


    Zur Zeit betrachte ich aber eher die ganz und gar nicht triste ungarische Bedienung, die mich mit ihren blauen Augen und ihrem offenherzigen, einnehmenden Wesen und vor allem ihrer offenherzig zur Schau gestelltem Oberweite doch sehr einnimmt und mich beinahe ein ganz klein wenig schüchtern werden lässt.

    Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich mir nicht sicher, ob mein Tonikum damals noch früh durch meine Venen floss oder in der Nacht schon abgebaut war.
    Ich hatte noch nicht dieses verzweifelte Gefühl in mir, schon beim Aufstehen zu wissen, dass der Alkohol noch in potenter Menge durch meine Adern rauscht. Ich hatte noch nicht die Angst in mir, in den Spiegel zu schauen und ein blasses, verquollenes Gesicht mit geröteten, gereizten Augen zu sehen, was mir vollkommen fremd war und welches ich gehasst habe. Ich hatte noch keine Angst vor dem kommenden Tag, vor Weltschmerz und Minidepressionen.
    Ich war damals durch die tägliche Einnahme meines Tonikums einfach nur megaentspannt, wahnsinnig gut drauf und die beste Version von mir selber.


    Aber kommen wir zurück zu offenherzigen zur Schau gestellten ungarischer Weiblichkeit und leicht latententer deutscher Schüchternheit.
    Dafür gibt es nämlich überhaupt keinen Grund, weil gestern wirklich ein geiler, beinahe epischer Abend war.
    Meistens hängen wir abends erst einmal auf so einer Art Platz an einem Brunnen ab, wo sich scheinbar alle treffen. Wir haben sogar schon vereinzelt Bekannte aus der Heimat begrüßt, die hier ebenfalls Urlaub machen und Abfeiern wollen. Die ganze Atmosphäre ist natürlich viel geiler als in dieser grauen, miefigen Kleinstadt zu Hause, wo jede Gruppe die andere argwöhnisch beäugt, versucht eine Schwäche zu finden um sich selbst zu inszenieren.
    Vielleicht liegt es aber auch nur an mir, wie ich diese Welt mit der Brille meines neu entdeckten Tonikum betrachte und das auch ausstrahle. Man bekommt halt eben immer zurück, was man gibt, oder so.
    Zur Zeit habe ich aber gerade Sandro und Burghardt wahrscheinlich in irgendeiner Techno-Disco zurückgelassen und gebe mir mit ein paar Ösis die Kante, mit denen ich weitergezogen bin. Kennengelernt habe ich diese Alpia-Athleten, die wirklich wie die Clone von Arnold Schwarzenegger aussehen und wahrscheinlich voller Steroide stecken, bei einem deutsch-österreichischen Erfahrungsaustausch über Red Bull.

    Da seinerzeit die Verbreitung von alternativen Fakten oder Geheimwissen noch recht eingeschränkt war, musste man sich darauf verlassen, was man eben vom Hören-Sagen mitbekam. Es war in der Zeit noch nicht möglich, mit einer zuverlässigen, verifizierten Quelle aus dem Netz die geheimen News zu validieren oder besser gesagt, die eigene Meinung zu bestärken. Man musste einfach glauben, was dir irgendein Kumpel oder auch Aufschneider erzählt hat.

    Damals ging das Geheimwissen unter den Eingeweihten herum, dass im österreichischen Red Bull Zutatenmengen verwendet wurden, deren Dosen in Deutschland laut Aussage von Insidern illegal waren.
    Nach dem nicht verifizierten Fakt war in einem österreichischen Red Bull vermutlich Koffein von sage und schreibe mindestens einer Tasse Kaffee und nicht nur einem Tässchen wie in Deutschland. Vom Taurin ganz zu schweigen, die Alm-Öhis brauchten wahrscheinlich keine Steroide mehr, um sich in der Mucki-Bude ordentlich aufzublasen, sondern mussten wahrscheinlich nur ihren, in Deutschland natürlich illegalen, Red Bull oral injizieren.
    Nachdem wir die Sache aufgeklärt haben oder besser gesagt, ein Ösi mit den Worten: “I hob ka Idee, des is doch ollas dasselbe” natürlich nur von der Tatsache ablenken will, dass wir Deutschen wieder mal zu kurz kommen, ziehen wir in unserer deutsch-österreichische Truppe durch das ungarische Nachtleben.

    Ich kann mich noch an meine graue Welt früher erinnern, als ich eher am Rand des Geschehens stand oder lieber in der Gruppe bei meinen Kumpels war und nie wirklich aus mir herausgegangen bin. Von ein paar tumben Besäufnissen mit lallendem Verlust der Muttersprache und dem Einbüßen jeglicher Koordination des Bewegungsapparates mal abgesehen. Aber diesem Rausch habe ich niemals nachgetrauert.
    Da ist jetzt dieser feine und edle Drive, welchen ich wahrscheinlich durch den Rauchstopp und vielleicht auch durch einen kompletten Wechsel meines Umfeldes erzielt habe, eine vollkommen andere Liga, ein ganz anderer Level.
    Ich hätte mir früher nie vorstellen können, dass ich mit dem Alkoholpegel von mindestens 2 Flaschen Wein noch relativ klar im Kopf, cool und witzig sein kann. Aber es ist vor allem diese andere Wahrnehmung, die mich alles in einem wunderbaren Licht betrachten lässt. Diese Empfindung, die mir unendlich gut tut, mich für alles empfänglich macht und mich auf jeden Menschen ohne Scheu zugehen lässt.

    Auf unserem herrlich berauschten Trip treffen wir noch ein paar Slowaken-Mädels, die seltsamerweise recht gut deutsch können. Als die Sprache auf Autos kommt, erzähle ich etwas von einem Mercedes, obwohl wir mit einem Fiat Uno unterwegs sind. Naja zumindest war es kein Tatra oder Skoda, also nur halb geflunkert. Natürlich biete ich den Mädels an, sie morgen mal auf eine Spritztour mitzunehmen. Wahrscheinlich glaube ich in dem Moment selber, dass der Fiat zum Mercedes gemorpht ist.
    Ich merke, dass die eine Slowakin nicht ganz uninteressiert an mir ist und ich finde sie ebenfalls nicht ganz uninteressant. Da aber die koffein- und tauringedopten österreichischen Hochgebirgsbewohner weiterziehen wollen und es damals keine Handynummern gab, belasse ich es dabei, ein vages Date für die nächsten Tage mit ihr auszumachen.

    Außer einr wirklich geilen, sehnsüchtigen Grunderinnerung, die das vergangene Bild beinahe zu einem bunten Bollywood werden lässt, nur das ich vielleicht nicht so choreographiert getanzt habe, kann ich rückblickend den Verlauf des folgenden Abends nicht mehr in jedem Detail rekonstruieren.

    Ich weiß nur noch, dass ich in irgendeiner Disco Sandro und Burghardt wiedergetroffen haben muss und viel später noch mit einem deutschen Mädel unterwegs war, dass ich, Kavalier wie ich nun einmal bin, später noch “nach Hause” gebracht habe und erst nach einer sehr langen und innigen “Verabschiedung” im Morgengrauen wieder auf dem Zeltplatz aufgetaucht bin. Das sind so Abende, von denen man lange zehren kann.

    Nun zehren wir gerade von unseren Palatschinki und dieser hübschen Bedienung, die uns denselben gerade mit einem Lächeln serviert hat. Nach so einer erfolgreichen und hormonabbauenden Nacht fühlt man sich wie ein kleiner König und nimmt das Lächeln der hübschen Ungarin gerne an, ohne gleich krampfig mehr dahinter zu erwarten und sich selber bestätigen zu wollen. Es fühlt sich an, als wären wir ein kleines Stück miteinander verbunden, obwohl jeder in seiner eigenen zufriedenen Welt lebt, dem anderen seine lässt und es nicht nötig hat, dem anderen dazwischenzukrampfen.

    Da Burkhardts eher kleines, verkrampftes Herz wahrscheinlich gestern seinen Red Bull nicht richtig vertragen hat und Unzufriedenheit und Neid immer mal gerne zum Sticheln verleiten, kommen natürlich Spitzen wegen gestern Nacht.
    Ich hätte mich gestern wieder über die Maßen weggeballert, warum ich denn immer so saufen müsste, natürlich wäre das Mädchen, mit dem ich gestern Abend abgezogen bin, überhaupt nicht sein Fall gewesen, für ihn viel zu jung und überhaupt…bla bla bla.
    Ich frage ihn, welches Mädchen denn sein Fall gewesen wäre, wahrscheinlich keins, da ich ihn hier und auch sonstwo noch nie groß mit einem Mädchen gesehen habe. Ich stelle ihm noch die rhetorische Frage, ob er schon einmal darüber nachgedacht habe, welchen Fall denn er aus der Sicht eines Mädchen darstellen könnte. Eigentlich will ich ihm noch Aesops Fabel vom Fuchs und den Trauben unter die Nase reiben, aber ich bin nach dieser Nacht eigentlich viel zu entspannt und ruhe in mir selbst, als dass ich noch auf dieses Neidgestänker groß eingehen werde. Außerdem befürchte ich, dass Burghardt in seinem gekränkten und neiderfüllten Zustand den tieferen Sinn meiner Worte und der Parabel sowieso nicht versteht.

    Sandro hält sich aus diesen Kindergartenspielchen relativ heraus, was für ihn spricht. In mir wächst die Hoffnung, dass Burghardt sich zumindest an ihm ein Beispiel nehmen könnte und nicht mehr wie ein gekränktes Vorschulkind daherkommt. Das würde sich vielleicht auch für ihn positiv auswirken und somit könnte er endlich mal jemanden finden, der oder die eben sein Fall sein könnte. Aber wahrscheinlich gibt es wenige, die auf kleinlichen Perfektionismus, permanente Kritik und schlaue Reden stehen, somit wird es sehr schwer für ihn werden, soviel dazu.

    Ich frage mich wirklich manchmal, mit welchem Recht sich Burghardt anmaßt, mir vorzuschreiben, wie und was ich etwas zu machen habe. Ich lasse ihn doch auch zufrieden.
    Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass man sich immer mit Leuten umgibt, mit denen man sich identifiziert und die teilweise auch ähnliche Charaktereigenschaften haben, die man an sich selber nicht unbedingt schätzt.
    Ok, damals gehörte es beinahe zum guten Ton, dem Kumpel die neueste Eroberung madig zu machen, vor allem wenn man vorübergehend selbst keine hatte. Es hängt mit dem Gefühl der Benachteiligung zusammen, dass es vielleicht dem anderen ein Stück besser gehen könnte und man temporär weniger Glück beim anderen Geschlecht hat. Gerade mit meinen sogenannten Freunden Matze und Hendrik, mit denen ich mich schon länger auseinander gelebt hatte, war es immer Ziel gewesen, den oder die anderen als Loser dastehen zu lassen und somit ein klein wenig von sich selbst abzulenken zu können. Unter den Blinden ist halt der Einäugige König und kann sich für einen Moment überlegen fühlen.
    Aber gerade am Beispiel Burghardt merke ich, dass ich mir damit nur selber im Weg stehen würde und dass ihm, aber auch mir, ein etwas fairerer Sportsgeist deutlich besser zu Gesicht stehen würde. Mir wird auch klar, dass es vollkommen unnötig ist, von meiner Seite noch einmal nachzutreten, weil ich mich damit genau auf die Basis begebe, die mich selbst ankotzt.

    Und so bezahle ich, lächele die Kellnerin an, die mir zurücklächelt, und gehe zur Liegewiese am Strand. Dabei mache ich noch einen kleinen Abstecher zu einem der nahen Kioske, dessen Besitzer mich schon beinahe persönlich kennen muss und mir jedes mal ungefragt ein Bier aus der Tiefkühltruhe hinstellt, was immer herrlich kalt ist. So kalt, dass es beinahe kurz auf der Kehle schmerzt, bevor dieser angenehme Saft über die Speiseröhre schön kühl in mein Innerstes fließt und alles zu stillen scheint, wonach ich in meinem Leben schon so lang gedürstet habe.
    Ich wische die Kondenstropfen von der Flasche, studiere das ausländische Etikett, welches sich durch den Kondensvorgang schon leicht ablöst und schaue über den Balaton, den die noch morgendliche Sonne in ein fast goldenes Licht taucht. Ich nehme einen tiefen Schluck dieses Getränks, welches mich so wunderbar zu verändern scheint und resümiere über den gestrigen Abend.
    Das Leben ist einfach schön.

    Hallo Mojo,

    vielen Dank für dein Feedback, ich freue mich, dass es von dir gern gelesen wird.

    Mir macht das Schreiben der Geschichte recht viel Spaß. Ehrlich gesagt kommen auch einige Sachen aus dem tiefsten Keller hoch, über die ich mich manchmal selbst wundere. Für mich ist das aber auch eine gute Möglichkeit, mit vielem aus der Vergangenheit abzuschließen bzw. sogar Frieden zu schließen. Gerade durch den heutigen Abstand ist es möglich, die Dinge und sich selber mit einer Spur Humor + etwas Ironie relativ neutral und ohne die damaligen Emotionen zu betrachten. Und so ensteht eine andere Sichtweise, die ich als recht positiv erlebe.

    Ja, es ist alles recht sequenzartig gehalten. Ich versuche trotzdem einen Hauptstrang durch die Geschichte ziehen zu lassen, der eben die Erinnerungen an die Zeit ab ‘94 bis … mehr oder weniger chronologisch abbilden soll und nebenher immer wieder ein paar Nebensequenzen einzubauen.

    So ist zumindest der Plan. Naja, schauen wir mal. 😅 Aber ich freue mich wirklich, dass es gefällt.


    VG zurück und einen guten Start ins WE

    Rent

    Ich habe mal parallel zu meiner Geschichte “Golden Moments” begonnen, ein paar Erlebnisse oder eher Blickwinkel aus meiner jetzigen nüchternen Sicht aufzuschreiben. Im Prinzip würde das auch ganz gut bei den “Golden Moments” mit hineinpassen, aber chronologisch könnte dadurch vielleicht alles doch etwas unruhiger werden.


    Also mache ich das mal an dieser Stelle separat, vielleicht wird ja sogar mal eine bunte Pinnwand daraus, wo der eine oder andere je nach Lust und Laune etwas beisteuert. Muss aber auch nicht sein.


    Ich habe das Ganze wieder etwas leicht ironisch und ein klein wenig augenzwinkernd geschrieben. Gerade diese leichte Ironie hilft mir ganz gut, Momente in meinem Leben zu verarbeiten und das Leben und mich selber nicht immer so “bierernst” zu nehmen.

    Falls Namen von privaten Personen auftauchen sollten, sind das natürlich nicht die echten Namen, sondern wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.


    Los geht's…


    Köln, Lanxes-Arena, Depeche Mode World-Tour, April 2024

    Auf dem Weg zum Event laufe ich an einem fliegenden Getränkehändler vorbei, der linkerhand an einer Häuserecke eine Art Stand aus Bier- und Getränkekisten aufgebaut hat. Bier, Alkopops, wahrscheinlich auch alkoholfrei, was hier bestimmt niemand weiter ordern wird. Vielleicht auch doch, ich betrachte eben die Geschichte immer nur aus meinem Blickwinkel und alkoholfrei fand ich auf solchen Events nur Zeit- und Geldverschwendung. Noch ein kurzer Blick aus dem Augenwinkel und dann lasse ich diesen Verkäufer samt seiner Ware, die früher immer ein zuverlässiger Garant für gute Laune war, im wahrsten Sinne des Wortes links liegen und schenke seinen überteuerten Flaschengeistern keine weitere Aufmerksamkeit.

    Sowas juckt mich schon lange nicht mehr und war auch früher nur der Notbehelf. Gerade dieses Low-Level-Trinken, ewig lang für einen überteuerten Tropfen auf dem heißen Stein anstehen und eventuell wieder vor der Zeit auszunüchtern, war nervig und anstrengend.
    Opioide oder auch andere Schmerzmittel mit einem leichten Retardeffekt waren da schon eher mein Ding. Es war schon etwas anderes, wie ein kleiner König stundenlang gelassen über den Dingen zu stehen und zuzuschauen, wie sich der gemeine Pöbel für ein Glas überteuertes Krabbelwasser oder ein 0,4l Dünnbier anstellen musste. Es war nicht nötig, wie ein Ottonormal-Festivalbesucher am Verkaufswagen geldscheinwedelnt und gestresst, Sichtkontakt mit einer überforderten Aushilfskraft aufzunehmen, um dann verzweifelt zuschauen zu müssen, wie die Becher mit 0,38l statt 0,4l Inhalt übergeben wurden. Nur weil die studentische Saisonalkraft keine Zeit oder Lust hatte, auf das Setzen der Schaumkrone zu warten und das Getränk entgegen der vereinbarten Füllmenge übergab. Aber woher soll er auch wissen, dass in so einer Situation jeder Tropfen zählt.

    Vor ein paar Jahren hatte ich bei einer Freiluft-Theatervorführung unverschämtes Glück gehabt, als sich nach ein paar überteuerten Bieren im 0,4 Plastikbecher herausstellte, dass der Wein nur in großen Flaschen verkauft wurde. Da meine Begleitung kaum mehr als ein paar Schlucke abverlangte, hatte ich diesen wunderbaren Rotwein mit über 14% fast für mich alleine.
    Ich kann mich noch an diesen schönen Sommerabend erinnern, an dem fast noch 30 Grad herrschten und sich alles beinahe mediterran anfühlte.
    In dieser Atmosphäre erschuf ich mir meinen eigenen Sommernachtstraum, der von dieser goldenen untergehenden Sonne und diesem rotgoldenen Himmel in einer wunderbaren Farbpalette eingerahmt wurde.
    Die eigentliche Interpretation von Shakespeares Werk war zwar an sich auch nicht schlecht, wenn auch für meinen Geschmack etwas experimentell, aber da meine Sinne unter dieser wunderbar wohligen Decke steckten, hätte ich sogar weit künstlerische wertvollere oder experimentierfreudigere Werke als dieses angeschaut. In diesem verzauberten Zustand fällt es wunderbar einfach, alles zu akzeptieren und positiv aufzunehmen.

    Es ist auch etwas anderes, als sich bei einer Pflichtfeier Verwandte oder Bekannte “schön” zu trinken oder schwelende Konflikte kurzzeitig vergessen zu können.
    Es ist dieses Mittendrin sein, den Menschen, den man liebt an seiner Seite und die Flüssigkeit, die man man nicht weniger verehrt, in seiner Blutbahn und ausreichender Menge in Reserve zu wissen. Es fühlt sich an, wie ein Stück Geborgenheit und die weiche, warme Decke des Rausches lässt beinahe die latente Schuld und die Angst vor dem nächsten Tag vergessen.
    In dieser fast verzauberten Atmosphäre fällt es wunderbar einfach, alles und vor allem sich selbst wohlwollend zu reflektieren und der Mensch zu sein, der man gerne sein will.


    Aber entzaubern wir nun jetzt wieder diesen wunderbaren, weichgespülten Sommerabend, vergessen das in der Vergangenheit erlebte und kommen zurück in das aprilhafte und eher kühle Köln des Jahres 2024.

    Es ist dieses Gefühl der Fremdheit, dieses nicht wirklich Dazuzugehören und ein latentes Gefühl der Minderwertigkeit und inneren Leere, was ich ab und an noch habe, wenn ich mit ungewohnten Umgebungen, Situationen oder fremden Menschenmassen konfrontiert werde. Es kommen jahrzehntealte Gedanken hoch, dass ich mich besser anpassen müsste, irgend etwas tun müsste, um auch ein Teil der soeben fokussierten Menschenmenge zu sein.
    Kurzzeitig taucht auch der melancholische Gedanke auf, für immer dieses Hilfsmittel, das es noch vor ein paar Schritten an der Ecke für ein paar Euro gab und auch an jeder kommenden Ecke geben wird, aufgegeben zu haben.

    Nur habe ich jetzt dieses Hilfsmittel nicht mehr und gehe so wie ich gerade bin, oder eher wie ich mich gerade fühle, unter diese feiernden, trinkenden und wartenden Menschenmassen. Es ist ein Annehmen der Situation oder eher ein Annehmen der Emotionen und Gedanken, die mit dieser Situation einhergehen. Es ist ein Aufgeben meines sogenannten starken Teils in mir, welcher nie genug bekommen konnte, immer sediert werden wollte und immer nach Bestätigung gesucht hatte. Welcher nur damit beschäftigt war, sich krampfhaft ums eigene Wohlfühlen, den eigenen Kick zu kümmern, immer auf seine Art herausstechen, glänzen und bei jedem Anlass dazugehören wollte.
    Aber gerade dieses innere Aufgeben, die Situation und mich aus der Hand zu geben und einfach geschehen zu lassen, was eben geschieht, gibt mir die nötige Ruhe und das Selbstvertrauen zurück.

    Als wir den Einlass passiert haben, steht im Foyer ein eher tragikomischer Typ mit auf dem Rücken geschulterten Bierfass, Signal-Fähnchen und Zapfarmatur und hält beinahe verzweifelt zwei Plastikbecher in die Luft um diese zu füllen und feilzubieten. Wahrscheinlich will dieser Typ, der mich mit seiner runden Brille und seinem zerknitterten Basecap ein klein wenig an einen Umweltaktivisten oder Kleingärtner ohne Latzhose erinnert, so schnell wie möglich seine Last loswerden. Vielleicht hat er aber einfach nur Angst, dass die Kohlensäure in Verbindung mit schnellen, ruckartigen Bewegungen wie eine Bombe oder eher wie eine Wasserrakete explodieren könnte. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum der arme Kerl sich nicht von der Stelle traut. Es dauert nicht lange, bis ihm ein Kollege mit Migrationshintergrund und baugleicher Ausrüstung zu Hilfe eilt. Nur scheint dem neuen Kollegen die Gefahr ein paar Schritte vor der Rettung des Kollegen bewusst geworden zu sein und er steht nun ebenfalls in leichter Schockstarre und mit zwei erhobenen Plastikbechern da. Da er die lebensgefährliche Situation überspielen will, macht er wohl das, was er am besten kann: Er lächelt die vorübergehenden Besucher einfach leicht verzweifelt an und hält die zwei Plastikbecher in die Höhe.

    Ich stehe mit einem gehörigen Sicherheitsabstand leicht an eine Säule gelehnt und betrachte das Geschehen. Ich will mich gerade fragen, ob es denn unbedingt nötig ist, noch mehr unschuldige Passanten in die Gefahrenzone zu locken und es nicht konsequenter wäre, wenn diese beiden sich heldenhaft für die vielen anderen arglosen Besucher opfern würden. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: “Das Grabmal der beiden unbekannten Bierkellner, hier in Köln, in der Lanxes-Arena! ”

    Aber es kommt ganz anders. An die Säule gelehnt, merke ich, wie zufrieden ich gerade mit mir bin und in mir ruhe. Ich muss nicht krampfhaft jeden Strohhalm oder eher jeden Bierkellner nehmen. Ich muss mich nicht krampfhaft in einer Schlange anstellen, um schon vorher zu wissen, dass die Dosis sowie nicht über den Abend reichen wird. Ich muss nicht während des Konzertes an mir im Weg sitzenden und leicht genervten Leuten schuldbewusst vorbeischlängeln, um mir den nächsten Tropfen auf dem heißen Stein zu holen. Ich muss nicht mehr versuchen, den Rausch, der durch die Gegebenheiten sowieso nur suboptimal gestartet wäre, krampfhaft aufrechtzuerhalten.

    Durch dieses Ruhen in mir ist auch das Gefühl weg, krampfhaft unbedingt hier dazugehören zu wollen und es lässt mir Zeit, die Situation und mich in Ruhe betrachten zu können.
    Ich muss an die unzähligen Male denken, als ich in ähnlichen Situationen noch mein Tonikum ungeniert benutzt habe und trotzdem nie zufrieden mit mir war.
    Und gerade in diesem Moment an der Säule spüre ich eine wirkliche Zufriedenheit und Stärke in mir. Es ist so, als hätte ich jahrzehntelang etwas erlebt oder auch durchgemacht, wovon die meisten hier keine Ahnung haben, niemand wirklich die ganze Düsterkeit, Verzweiflung und verrückten Wahnsinn kennt. Es fühlt sich an, als wäre ich sehr lange Zeit im Dunklen immer tiefer von mir weggetaucht und hätte es in letzter Minute noch geschafft, wieder zum rettenden Licht nach oben zu schwimmen.
    Es kommt sogar ein leichter Stolz oder eher Trotz hoch, der sagen will, “Kommt ihr erst mal in meine Lage und erlebt das, was ich erlebt habe, dann hättet ihr eine andere Sicht auf die Dinge”. Vielleicht ist das auch nur ein Stück Narzissmus oder Eitelkeit von mir, aber es ist das, was ich jetzt im Moment gerade brauche. Ich bin im Moment beinahe stolz, trockener Alkoholiker zu sein. Soweit ist es also schon gekommen. Naja, auf das T-Shirt drucken werde ich es trotzdem nicht. Aber allemal noch besser, als diese latente Scham und dieses Versteckspiel.
    Es ist ein Annehmen des Lebens, ein Annehmen von dem, was ich eben gerade bin oder dem, zu was ich geworden bin. Ob aus eigenem Verschulden, einer Laune des Schicksals oder schon vor Beginn der Geschichte unabwendbar, mag dahingestellt bleiben. Es ist eben, wie es ist.

    Von meinem Platz an der Säule beobachte ich die vorbeiziehenden Leute im schwarzem Ledermantel oder atmungsaktiver Outdoor-Funktionsjacke. Da viele Fans und Besucher meinen Altersdurchschnitt widerspiegeln und einigen ihr Alter oder besser gesagt, ihr Leben anzusehen ist, frage ich mich, was wohl der eine oder andere für eine Lebensgeschichte bis jetzt hinter sich hat. Vielleicht bin ich ja auch mit meiner Alkohol- und Drogensucht gar nicht so schlecht davongekommen und jammere auf hohem Niveau, wer weiß das schon genau.

    Wir haben uns relativ zeitig an unseren Plätzen niedergelassen und da ich mich nun nicht mehr um kontinuierlichen Getränkenachschub kümmern muss, bleibt noch genug Zeit, um dem stetigen Füllen dieser riesigen Arena zuzuschauen. Aus meiner Perspektive erscheinen manche Treppenaufgänge wie senkrechte Tritte, auf denen Ameisen hin und her krabbeln. Da ich nie ein großer Fußballfan war, wirkt schon dieses Stadion auf mich sehr gigantisch, beinahe wie ein riesiges Raumschiff oder eine andere Welt. Aber es ist schon interessant, wie sich die Arena mit der Substanz namens Mensch füllt und nach und nach jeder Platz besetzt wird.

    Nach einer Vorband, die keiner kennt und meiner Ansicht nach für das im Schnitt eher reifere Publikum etwas unglücklich gewählt wurde, kommen die großen Stars meiner Kindheit und Jugend auf die Bühne. Ich hatte Depeche Mode schon einmal 1993 auf einem Open-Air Konzert erlebt, nur dass wir damals in einer Ecke standen und die Band, falls denn mein Vordermann mal den Kopf eingezogen hatte und einen kurzen Blick zur Bühne freigegeben hatte, wie Ameisen wirkte. Ich habe keine wirklich gute Erinnerung an diese Zeit, die aber auch mit anderen damaligen Problemen durchwachsen war.

    Nun ist es ganz anders. Nachdem zwei Musiker, die ich nicht kenne und wahrscheinlich der Ersatz für den verstorbenen Andrew Fletcher oder auch den schon vor Ewigkeiten ausgeschiedenen Alan Wilder sein sollen, die Bühne betreten, lassen sich Martin Gore und Dave Gahan kurz danach auch nicht mehr lange bitten.
    Ich bin eigentlich ein relativ emotionaler und begeisterungsfähiger Mensch, habe mir aber meine Emotionalität und Begeisterung durch viele vergangene Lebensereignisse eher abgewöhnt. Man könnte das auch Selbstschutz nennen.
    Aber es fühlt sich schon gut, beinahe episch an, als die beiden Briten unter der Beschallung ihres typischen, eher düster-schweren Depeche Mode Sounds die Bühne betreten.
    Auf der großen Videoleinwand und beinahe in echt, fällt mir auf, wie alt die beiden geworden sind. Ich muss daran denken, wie ich als 13-15 Jähriger den Bravo-Postern hinterhergerannt bin, die wohl vor über 35 Jahren viele Kinderzimmerwände geschmückt hatten. Es war auch die Zeit oder auch kurz davor, als Nikotin, Alkohol und alles andere in mein Leben traten. Aber es ist auch eine Zeit, an die ich mit gemischten Gefühlen zurückdenke, die nicht nur oder weniger mit den Drogen zu tun haben.
    Mir fällt auch auf, wie fertig oder eher wie gezeichnet die beiden Musiker aussehen. Dave Gahan muss nun schon mehrere Jahrzehnte clean sein und Martin Gore trinkt ebenfalls seit vielen Jahren nicht mehr. Irgendwie hatte ich erwartet, dass die beiden etwas frischer ausschauen. Wahrscheinlich fordert so ein Rockstar-Leben wohl so oder so seinen Tribut.
    Aber was ist schon einfach auf Gottes schöner Erde und welcher Spaß fordert nicht doch irgendwann seinen Tribut ein?
    Es sind diese kleinen Momente wie jetzt, die alles andere, was uns sonst noch bewegt, tangiert, triggert und bohrt, kurzzeitig vergessen lassen und den Fokus auf das Hier und Jetzt legen.

    Dave legt los, als hätte er ‘96 keinen Herzstillstand nach einer Überdosis Heroin gehabt und Martin spielt genauso cool wie früher, als würde er nichts mehr von Panikattacken und andauernden Alkoholmissbrauch wissen. Die beiden haben es natürlich drauf, wie man eine Show macht und das Publikum mitnimmt. Gerade Dave kokettiert mir für sein Alter fast eine Spur zu viel mit dem Publikum, aber wer bin ich, der über das Idol meiner Jugend richten könnte.
    Es sind auch diese Songs und der Sound, die ich als Kind oder Jugendlicher immer und immer wieder gehört habe, die sich beinahe eingebrannt haben und jetzt ein Stück jahrzehntealte Erinnerungen ins Hier und Heute transportieren. In mir wird sich aber jetzt auch das Bild einbrennen, wie Dave es schafft, das gesamte Publikum zum Ende mit seinen Armbewegungen zu steuern oder sich in der Masse zu spiegeln.

    Diese homogene Bewegung der Menschenmassen unter dem typischen Sound der Briten wirkt beinahe surreal und stellt ein episches Ende der Performance dar.
    Und es ist das zweite Konzert seit Jahrzehnten, das ich ohne Alkohol oder sonstige chemische Wohlfühler erlebe. Und es fühlt sich wirklich gut an. Es ist im Prinzip so wie früher, als ich es noch nicht nötig hatte, mir vor jedem Event eine externe Chemie durch die Blutbahn zu jagen und ich wegen der Musik, der Atmosphäre und den Leuten hingegangen bin. Es ist schön, wieder Herr über sich selber und seine Sinne zu sein. Es tut gut, das Ereignis vollkommen zu erleben. Es entspannt, nicht mehr mit der Beschaffung der Droge, krampfhafter Aufrechterhaltung des sinkenden Alkoholspiegels oder Überdosierung beschäftigt zu sein.

    Es ist auch ein Annehmen meiner derzeitigen Emotionen und meines Lebens, was ich jetzt ohne den Rausch erlebe.


    Auf der Heimfahrt werden wir weit nach Mitternacht und kurz vor unserem Ziel noch in irgendeinem Kaff von einer Batterie Polizisten angehalten, von denen sich scheinbar noch einige in der Ausbildung befinden. Der freundliche Jung-Polizist fragt mich nach Führerschein und Fahrzeugpapieren, die ich ihm minimal nervös und etwas genervt aushändige. Warum eigentlich, ich habe nichts zu verbergen und er macht auch nur seinen Job, führt seinen Auftrag aus.
    Als er noch den Kofferraum geöffnet haben will, um Warnweste, Warndreieck und Verfallsdatum des Sanikasten auf das Genaueste zu überprüfen, bin ich fast erleichtert, dass beim Öffnen die Helme und Skateboards meiner Kinder lustig hin und her kullern. Ich bin unschuldig, Herr Wachtmeister, ich habe weder Drogen im Kofferraum noch in meiner Blutbahn!
    Da ich nun aber nicht wie früher von Schuldgefühlen und ängstlichen Abschätzungen meines Rest-Alkoholspiegels im Blut geplagt werde, kann ich mir die Frage nicht verkneifen, aus welchem Grund denn die akribische Verkehrskontrolle weit nach Mitternacht denn nötig sei. Da er wahrscheinlich nicht sagen darf oder will, dass es sich nur um eine Übung für die Azubis handelt oder reiner Zeitvertreib ist und somit die ganze amtliche Bedeutungschwere der Sache verloren gehen würde, erwidert er ausweichend, dass wir eben die Zweiten wären, die sie heute Nacht angehalten haben. Natürlich ist das nicht die Antwort auf meine Frage und um weiteres peinliches Schweigen zu vermeiden, wünscht er uns einfach eine gute Fahrt.
    Ich wünsche ihm eine gute Nacht und fahre nüchtern und in Freiheit ein Stück weiter meinem neuen Leben entgegen.

    8

    In the Chambers

    Als ich auf dem Weg zu meiner Tafel bin, merke ich, dass in der Nähe ein großer Disput oder eher ein Tumult stattfindet. Ich erkenne den Typen in der karierten Tweed-Jacke samt Ellenbogen-Patches wieder, der sich mit einigen anderen, die hier unten scheinbar schon sehr lange verweilen, beinahe streitet. Ich sehe auch wieder diese Unmengen von Zuschauern, die stumm das Geschehen verfolgen. Es wirkt für mich wie eine aufwendige Inszenierung mit Schauspielern in einem riesigen Odeon. Auch sehe ich den kleinen dicken Buddha wieder, der hier in seiner unerschütterlichen Gelassenheit und Ruhe und mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln die Lage wertneutral zu betrachten scheint, wie Buddhas das eben immer so machen. Manchmal wünschte ich mir, dass ich ebenfalls die Welt ohne große negative Emotionen und vor allem ohne Wertung betrachten könnte.

    Beim Näherkommen erkenne ich auch diesen Mann im dunklen Anzug wieder, der mir bei meiner Ankunft schon aufgefallen ist. Er und andere führen gerade ein Streitgespräch mit diesem Typen, der hier wild kritzelt und kurz davor zu sein scheint, seine Papiere, Berechnungen und Unterlagen in die Luft zu schmeißen und wütend und aufgebracht davonzustürmen.
    Da es so wirkt, als würde sich hier unten immer wieder alles verändern, frage ich mich, wohin seine Schriftstücke fliegen würden, da sich wohl auch die Schwerkraft den wechselnden Verhältnissen anpassen muss.
    Vermutlich würde es interessant aussehen, aber dazu kommt es vorerst nicht.

    Tyler, ich nenne ihn einfach mal so, weil hier unten Namen eigentlich keine Rolle spielen und sich jeder seinen eigenen x beliebigen Namen geben könnte, kritzelt einfach weiter wütend und laut diskutierend irgendwelche Berechnungen an seine Tafel, dass ich mir Sorgen um Tafel und Stift mache. Beim kurzen Drüber schauen sehe ich, dass seine Berechnungsansätze meinen nicht ganz unähnlich sind, aber sich der Rechenweg in Teilen manchmal überschneidet oder auch abweicht.

    Der Mann im dunklen Anzug steht bei diesem Tyler und versucht, bei jeder neuen Formel korrigierend, beinahe aggressiv verneinend einzugreifen. Wie, als würde er unbedingt verhindern wollen, dass die Gleichungen und Rechenwege, welche nicht mit seinen eigenen übereinstimmen, von anderen gelesen, geschweige denn angewendet werden könnten.
    Ich frage mich, warum das nötig sein soll, da meiner Ansicht nach jeder die Wahl haben sollte, zu entscheiden, welchen Lösungsweg er benutzen möchte. Meinem Empfinden nach geht es doch darum, einfach den besten Weg für sich zu finden und vielleicht nur einige Lösungsansätze der anderen zu übernehmen. Vielleicht auch gar nichts, vielleicht aber auch alles. Oder im Umkehrschluss auch die eigenen Formeln aufzeigen, aber dem anderen immer die Wahl und den nötigen Freiraum lassen.

    Ich betrachte, wie viele andere hier, eine Weile stumm das Geschehen.
    Das Gehabe dieses Mannes und seine unerschütterliche Engstirnigkeit, die keine andere Meinung neben seiner duldet, ruft in mir eine starke Abneigung hervor und bündelt meine zuvor schon erlebten Eindrücke. Zumal ich denke, dass es ihm zum großen Teil nur um die Bestätigung seines eigenen Rechenwegs geht.

    Ich frage mich, warum das Auftreten dieses Mannes in mir so eine Aversion erzeugt. Eigentlich könnte ich die beiden doch einfach weiter streiten lassen und mir in Ruhe das Schauspiel anschauen.
    Aber es ist dieser Dogmatismus, mit dem ich noch nie gut zurechtgekommen bin. Zumal der Mann meiner Ansicht nach eine relativ schlechte Beweisführung seines Rechenweges darlegt. Sein Hauptargument liegt einfach nur darin, dass er IHR mit Hilfe seiner Formel eine lange Zeit widerstanden hat. Aber er hat, um seinen Rechenweg umsetzen zu können, viele Variablen aus der Formel und vor allem aus seinem Leben entfernen müssen. Vermutlich mussten er und andere hier genau diesen Rechenweg wählen, weil ihnen keine andere Wahl blieb.

    Ich werde aber auch den Eindruck nicht los, dass dieser Mann, der sich wahrscheinlich stark aus dem Leben zurückgenommen hat und bestimmt sehr viel aufgeben musste, diese Lösung nun auch von jedem anderen erwartet, um damit nicht allein zu stehen und um die eigene Rechnung validieren zu können.
    Das kann aber auch nur mein persönlicher Eindruck sein, weil ich die Leute hier kaum kenne.

    Diese Dogmatisierung, die ich hier immer wieder wahrnehme, erinnert mich in gewisser Weise auch an eigene Glaubenssätze aus vergangenen Zeiten, wo ich es mir sehr schwer gemacht habe, mich aus den damit einhergehenden Strukturen zu lösen.
    Aber wie damals bei mir, ist das Festhalten an den Strukturen für manche vermutlich ein großer Halt. Ich vermute, dass sich hier viele und vor allem auch dieser Mann mit aller Kraft an ihren Glaubenssätzen und Rechenwegen festhalten wollen, um die Hoffnung und den Glaube nicht zu verlieren.

    Ich kenne SIE natürlich und habe in unserer langen gemeinsamen Zeit immer wieder IHR wahres Wesen sehr gut kennenlernen müssen. Ich weiß, dass SIE sich nie einfach wegschicken lässt, sondern eine sehr stolze und starke Geliebte war, die auf IHRE Weise immer treu bleiben will und IHR vermeintliches Recht immer einfordert.
    Ich kenne auch das Leid und den Trennungsschmerz, den SIE immer und immer wieder verursachen kann. Ich weiß von den Erlebnissen und auch der Angst, die Beziehung zufällig oder geplant wieder aufleben zu lassen. Ich kann daher nachvollziehen, dass aus diesen Gründen für manchen nur noch ein Rückzug oder eine vorübergehende Abkehr vom Leben übrig bleibt.
    Nur hat eben dieser komplette Rückzug bei mir nie gut funktioniert, da es durch die Trennung von IHR zu einer Einsamkeit kam, welche durch die Abkehr vom Leben nur noch intensiviert wurde. Zusätzlich kam noch hinzu, dass SIE, in der Welt wo ich lebe, niemals wegzudenken gewesen wäre. SIE ist doch diejenige, die den meisten Menschen immer freundlich zulächelt und ihnen den Trost und die Freude spendet, die wir alle so nötig haben. Wiederum können viele Menschen SIE nach einem kurzen Flirt einfach wieder loslassen. Nur ich und viele andere hier unten können das eben nicht.


    Der Tumult wird immer lauter, da sich jetzt auch viele andere Personen auf die Seite dieses älteren Mannes stellen und es beinahe aussieht, als würde die Sache eskalieren.
    Ich gehe näher zum Ort des Geschehens und sehe, wie der Mann immer wütender wird, zumindest deuten seine immer lauter werdende wütende Stimme, die pochenden Adern auf der Stirn und die rote Gesichtsfarbe darauf hin. Er erinnert mich ein klein wenig an einen Oberlehrer, der merkt, dass er die Kontrolle über seine Schüler verliert und deshalb mit übertriebener Strenge gegen die Disziplinlosigkeit vorgeht und dafür noch mehr Spötteleien erntet. Da er auch ein starker Raucher zu sein scheint, kommen bei mir Bedenken über seinen Blutdruck und die damit einhergehenden Folgen. Ich frage mich, ob hier unten überhaupt eine medizinische Versorgung möglich wäre. Wiederum kommt in mir immer wieder die leichte Ahnung hoch, dass wir alle hier in dieser Umgebung nicht wirklich anwesend sind.

    Diesem Tyler scheint die angespannte und wütende Verfassung seines Gegenübers nichts weiter auszumachen. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, seine Argumente energisch vorzulegen, obwohl der Disput in eine Richtung geht, die meiner Ansicht nach keinen Sinn mehr macht.
    Der ältere Mann fängt jetzt an, Formeln aus dem Kontext zu nehmen und sie immer wieder auf der einzigen Grundlage seines eigenen Rechenweges und seinen Erfahrungen widerlegen zu wollen.

    Da ich mir das eine geraume Zeit angesehen habe, und mir dieses Schauspiel langsam zu bunt und bizarr wird, klinke ich mich seltsamerweise ein.
    Ich weise den Mann höflich darauf hin, dass ich viele Sachen aus einem anderen Blickwinkel betrachte und auch einiges anders erlebt habe. Zudem versuche ich, ihm klarzumachen, dass es doch in erster Linie um das Finden der besten persönlichen Lösungsstrategie in einem Austausch auf Augenhöhe unter erwachsenen Leuten gehen sollte. Ich sage ihm auch, dass ich das sture Beharren auf den eigenen Erfahrungen und diese als maßgeblich darzustellen, eher weniger bis überhaupt nicht zielführend halte.


    Die Reaktion, die ich erhalte, war mir im Vorfeld schon klar. Er fängt nun an, meine Gleichungen aus dem Zusammenhang zu reißen und wirft mir vor, dass ich nach vielen Jahren die Beziehung mit IHR wieder habe aufleben lassen. Ich gebe ihm Recht, da sich das auch nicht leugnen lässt. Ich weise ihn dann darauf hin, dass ich ja gerade hier bin, um eben diesem Rezidiv vorzubeugen. Des Weiteren versuche ich ihm zu erklären, dass es meine Intention ist, meine Rechnungen mit anderen zu vergleichen und eben den besten Lösungsweg für mich zu finden.
    Diese Worte hätte ich mir sparen können, weil dieser halsstarrige Mann, wie ich noch später merken werde, überhaupt nicht zuhört und nur auf seinem eigenen Weg beharrt. Seinen Weg, den er mit Ignoranz und der Beweisführung seiner eigenen Erfahrung immer wieder zu validieren versucht.

    Da auch der Chor und die Rufe der Anderen immer lauter werden, aber sich der Inhalt nicht ändert und mich die Debatte mürbe macht, lege ich ohne weitere vergebliche Worte meinen Stift in die Schublade, schließe ab und verlasse den Laden erstmal.
    Beim Gehen bemerke ich, dass sich der Mann und die anderen wieder diesem Tyler zugewendet haben, der wahrscheinlich die Energie besitzt, diesen Disput endlos weiterzuführen. Nur ich habe diese Energie zur Zeit nicht, da mir die letzte Trennung von IHR noch in den Knochen steckt.

    Kurz vor dem Ausgang begegne ich wieder little Buddha, diesem Bademantelmönch, der mich wieder mit seinem unendlich gelassenen Blick anschaut und in achtsamer Weise in seinen zerfransten Badeschlappen geerdet zu sein scheint.
    Wenn man selbst angespannt ist und mit seinem Frust nicht so recht wohin weiß, nervt so ein Blick leicht. Auch ist mir so, als wäre dieses kaum wahrnehmbare Lächeln eine Nuance deutlicher geworden. Er schaut mich beinahe etwas belustigt an. Ich schaue zurück, wie ich oft mit Leuten agiere, die ich nicht einzuschätzen weiß und mir im Moment nichts Besseres einfällt. Ich nicke ihm zu, presse meine Lippen etwas aufeinander und mache ich ein leicht entschuldigendes Gesicht, als würden wir uns kennen und würden beide die Lage insgeheim etwas durchschauen.
    Als sich unsere Blicke begegnen, ist mir für einen Moment so, als würden wir uns wirklich ein ganz klein wenig kennen und verstehen.


    . . .


    Um 2003 Memento Mori oder Jedem Anfang wohnt ein Ende inne

    Ich träume von einer Spieluhr, besser gesagt, ist mir so, als würde ich diese Spieluhr wirklich real spielen hören. Es klingt so, als würde die Walze immer langsamer werden, weil die Kraft der inneren Feder nicht mehr ausreicht, um diese kleinen Zinken, die über die Zapfen, die Kodierung der Walze schnippen und das Spiel der Uhr erzeugen, anzuheben. Beinahe klingt es auch so, als würde die Walze gerne weiter drehen wollen und diese kleinen Zinken versuchen, die Walze festzuhalten.
    Aber es ist die innere Feder der Walze, die keine Kraft mehr hat und dadurch einfach alles stehen bleibt.

    Ich höre die Stimme meines Bruders, der mich von draußen über das angekippte Fenster meines Schlafzimmers ruft. “Rent!...Bist du da?!...Wach auf, Rent!” Obwohl ich ihn wirklich real höre, ist es mir so, als würde ich noch träumen, aber seine Stimme schiebt die Unwirklichkeit des Halbschlafs immer mehr beiseite und macht der Realität Platz, die nun gleich folgen wird.
    Er sagt, er hat schon einige Male geklingelt, aber ich habe es nicht gehört. Er sagt, dass unser Opa gestorben ist.

    Eigentlich war es schon länger klar, dass mein Opa nicht mehr das ewige Leben für sich gebunkert hat. Er hatte schon lange Probleme mit der Lunge, irgendwie auch ein recht schwaches Herz und hat sich mit seinen 73 Jahren dahingeschleppt, als wäre er schon 93 oder älter.
    Er hat bis zum Ende seines Lebens geraucht, zum Schluss immer nur mal eine Zigarette angemacht, ein paar Züge genommen und dann wieder ausgemacht. Wahrscheinlich hatte er selber Schiss, dass das die letzte Zigarette sein könnte. Vielleicht war es da auch schon zu spät, vielleicht hatte es auch überhaupt keine Rolle gespielt, ob er nun sein Leben lang geraucht hat oder nicht. Wer weiß das schon genau. Zumindest hatte meine Oma in der letzten Zeit immer sehr aufgepasst, dass er nicht mehr “zu viel” raucht.
    Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich als Kind oder Jugendlicher ihm immer mal eine oder zwei Zigaretten aus seiner Packung stibitzt habe, die ich mit ein paar Kumpels dann heimlich rauchten.

    Ich kann mich auch noch erinnern, wie wir die erste offizielle Zigarette zusammen rauchten, da war ich wahrscheinlich um die 15 Jahre oder älter. Meine Großeltern wussten oder vermuteten zumindest ganz stark, dass ich rauchte, aber das wäre ein großes Drama geworden, falls sie mich offiziell erwischt hätten.
    Aber als er mir die erste Zigarette angeboten hat und wir zusammen geraucht haben, hat sich das sehr gut angefühlt. Als wäre ich jetzt endlich ein Mann und habe diese anstrengende Kindheit hinter mir.

    Ich weiß auch noch, wie ich und meine damalige Freundin viele Jahre später ab und zu meine Großeltern, die in einen anderen Teil Deutschlands gezogen waren, für einige Tage besucht und übernachtet hatten und wie immer ordentlich gefeiert wurde. Es gab damals jedesmal Becherovka, so einen tschechischen Kräuterschnaps, den ich mir seit meiner Zivi-Zeit in der Nähe der tschechischen Grenze angewöhnt habe und meiner Familie wahrscheinlich übergeholfen hatte.
    Ich kann mich noch daran erinnern, als mein Opa, der wahrscheinlich dachte, dass wir schon schlafen, nochmal in die Stube gewankt kam, um noch mal einen richtig tiefen und heimlichen Schluck aus der Schnapsflasche zu nehmen.
    Ich kann und konnte ihn sehr gut verstehen, denn ich habe das über die Jahre oft genau so gemacht.
    Ich kann es nachvollziehen, wie der gemäßigte Rausch nie gelangt hat und ich immer noch eins drauf setzen wollte. Immer noch ein Stück mehr, immer noch ein paar Schlucke vom Rausch bunkern, als würde morgen die Welt untergehen. Immer noch ein Stück mehr diese Sehnsucht füllen und nie an morgen denken.
    Ich kann das noch heute nachfühlen, wie ich damals dieses Gefühl genossen habe, was mit der oralen Einnahme einherging. Wenn dir das wohltuende Gift leicht brennend von der Kehle in den Magen rinnt, dort alles erwärmt und von dort aus in jede Zelle deines Körpers weitergeleitet wird. Wie die Droge zu greifen beginnt und dann für einige Zeit dieser wunderbare Frieden einsetzt und kurzzeitig die Sehnsucht gestillt war.


    Ich kann mich auch noch erinnern, als ich meinen Opa das letzte Mal getroffen hatte. Meine Großeltern waren seit langem mal wieder bei meiner Mutter auf Besuch und ich hätte damals auch noch das Wochenende mit ihnen verbringen können. Leider hatte ich aber schon anderes zu tun, was mit hippen Feiern und epischen Wegballern zu tun hatte.
    Ich weiß noch, wie wir uns damals verabschiedet hatten. Ich hatte ihm noch gesagt, dass er gesund bleiben soll, was eigentlich nur bedeutete, dass er nicht noch kränker werden möchte. Ich hatte ihm auch noch gesagt, dass wir uns bestimmt bald wiedersehen, aber eigentlich wussten wir beide, dass das eher nicht so bald ist und dass das hier eventuell das letzte Mal sein könnte.
    Manchmal hat man auch so eine Ahnung, die sich bestätigt, aber manchmal kommt es auch ganz anders.
    Ich bin dann abends auf eine Fete zu meinem Kumpel Matteo und am nächsten Morgen nahtlos auf so eine total sinnlose tagelange Dauer-Saufveranstaltung gegangen, die als Zelten oder Campen getarnt war.

    Aber gerade in solchen Momenten, wie damals bei der Verabschiedung meines Opas, fiel es mir immer etwas schwerer, wieder in diese andere, krassere Welt der Drogen und des Rausches einzutauchen. Ich weiß noch, wie ich am nächsten Morgen nach dieser feucht fröhlichen Fete meine Sachen zur nächsten tagelangen Saufveranstaltung gepackt habe und an meine Großeltern denken musste, die zur selben Zeit eben noch bei meiner Mutter zu Besuch gewesen waren und ich viel lieber bei ihnen, bei meiner Familie gewesen wäre. Auf der anderen Seite war ich manchmal auch froh, dort wegzukommen und wieder mein eigentliches Leben zu leben. Das ist schon manchmal alles verrückt.


    Nun sehe ich meinen Opa viele hundert Kilometer entfernt von seiner eigentlichen Heimat, in die meine Großeltern immer zurückkehren wollten, auf so einer Art Bahre in der Leichenhalle liegen. Er hat dieses gelb-weiß karierte kurzärmlige Hemd an, was er gefühlt immer anhatte und auf welches so eine Brusttasche aufgenäht war. In der Brusttasche hatte er immer seine Schachtel Zigaretten, mit denen er wahrscheinlich die letzten Tage sehr lange hingekommen ist. Die Oma wäre stolz auf ihn gewesen, nur leider kann sie es ihm jetzt nicht mehr sagen. Zumindest hört er es wohl jetzt nicht mehr.
    Vielleicht stecken in der Brusttasche sogar jetzt noch Zigaretten drin, aber ich schaue nicht nach.
    Es ist sowieso ein seltsames Gefühl, einen nahestehenden Menschen daliegen zu sehen, der sein Leben für immer ausgehaucht hat. Beinahe erwartet man, dass er die Augen aufmacht und sagt, dass er uns nur alle veräppelt hat.

    Als wir die Leichenhalle verlassen, organisieren mein Bruder und ich noch Bier oder auch den guten alten Becherovka, was wir dann unter viel Lobhudelei auf dem Balkon der Wohnung meiner Oma auf unseren verstorbenen Opa trinken und auf ihn anstoßen.

    Und wie damals, als ich und meine damalige Freundin meine Großeltern immer wieder mal besucht, und wir lange und spät in die Nacht mit Becherovka gefeiert hatten, fließt jetzt wieder dieses wohltuende Gift durch meine Adern und dringt in jede Zelle meines Körpers ein. Und wie damals erzeugt diese Substanz, die in mir so viel Unheil, aber auch so viel Glück erzeugt hat, wieder ein warmes glückliches Gefühl, gepaart mit guten alten Erinnerungen, einem Gefühl der Geborgenheit, der Heimat und des Trostes. Und dieses Gefühl legt sich wie eine Decke über den Schmerz und die Trauer, welcher jeder Mensch in seinem Leben zu ertragen hat.


    Nacht

    Ich bin kein besonders religiöser Mensch, aber ich glaube auch nicht, dass das Innerste eines Menschen einfach so verloren gehen kann.
    Manchmal glaube ich auch, weil mir diese scheiß Sucht jeden Tag im Nacken sitzt und mich lenkt wie ein Puppenspieler seine Puppe, dass irgendein Dämon oder Alien aus unerfindlichen Gründen Teile meines Innersten gekapert hat. Und es scheint nun dieser Kreatur einfach Spaß zu machen, in meiner neuronalen Schaltzentrale lustig an verschiedenen bunt blinkenden Knöpfen zu spielen, wo manche die Aufschrift haben: BITTE NUR IM NOTFALL BERÜHREN!
    Auch werde ich lange das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld war, dieses Alien eingeladen zu haben.

    Auf dem ausgeklappten Gästebett meiner Oma, in der neben mir selig mein Bruder schnarcht, liege ich noch einige Zeit wach.
    Ich phantasiere in einer wunderbar sedierenden Wolke aus Bier und Becherovka im Wegdämmern dahin, wie mein Opa nun vielleicht seinen weiteren Weg antritt. Ich stelle mir vor, wie er dabei auch an meinem inneren Menschen vorbeigehen muss und mein Elend oder dieses Alien sitzen sieht.
    In meinem rauschhaften, minimal euphorischen Hirn keimt die verzweifelte Hoffnung, dass er vielleicht dieses Alien verscheuchen oder zumindest dieser fremden Spezies den Warnhinweis auf diesen bunt leuchtenden Knöpfen nahelegen kann.
    Wahrscheinlich hatte aber mein Opa genug mit seinem eigenen Alien zu tun, was er sein ganzes Leben mit sich herumtragen musste und wird nun froh sein, dass er es zumindest los ist.
    Kurz bevor ich in einen sedierten Schlaf falle, weicht die Hoffnung etwas der Gewissheit, dass mein Alien wohl weiter ungeniert, frisch und fröhlich meine Knöpfe drücken wird.

    Heute ist mir bewusst, dass sich nie ein fremdes Alien meiner Schaltzentrale bemächtigt hat, sondern dass ein Teil von mir, man mag es Belohnungszentrum oder auch Suchtgedächtnis nennen, zum großen Teil für diese verrückten Puppenspielereien verantwortlich war oder anders gesagt, die Fäden in der Hand hatte.
    Das Suchtgedächtnis bezieht sich auf die neurologischen und psychologischen Mechanismen im Gehirn, die mit meinem suchtbezogenen Verhalten verbunden sind. Ich habe aus verschiedenen Gründen suchterzeugende Substanzen konsumiert und mein Gehirn bildet daraufhin ein starkes Verlangen danach aus. Dies geschieht eben durch Veränderungen in meinen neuronalen Schaltkreisen, die mit Belohnung, Motivation und meinen Erinnerungen verbunden sind. Begünstigend kommen bei mir wahrscheinlich Vererbung, Gene, Vita und meine Prägung dazu.

    Wenn ich heute darüber nachdenke, wie verrückt und ferngesteuert sich das manchmal angefühlt hat, hätte man es manchmal beinahe glauben können, dass wirklich ein Alien an meinen inneren Hebeln gespielt hat.
    Es ist aber gerade die wissenschaftliche Erklärung, die mir den Halt gibt, den ich brauche. Das Wissen, dass eben auf Grund meiner Veranlagung, Prägung und Vita, suchterzeugende Substanzen es sehr viel einfacher hatten, um bei mir anzudocken.
    Ich bin verantwortlich für mein Leben, ohne Frage. Aber im Grunde sehe ich es im Ursprung nicht als meine alleinige Schuld, dass die Droge bei mir so gute Wachstumsbedingungen vorgefunden hat. Und mir nimmt dieses Denken das Gefühl der Schuld und auch das Gefühl des Fremdbestimmtseins und es stärkt den Teil in mir, der schon immer das nüchterne Leben gesucht hat.


    Heimkehr

    Nun ist unsere Familie in der ehemaligen Heimat meines Opas, welche auch meine Heimat ist, seit langem wieder einmal in Vollständigkeit zusammengekommen.

    Der Trauerredner kann nichts dafür. Als es um die Vorbereitung der Beerdigung ging, wurde ihm der volle Name meines Opas genannt: Karl-Heinz.
    Der Trost-Experte müht sich in gewohnter Professionalität ab, gibt alles, gibt sich betroffen, gibt sich theatralisch. Man hat beinahe den Eindruck, dass unser Trauerredner diesen Karl-Heinz selber sehr gut kannte, selber sehr bestürzt über dessen Tod zu sein scheint und scheinbar schon öfters mit diesem Karl-Heinz ein paar Bier über den Durst getrunken hat.
    …Nur leider hat niemand je im Leben meinen Opa Karl-Heinz genannt, sondern immer nur Heinz. Er war sozusagen immer nur der Heinz.

    Und da nun dieser fremde Mann da vorne immer wieder diesen fremdklingenden Namen benutzt, macht es die ganze Situation noch fremder, noch bizarrer.
    Meiner Mutter fällt die Schauspielerei von diesem gewerblichen Kondolenzverkünder wahrscheinlich auch schon auf, denn sie muss immer wieder tief und laut schluchzen. Vielleicht hat er seine Vorführung auch einfach nur sehr gut gemacht, Profis sind heutzutage schwer zu bekommen.
    Bis auf meine Oma, die so schwach und so entwaffnet wirkt und neben meiner aufgelösten Mutter sitzt, stehen alle anderen das Theaterstück unberührt durch und verziehen wahrscheinlich keine Miene. Allen voran mein Onkel, der sowieso nie eine Miene verzieht, auch nicht, wenn es was zum Lachen gibt.
    Mit dem Lachen habe ich auch gerade zu kämpfen, oder besser gesagt, mit dem Unterdrücken des Selbigen, weil es mir für diese Situation unpassend und pietätlos erscheint. Aber ich muss nicht lange dagegen ankämpfen, denn gleich wird aus meinem Lachen ein Weinen werden.


    …Ich muss an meine Kindheit mit meinen Großeltern denken, da ich die meiste Zeit bei ihnen verbracht habe und später auch in den Ferien und an den Wochenenden am liebsten dort war.
    Aber auch an die Zeit, als ich dann in diesem ländlichen Guantanamo meines nikotin-allergischen hypochondrischen Stiefvaters, inklusive seiner Helfershelfer, nämlich dem jähzornigen Stiefgroßvater und der süßlich falschen Stiefgroßmutter, interniert war.
    An die Wochenenden, wo ich so froh war, ab und zu dieser abweisenden Atmosphäre entrinnen zu können und wieder ein Stück alte Geborgenheit und Annahme zu spüren.

    Ich muss daran denken, wie wir beide in den Sommerferien oft zusammen Abendbrot gemacht haben und immer seine Bierflasche auf dem Fensterbrett nahe dem Kühlschrank stand. An diese süßliche Alkohol-Bierfahne, die ihn oft zu umgeben schien, aber mich nie gestört hatte, weil es ja mein Opa war und das eben so sein musste. Oder wie meine Oma manchmal von ihrer Schicht heimkam, nach dieser Fabrik roch und kontrollierte, ob er wieder zu viel getrunken hatte und es manchmal deswegen Ärger gab. Oder im Bad, wo er immer seine brennende Zigarette auf so einem alten, dicklackierten vergilbten Schrank abgelegt hatte und der dicke Lack des Schranks an dieser Stelle schon gelb vom Teer oder der Hitze der Glut war. Meine Mutter erzählte mir irgendwann mal, dass sie manchmal Angst hatte, dass er dadurch die Wohnung in Brand hätte setzen können.
    An die Bettmatratzen, die meine Oma manchmal zum Trocknen in die Sonne stellen musste, weil wohl in der Nacht ab und zu mal etwas umgekippt zu sein schien und die Betten scheinbar dadurch durchnässt waren.
    Ich muss an das alte Moped denken, was mein Opa mir zurechtgeschraubt hatte und was wir immer mit volkseigenem Waschbenzin betankt hatten, welchen er in alten abgeschrammten Kanistern aus seinem Betrieb abgefüllt und mitgebracht hatte.
    An seinen Werkstatt-Keller mit dem alten Röhrenradio und dem Harmonium, wo er mir eine kleine Werkbank mit Schraubstock zurechtgemacht hatte und sich immer wieder beschwerte, dass ich sein Werkzeug verramschen würde. Auch den Geruch dieses dunklen warmen Heizungsraums, die alten Heizungsrohre mit der abgebröselten Glas-Dämmwolle und wie er immer eine Bierflasche in so ein offenes Ausdehnungsgefäß mit warmen Wasser legte, um sie dann lauwarm zu trinken.

    Ich muss an die Steintreppe denken, die zum Keller führte und auf der ich manchmal für mich Ping-Pong gespielt habe. Ich muss an unseren Streit vor der Kellertür denken und wie wir dann danach beide weinen mussten.
    An diese leichten Kopfschmerzen nach dem Weinen, aber auch das befreiende Gefühl in den Augen, Stirn und im Bereich des Solarplexus, was man nach dem Heulen hat. Dieses befreiende gelöste Gefühl, was man als Erwachsener kaum noch kennt, weil man eben hart und tough für die Welt da draußen sein muss.
    Zumindest heule ich jetzt gerade in der Trauerhalle, also kann der Trauer-Showmaster seine Show doch nicht so schlecht gemacht haben und ist wohl sein Geld wert. Applaus spende ich ihm aber trotzdem nicht, weil man das wohl zu so einem Zeitpunkt nicht macht.



    Als wir auf dem Friedhof angekommen sind, treffe ich Freddy, ich weiß gar nicht mehr, wie er richtig heißt. Wir haben ihn immer Freddy (Krueger) genannt, nur dass er kein Hausmeister aus der Elm Street ist, sondern Bestatter oder Assistent eines Bestatters. Und, wie sich jetzt herausstellt, unserer Bestattung zumindest im Hintergrund beiwohnt.
    Ich kenne ihn noch von einer Clique, die gerne und oft feiern geht und wo ich mich ab und zu mal über meinen Kumpel Miro mit einklinke. Aber da dort immer ein etwas größerer Männerüberschuss herrscht und in deftiger Feierlaune immer gerne musikalisch bekundet wurde, dass “...ihnen KEINER die pure Lust am Leben nehmen kann…”, habe ich mich doch etwas zurückgenommen. Zumal es nach dem letzten Refrain auch passieren konnte, dass der eine oder andere fröhliche Sänger samt Bierglas schnell mal in irgendeine größere Zimmerpflanze umgekippt ist. Da ich in der Zeit doch etwas auf meinen Ruf geachtet habe, fand ich es eher kontraproduktiv, mich zu sehr mit dieser fröhlichen und musikalischen Männergruppe zu identifizieren, oder besser gesagt, zu oft mit ihnen gesehen zu werden. Das war selbst mir manchmal zu viel des Guten.

    Nun gebe ich Freddy die Hand und wir schauen uns (er)kennend, besser gesagt verstehend an. Sein Blick drückt wirklich verstehendes, echtes Mitgefühl aus.
    Ich kann mich kaum noch an die weitere Zeremonie erinnern, ich weiß nur noch, dass meine Oma so klapprig schien, dass sie links und rechts gestützt werden musste. Und so schwach, unsicher und so verletzlich wirkte und sie mir deshalb so unendlich Leid tat.
    Selbst mein Onkel, der sonst nie eine Miene verzieht und jegliche Kommunikation wie einen Angriff wertet und dementsprechend zurückschießt, taut jetzt für einige kurze Momente auf und wirkt sehr, sehr weich.

    Scheinbar braucht es im Leben immer erst eine Beerdigung, dass der Wirkliche, dieser kleine und verletzbare Mensch für einen kurzen Moment hinter seiner harten, versteinerten Schale hervorkommt.


    Nachruf

    Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich so dankbar, dass ich diesen Hafen bei meinen Großeltern gehabt habe. Ich hatte nie einen richtigen Vater und wenn ich nach meinem Vaterbild gefragt werden würde, sähe ich das Gesicht meines Opas ganz deutlich vor mir. Aber auch seine Zigaretten und Bierflaschen, die ihn vielleicht auch nie den sein lassen haben, der er wirklich in seinem Inneren war. Oder er hat, wie ich lange Zeit diese Beduselung genutzt, um sich und sein Leben eben besser ertragen zu können. Vielleicht war er aber auch einfach so mit seinem Leben zufrieden, wie es war.
    Vermutlich hat er jetzt schon lange den Frieden, den er wahrscheinlich früher immer mit seinem Bier und seinen Zigaretten hatte. Dieser Frieden, nach dem ich so lange mit Hilfe der Droge gesucht habe, aber ihn nie dadurch dauerhaft gefunden habe.

    Für mich geht es in der Abstinenz vor allen Dingen um Themen wie Balance und innerer Frieden…ich kann mich auch fit halten, ohne nen Triathlon zu laufen und ich kann auch gesund leben und trotzdem meine Schlickereien genießen. Create your best self impliziert für mich, dass ich so wie ich bin nicht in Ordnung wäre und das kreiert Druck. Den hab ich mir genug gemacht und der hat mich in den Suff geführt. Das Leben soll Spaß machen und den habe ich nicht, wenn ich stets ein besseres Ich meiner Selbst vor‘m inneren Auge habe. Ich sehe mich nicht als permanentes Verbesserungspotential, sonst komm ich ja nie zur Ruhe und haste wie eine Getriebene durchs Leben und irgendeinem Blödsinn hinterher. Dann bin ich in der Abstinenz auch nicht viel besser als im Suff damals. 🤷‍♀️ Balance, Ausgeglichenheit, Genuss und innerer Frieden sind meine Ziele,

    Ich finde mich in diesen Gedanken sehr gut wieder und würde meine Ziele auch so definieren

    Früher hatte ich ja mit Alk&Co versucht, "my best self zu createn" und mich nachher genau mit dem selben Mittel getröstet und sediert, weil es auf Dauer nicht so wie geplant geklappt hat.

    Ich denke, es geht in erster Linie darum, sich selbst anzunehmen und mit seinem Leben zufrieden zu sein, so wie es eben erst mal ist. Andererseits gibt es bei mir auch noch Dinge, die gerade durch den jahrelangen Alkolmissbrauch unterdrückt wurden und nun sukzessive wieder hervorkommen wollen. Für mich ist es auch eine große Motivation, jetzt das Leben zu leben, was mir die Sucht jahrelang weggenommen hat. Sozusagen ist in vielen Dingen noch Luft nach oben und gerade das ist eine Veränderung, die mir wirklich gut tut.

    Und ich brauche in dem Sinne auch ein Ziel, eine Vision, die mich vorwärts gehen (oder auch suchen) lässt. Wie ich mich jahrelang durch den Alkohol verbogen habe, merke ich mehr und mehr, wie jetzt der nüchterne Mensch, der eigentliche Mensch wieder zum Vorschein kommt. Und gerade das ist für mich eine große Motivation, sozusagen "My best self", was es vielleicht aus meiner Sicht gar nicht groß zu "createn" braucht, sondern vorher schon da war und nur zu finden gilt.

    Wiederum verstehe ich aber auch, dass mancher das in einer Art ganzheitlichen, körperlichen und/oder auch zum großen Teil sportlichen Veränderung sucht, sich neu definieren und Grenzen verschieben will. Und was ja auch eine große Motivation sein kann. Ich habe das vor Jahrzehnten mit dem Rauchen erlebt, wie geil sich das anfühlt, wieder wie ein normaler Mensch Luft zu bekommen und dass Sport wirklich Spaß machen kann. Und dass das ungemein pusht.

    Klar, es sollte auf keinen Fall in Richtung (Leistungs)Druck gehen oder dieses Schneller-Höher-Weiter Prinzip entstehen. Nach dem Motto: NUR wenn ich dies und das geschafft habe, bin ich wirklich gut und kann mit mir zufrieden sein.


    Es geht halt wie überall im Leben um eine gewisse Balance bzw. Ausgeglichenheit und einer u. a. daraus folgenden Zufriedenheit.

    Übrigens bin ich mit mir sehr zufrieden, dass ich jetzt nüchtern lebe. Ich habe sozusagen das Ziel erreicht, bin aber auch noch darüber, dieses Ziel immer weiter zu festigen/ auszubauen. Es wird halt nie langweilig :)

    Die Frage die ich Dir stellen möchte ist: Bist Du den angespannt?

    Nee, ich bin keineswegs angespannt. Ich war mal früher jeden Tag bis 17:00 sehr angespannt und habe mich dann kurzzeitig "entspannen" können. Bis eben diese Entspannung nicht mehr so richtig greifen wollte und nur für zusätzliche Anspannung gesorgt hat.

    Ich habe aber manchmal so einen Kumpel in mir, der mir von Zeit zu Zeit immer mal wieder gerne einreden möchte, dass ich doch meinem normalen entspanntem Zustand noch eins draufsetzen könnte. Gottseidank wird der aber immer leiser.

    Ich kenne das von früher, es beginnt mit einem ganz kleinen Gedanken, und wenn ich dann diesem Gedanken Raum gegeben habe, konnte es schon passieren, dass der Gedanke irgendwann Gestalt angenommen hat...

    Und mir hilft es manchmal, diesen kleinen Gedanken auszusprechen oder eben hier zu schreiben, weil er damit seine Heimlichkeit und somit seine Kraft verliert.


    Vielleicht lautet die Antwort auf meine Anregung aber auch einfach nur: Kann man nicht anders herleiten, der Flow / Rausch gewisser Substanzen ist halt einfach nett. Punkt. Und damit gefährlich.

    Kann man im Prinzip wirklich nicht anders herleiten. Und ich sag mal so, wenn ich nicht wüsste, wie Schokolade schmecken würde, hätte ich vielleicht auch weniger Ambitionen, dieses braune ungesunde Zeug zu essen. Aber wenn ich alles, was ich jetzt statt des "Zuckers" habe, in die Waagschale werfe, fällt es mir relativ leicht, auf "Schokolade" zu verzichten.


    Geheimtipp noch am Rande: Shakti-Matte wenn der Rausch drückt ;) Entspannt auch :)

    Kenne ich, habe ich und "leide" relativ regelmäßig auf so einer Akkupressur-Matte 😉👍

    Ich bin eigentlich schon immer der Meinung gewesen, dass ein erwachsener Mensch bei klaren Verstand das Recht haben sollte, sich dafür entscheiden zu dürfen, was er konsumieren möchte und was nicht. Im Wissen aller Risiken und Nebenwirkungen. Ich möchte auch nicht, nur weil ich ein SUCHT-Problem habe, dass Alkohol in allen Varianten aus dem Verkehr gezogen wird. Es gibt genügend Leute, die Alkohol wirklich bewusst genießen können. Nur ich eben nicht.

    Ich kann mich noch daran erinnern, wo vor Jahren ein bei mir gut wirksames Schnupfenmedikament stark reglementiert bzw. Menge und Zugang stark eingeschränkt wurde. Ich hatte mir damals gedacht, nur weil ein paar Idioten das zur illegalen Herstellung von Methamphetamin brauchen, muss ich jetzt jetzt das dreifache für einen Packung bezahlen und habe nur noch ein Drittel der ursprünglichen Menge enthalten.

    Wiederum ist es auch klar, dass es absolut keinen Sinn machen würde, wenn es Heroin oder Fentanyl bei Müller oder Rossmann zu kaufen gebe. Es gibt nun mal Drogen, die nehmen eben nicht, wie der Alkohol bei mir, einen Umweg über mehrere Jahre, sondern verlangen schon nach kurzer Zeit ihren Kredit mit Zins und Zinseszins zurück. Übrigens habe ich diese rasante Abhängkeit auch mit Nikotin erlebt, welches es ja wie Alk auch an jeder Ecke zu kaufen gibt. Aber egal, ich will hier keine Diskussion über Beschaffungs-Reglementierung anführen, ich bin auch schon als früher Jugendlicher zu meinen Zigaretten und meinem "Stoff" gekommen. Weil ich es eben wollte.


    Nun ist ja Cannabis vor kurzem mehr oder weniger legalisiert worden.

    Ich bin nie der große Weed-Enthusiast oder Grasliebhaber gewesen, wenn ich Pot geraucht habe, war ich dazu noch meistens besoffen und danach so breit, wie nach 3 Schachtel Kippen, einer Pulle Bermannsfusel und dem Verfolgen einer Bundestagsdebatte im Deutschlandfunk. Für mich war das nie erstebenswert.

    Aber als ich jetzt vor kurzem davon erfahren hatte, habe ich gemerkt, wie sich bei mir doch etwas (ganz leicht) zu regen anfing, nämlich die gute altebekannte (Sehn)sucht. Frei nach dem Motto: "Du hast das ja jetzt so gut mit dem Alkohol hinter dir, da könntest du doch ab und zu mal...dich ein ganz klein wenig entspannen...und ist ja jetzt auch legal.. und Hasch ist ja nicht so gefährlich wie der Scheiß Alkohol"...bla, bla..bla...

    Übrigens stand auch wieder sofort mein guter alter Suchtverlagerungs-Experte auf der Matte, als ich vor kurzem durch Zufall erfahren hatte, dass ein verschreibungspflichtiges Schmerzmittel wieder erhältlich ist, was vor einigen Jahren, wahrscheinlich wegen Missbrauch und Leberschäden aus dem Verkehr gezogen wurde. Und sofort kamen bei mir auch wieder die Gedanken, ...war ja damals schon ganz nice...und du warst damals so geil entspannt...und ist ja auch kein Alkohol, bli bla blub...


    NEIN, ich möchte meine Freiheit, meine Klarheit, meine beginnende Serenität und den Menschen, der ich wirklich bin, mit allen positiven und negativen Eigenschaften und Gefühlen, nicht mehr gegen einen kurzen Mini-Rausch eintauschen!

    NEIN, ich will nie mehr am nächsten Morgen halbverpeilt mit Schuldgefühlen aufwachen und dem Wissen und der Angst in meinem Kopf, meine Tore eventuell wieder für den nächsten Level geöffnet zu haben!


    Dafür ist mir das, was ich jetzt habe, viel zu wertvoll. Punkt.

    7

    In the Chambers

    Als der kleine dicke Buddha aus meinem Sichtfeld verschwindet und eine Wolke aus innerer Ruhe, Gelassenheit und Frieden mit sich nimmt und sich in ihr beinahe aufzulösen scheint, fühle ich mich kurzzeitig ein klein wenig einsam. Ich werde dadurch wieder an diese Serenität erinnert, welcher ich meinte, früher im Zusammensein mit IHR gefunden zu haben, aber nie wirklich fassen oder lange halten konnte.
    Aber wie ich an diesen für mich oft kaum erreichbaren Frieden denken muss, kommt mir auch die andere Seite dieses Bewusstseins in Erinnerung, welche ich weit besser kannte und zum Schluss durch SIE weiter verschlechterte.
    Es ist so eine Mischung aus Leere, Verzweiflung, Einsamkeit, latenten Schmerz, einem Gefühl getrennt, für immer verlassen worden zu sein.
    Es ist auch eine Wehmut, als hätte man für einen kurzen Augenblick wahre Geborgenheit, Liebe, Annahme, Heimat erlebt, um es im nächsten Moment durch die eigene Schuld wieder verloren zu haben. Diese Schuld, die gepaart war, mit der Scham, wieder und wieder versagt zu haben und der latenten Angst, diese Heimat nie wieder zu finden. Sozusagen, durch die eigene Schuld, diesen Ursprung auf immer und ewig verloren zu haben.

    Ich erinnere mich auch an die unzähligen geplanten Trennungsversuche von IHR, aber auch an die Momente, wo ich versucht habe, IHR bei Nacht und Nebel zu entfliehen oder ich SIE einfach vor die Tür gesetzt habe.
    Aber wie es eben immer in abhängigen Beziehungen zugeht, kann man nie wirklich lange voneinander lassen und zieht sich immer wieder an, egal wie groß der Schaden auch ist, der aus so einer toxischen Partnerschaft hervorgeht.

    Ich merke, wie durch meine Betrachtungen auch die gut konditionierten Ängste wieder in mir hochsteigen wollen, welche ich durch jahrelanges, hartes, aber auch erfolgreiches Training zur Perfektion gebracht habe. Diese Ängste, die mir immer wieder sagen wollten, dass sowieso alles zu spät ist und ich sowieso immer bei IHR bleiben werde. Dass es eben eine Laune des Schicksals oder eine biologische Anomalie ist und die einzige (Er)lösung darin besteht, mich einfach aufzugeben und mich für immer IHR und ihrem Liebesspiel zu überlassen. WIR beide sind eben füreinander geschaffen, warum soll ich dagegen ankämpfen und wieder und wieder verlieren.

    Im selben Moment fällt mir ein, dass diese Ängste überhaupt nicht mehr nötig sind, da diesmal etwas anders scheint.
    In mir hat eine Erkenntnis eingesetzt, die mit dem letzten verzweifelten Liebesakt mit IHR nach monatelanger sehnsuchtsvoller Trennung zusammen hing und der Ausweglosigkeit, SIE nie wirklich vergessen zu können.


    Ich war an einem Punkt der Verzweiflung angelangt, einem Zerbruch, der mich den Teil von mir aufgeben ließ, der nie genug von IHR bekommen konnte. Der Teil, der dieser Liebesbeziehung immer nachtrauerte und glaubte, niemals ohne SIE leben zu können. Der Teil, der immer glaubte, wenigstens SIE noch zu haben, obwohl SIE es ja war, von der ich mir alles wegnehmen lassen habe.

    Es war ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit, beinahe ein Aufgeben des alten Ichs, ein Aufgeben aller Lügen, allen Selbstbetruges und allen falschen Selbstschutzes.
    Es war wie ein Zusammenstürzen dieses Gebildes in mir, was ich, seit ich denken kann, mit IHRER Hilfe um mich selbst errichtet habe. Um mich zu heilen, mich zu schützen, mich und andere zu täuschen. Um vor mir selbst zu entfliehen.
    Und durch den Einsturz dieses Gebildes kam wieder das zum Vorschein, was so lange in mir brach lag, aber der eigentliche Kern in jedem Menschen ist.
    Es war so, als würde ich das erste Mal in meinem Leben wieder zu mir selbst finden, zu dem Menschen, der ich wirklich bin.
    Der Mensch, der es nicht nötig hat, sich oder andere zu täuschen, weil er wirklich er selbst sein kann und sich deshalb niemals mehr vor sich selbst und anderen verstecken muss.
    Und er deshalb nie wieder auf IHRE Hilfe angewiesen sein wird.


    Und genau diese Lösungsansätze mit den schon teilweise gelösten Gleichungen arbeite ich nun in meinen Rechenweg ein und schreibe diese gut sichtbar an meine Tafel. Hier in dieser seltsamen Halle mit den vielen unzähligen Tafeln und Kammern, die immer in Veränderung zu sein scheinen, wie unter einem Mikroskop sichtbare Zellen, welche wachsen, sich verbinden und wieder absterben. In dieser Welt, in der es mir manchmal so scheint, als würde ich IHRE Präsenz auf ganz andere Weise wahrnehmen.

    Als ich den Stift beiseite lege und meine Herleitungen noch einmal überfliege, kommt mir alles auf einmal etwas hochtrabend, komplex aufzuschlüsseln und nur schwer nachvollziehbar vor. Aber für mich fühlt sich dieser Rechenweg stimmig an und scheint in die richtige Richtung meiner Lösung zu gehen.
    Ich überlege trotzdem noch kurz, etwas zu korrigieren oder Teile noch einmal neu zu berechnen, aber da der Stift permanent wie ein Edding scheint und es hier unten wahrscheinlich nichts Hochprozentiges gibt, um das Ganze wieder wegzuwischen, lasse ich alles einfach so stehen. Ehrlich gesagt habe ich auch keinen Plan, wie ich die Formel anders umstellen oder besser gesagt, anders darstellen könnte.


    Ich mache vorsorglich die Kappe auf den Stift, um ein Austrocknen zu verhindern, lege ihn dann in die Schublade meines Tisches, den ich mir hier okkupiert habe, schließe alles fein säuberlich ab und verlasse den Raum.


    . . .


    1994 Balaton-Baby

    Sandro fragt mich, ob er etwas von meinem Wein abhaben kann. Er will sich eine Mischung aus Red Bull und Wein machen, um sich, wie er sagt, einen “Kick” zu geben. Er kommt sich dabei bestimmt wie Jessi Pinkman aus “Breaking Bad” vor. Ich gebe ihm meine Flasche, die ich schon halb geleert habe. Das ist nicht schlimm, ich habe noch etwas gebunkert. Das einzige Problem ist nur, dass die Flaschen hier im Zelt unappetitlich warm werden. Und da noch nicht Weihnachten ist, wo gerne mal ein Glühwein getrunken wird, ist die Sache einfach nur nervig. Leider gab es damals YouTube und die dazugehörige Bauanleitung für einen erdgekühlten Bierkühler noch nicht. (Ich meine mich aber zu erinnern, dass ich die Flaschen manchmal am Ufer des Balatons in den Sand gebohrt hatte. Aber da der Balaton damals wahrscheinlich auch schon gefühlt fast 30 Grad hatte, war diese Aktion wohl auch nur semi-erfolgreich.)

    Gerade trudelt noch Walther White in Gestalt von Burghardt ein, der aber im Gegensatz zum echtem "Heisenberg" mit der beinahe gewerbsmäßigen Erzeugung von Drogen nie etwas am Hut hat, aber manchmal ähnlich altklug wie Walther Hartwell “Heisenberg” White daherkommt.
    Meine beiden Freunde “kochen” sich nun in ihrer Drogenküche (bzw. in ihrem Zelt) ihr Süppchen, bei dem es eine Menge positives Denken und Einbildung braucht, um nicht die Erkenntnis zu erlangen, dass der Wein damit eigentlich nur verdünnt wird. Ich trinke meinen Wein eigentlich lieber pur, aber da es “mein” Wein ist, den Sandro mir gerade in seiner Mischung anbietet, sage ich natürlich nicht Nein und bilde mir auch ein ganz klein wenig ein, dass diese Mischung mich "kickt". Wahrscheinlich hätte ich auch nur einen Kaffee mit viel Zucker zu meinem unverdünnten Wein trinken können oder mich kurz mal erschrecken lassen müssen, um das gleiche Ergebnis zu erreichen. Ich hoffe nur, dass uns DEA Agent Hank Schrader, der wie Walther und Jessi ebenfalls aus der Serie “Breaking Bad” stammt, uns nicht bei diesen illegalen Aktivitäten erwischt.

    Wir machen uns fertig, um uns dann mit den 3 ungarischen Mädels in irgendeiner Disco hier auf der Partymeile von Siófok zu treffen. Um es noch einmal zu betonen, ICH habe die Mädels klar gemacht bzw. angesprochen. Irgendwie hat sich das beim Herumalbern beim Baden ergeben, ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob sie mich von meiner Luftmatratze gekippt haben oder ich sie. Auf alle Fälle haben wir uns dann mit Händen und Füßen verständigt, da wir kein Ungarisch und nur “a little bit” Englisch können. Sie konnten uns da auch nicht groß weiterhelfen, weil sie kein Deutsch und noch weniger als a little bit Englisch konnten. Aber für das Date bzw. für das Verabreden hat es dann doch gereicht.

    Auf alle Fälle haben wir alle drei schön unsere Haare gegelt und uns eben nach 90er Manier herausgeputzt.
    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sandro wirklich einen Inder im Stammbaum hatte oder nur stolz darauf war, ab und an für einen gehalten zu werden. Da er aber, wie ich, aus einem Teil Deutschlands kommt, in dem es nur sehr wenige Inder gibt, aber immer behauptet wird, dass es in unserem Landstrich sehr, sehr Viele geben würde, tippe ich eher auf Zweiteres.

    Damals war aber sowieso auch die Zeit, wo du mit längeren dunklen Haaren, Boygroup-Frisur und einem "Schnullerbacke-Blick" (ich glaube, das war eine Wortschöpfung von mir und meinem damaligen Kumpel Matze) fast jedes Mädchen vom Lande rumkriegen konntest.
    Da Sandro sehr stolz auf seinen indischen “Touch”, wie er es selber bezeichnet, ist, aber eben noch nicht Raj Rajesh Koothrappali aus der Serie “Big Bang Theory" kennen kann, lasse ich ihm seine Illusionen.

    Wir treffen uns vor irgendeiner Disco oder an einem Treffpunkt, wo wir uns mit den Mädels verabredet haben. Und man glaubt es kaum, sie sind wirklich gekommen! …Aber leider nur zu zweit. Ich weiß nicht mehr genau, wie sich das herausselektiert hat, aber ich und Sandro haben irgendwie dann später die beiden Mädels im Schlepptau. Mein Kumpel Burghardt muss leer ausgegangen sein und ist dann wahrscheinlich in irgendeine Techo-Disco “abraven” gegangen. Da er seinen einen Red Bull ohne Alkohol konsumiert hat, kann er sowieso nicht schlafen und muss wahrscheinlich tagelang weitertanzen. Ich bin mir auch gar nicht mehr sicher, ob Burghardt überhaupt jemals etwas getrunken hat, wenn überhaupt, nur ganz ganz wenig. Er ist auch derjenige, der sich immer über meinen Konsum aufregt und mich einige Zeit später auch in eine eher unangenehme Situation bringen wird, die aber aus heutiger Sicht vollkommen gerechtfertigt war.
    Außerdem ist er auch der, der ab und an immer gerne etwas schlaue Reden hält. In der Hinsicht bin ich froh, dass wir ihn losgeworden sind, weil das manchmal beim “Mädels klarmachen” eher etwas kontraproduktiv rüberkommt.

    Wir landen in der nächsten Disco mit den Mädels, aber irgendwie stellt sich die Kommunikation schwieriger als gedacht heraus.
    Und da die Mädels außerdem noch sehr jung sind und wahrscheinlich auch aus einer anderen Zeit und einem leicht anderen Kulturkreis kommen, klappt die gute, alte Raubritterart, die damals in den 80er Jahren, als ich 15 oder 16 war noch so gut funktioniert hat, hier irgendwie nicht mehr so ganz.

    Damals, Mitte oder Ende der 80er war es relativ einfach, ein Mädchen "rumzukriegen". Es wurde kurz Blickkontakt hergestellt und dann auf “die langsame Runde” in der Disco gewartet. Nur um daraufhin zu gefühlvoll, traurig verliebt-romantischen Klängen aus KuschelRock Vol.1 ebenfalls etwas traurig verliebt und romantisch sich selbst und das Mädchen beinahe in den Schlaf zu wiegen. Falls wir beide dann übereinander hängend und uns gegenseitig haltend noch nicht eingeschlafen waren, war der nächste Gang zur Bar, wo der Junge dem Mädchen dann meistens einen “Gespritzten” ausgegeben hat. Das war irgendwas mit Limo und Doppelkorn, Grubenschaps, Spiritus oder was weiß ich. Auf alle Fälle war das schon eine Investition, da der Gespritzte um die 2 Mark 50 gekostet haben muss und der halbe Liter Bier nur um die 90 Pfennige. Somit war das Bier im Kosten-Nutzen-Faktor deutlich der Preis-Leistungs-Sieger. Ich hatte damals meistens um die 10-15 Mark einstecken und Zigaretten (2,50 Mark) und Eintritt mussten auch noch sein. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob ich mir die Kippen damals bei meinem Opa, nennen wir es mal “geborgt” hatte.
    Auf alle Fälle hatte ich immer ein gut aufgestelltes Budget, womit der “Gespritzte” eine meistens gut angelegte Investition war. Wenn die Auszahlung der Investition von Erfolg gekrönt war, konnte man seine Liebste nach draußen, eventuell in eine Bushaltestelle, mit noch etwas mehr Glück sogar auf die anliegende Wiese oder andere romantische Plätze dahinter führen. Das Mädchen war meistens so glücklich, dass es sich für das tänzerische "In den Schlaf wiegen”, den Gespritzten (2,50 Mark) bei eher wenig Kommunikation und das anschließende Ausführen auf “ihre Weise" bedankte.

    Ich kann mich noch daran erinnern, dass manchmal meine Oma echt sauer auf die grünen Grasflecken auf meinen Hosen reagiert hat, die irgendwo auch wirklich schwer herausgingen. Sie fragte mich auch öfters, was ich denn immer nur mache, dass die Hosen immer an einigen Stellen so grün sind. Ich habe dann meistens nur gesagt, ein paar Kumpels und ich haben irgendwo herum gesessen und “gequatscht”.
    Irgendwie war das damals in der Schule auch so ein Insider mit eben diesen grünen Tintenflecken der Natur, welche zwar mit Biologie, aber überhaupt nichts mit Photosynthese zu tun hatten, da es zudem bei dieser außerunterrichtlichen "Feld”studie am Wochenende immer recht dunkel war.


    Aber genau dieses Problem mit einem eventuell durch Chlorophyll verunreinigtem Beinkleid werde ich zur Zeit eher weniger haben, denn wir befinden uns jetzt wieder hier im Jahr 1994, Ungarn, Siófok.

    Das Flirten und die Kommunikation klappt schwierig, bis überhaupt nicht. Wir kommen nicht viel weiter, als dass wir uns unsere Namen kennen, erzählen, in welchen Discos wir hier schon waren und uns ab und zu in den (zu langen) Gesprächspausen anlächeln. Sandro scheint, wie der echte Rajesh Koothrappali aus der Serie, trotz indischer Abstammung oder auch nur indischem Touch dasselbe Problem mit seinem Date zu haben.
    Ich finde irgendwie die Situation leicht verkrampft bzw. verfahren und habe irgendwie die Lust verloren. Bei meinem Date vermute ich das Gleiche. Ich kann ihr ja nicht einmal klar machen, dass ich mich mit ihr nicht groß zu unterhalten weiß. Da hätten wir ja schon mal eine Gemeinsamkeit gehabt, über die wir uns unterhalten hätten können. Kommt natürlich auch gut, “Hey ich will dich kennenlernen und anschließend abschleppen und flachlegen, aber mir fällt gerade nichts ein. Kann ich vielleicht mit dieser Mitleidsmasche bei dir landen?”

    Vielleicht lässt aber auch nur “der Kick” des Red Bull nach, den ich vor ein, zwei Stunden oral eingenommen habe. Hätte ich doch lieber mal einen doppelten Kaffee konsumiert. Ich habe zur Zeit nicht einmal Bock, mir die Kante vor diesem jungen Mädchen zu geben. Ich finde, das sieht doof aus, wenn sich ihr Date ein Bier nach dem anderen holt, so viel Selbstreflexion hatte ich damals noch und werde auch in Zukunft gerade in solchen Momenten meinen wahren Konsum zumindest immer etwas verschleiern.

    Irgendwie muss sich der echte Sandro aka Rajesh dann mit seinem Mädel abgeseilt haben oder vielleicht auch ich mit meinem Date. So oder so wird die Situation mit meinem ungarischen Ferienflirt nicht wirklich besser. Und ich glaube, wir hoffen beide auf Erlösung. Die Situation löst sich gottseidank auf, als meine Sommerliebe irgendwelche Bekannten trifft und dort hängenbleibt. Ich weiß gar nicht mehr, ob wir uns damals überhaupt verabschiedet hatten oder ob wir einfach so auseinander sind.

    Auf alle Fälle finde ich mich minimal deprimiert, aber dafür wieder frei, draußen auf der Partymeile wieder und bin leicht neidig auf Sandro aka Rajesh, der wahrscheinlich dank oder trotz seiner indischen Touches mehr Glück gehabt zu haben scheint. Lange kann ich aber nicht auf ihn neidisch sein, weil er mir gerade über den Weg läuft, ebenfalls allein. Er erzählt mir, dass sein Date sich nicht bereit erklärt hat, sich im Anschluss für die Darreichung eines preisgünstigen Mixgetränkes nach alterbewährter deutscher 80er Jahre Tradition zu bedanken.
    Ob Indien, Ungarn oder sonst wo auf dieser bunten Erde, es gibt halt immer interkulturelle Verständigungsschwierigkeiten.

    Auf alle Fälle bin ich jetzt wieder befreit, um mir erstmal noch einige eiskalte Heineken herunterzukippen, die mir nach dieser verkrampften Situation sowas von gut tun. Und wir suchen Burghardt, der wahrscheinlich in irgendeinem Techno-Tempel wegen seinem einem Red Bull nicht mehr aufhören kann zu tanzen. Raj und ich gehen durch diese bunte laute Nacht, denn der Abend (und auch wir) sind ja noch jung…

    6

    1990 - 1993 DIE ANDERE WANGE HINHALTEN oder Lehrjahre sind keine Herrenjahre

    Du stehst mit den Füßen etwa schulterbreit auseinander, das Gewicht gleichmäßig verteilt. Die linke Faust ist vorne, etwa auf Höhe deines Kinns, während die rechte Faust näher an deiner rechten Wange positioniert ist. Deine Ellbogen sind eng am Körper, um dich zu schützen, während deine Schultern leicht nach vorne geneigt sind. Dein Oberkörper ist ebenfalls leicht nach vorne geneigt, um Agilität und Schutz zu maximieren. Dein Blick ist konzentriert auf deinen Gegner gerichtet, während du dich in einer Position befindest, die es dir ermöglicht, schnell zu reagieren und Angriffe zu initiieren oder zu blocken.

    Konzentriert blicke ich mit leicht nach vorn geneigtem Kopf und Oberkörper, die linke Führungshand vorne und die Rechte in Nähe meiner Wange und schaue mit stierem Blick leicht von unten heraus auf das mehrmals gebrochen Nasenbein meines Jugendtrainers, welches ihn ein ganz klein wenig wie das Biest aus der Fernsehserie “Die Schöne und das Biest” aussehen lässt. Da vor mir über 100kg Kampfgewicht mehr oder weniger gut verteilt auf über 1,90m Körpergröße stehen und ich mit meinen knapp 1,80 um die 73 kg wiege, werde ich mich hüten, ihn auf die Gemeinsamkeiten mit Ron Perlman und Linda Hamilton anzusprechen. Nee, er ist eigentlich ein ruhiger Patron und guter Kerl, aber beim Training immer sehr konzentriert und zielorientiert.

    Wir trainieren gerade den Führungsschritt.
    Du machst einen Vorwärtsschritt (Step) und stößt gleichzeitig deine linke Hand gerade nach vorne (Jab), um die Distanz zum Gegner zu kontrollieren. Die linke Hand fungiert als deine Führungshand und kann verwendet werden, um deinen Gegner zu dirigieren oder ihm bei offener Deckung ganz schnell mal eins auf die Mütze zu geben. Die rechte Schlaghand ist dann, gut eingesetzt, nochmal ein ganz anderer Level.
    Ich werde auf alle Fälle meine Deckung oben lassen, denn Ron Perlman wurzelt mir im Voranschreiten 2x die Linke und einmal die Rechte auf meine Deckung und treibt mich, geradlinig, diszipliniert und unaufhaltsam wie ein römischer Legionär, in den Teutoburger Wald zurück. Dann bin ich dran, Herrman der Cherusker kann sich jetzt rächen und drängt den Römer aus dem germanischen Stammesgebiet. Voranschreiten/Step… gleichzeitig linke Führhand/Jab…gleich nochmal das Selbe und dann die rechte Gerade schön mit Kraft aus der Drehung der Hüfte auf Ron Perlmans undurchdringbare Deckung (den Limes) ballern. Ok, Ron spielt mit, wenn er wöllte, könnte er mich spielend leicht ins tiefste Germanien zurückwuchten.

    Nach so einem Training bist du total fertig, aber fühlst dich richtig gut. Das eigentliche Boxen/ Sparring macht nur einen kleineren Teil des Trainings aus. Was mich oft nervt, sind die ewig langen Erwärmungsübungen und das Konditionstraining vorher.
    Ich merke, wie mir schon in meinen jungen Jahren die Lunge vom Rauchen pfeift. Ich sollte früher oder später mit dem Rotz aufhören. Hier wird das Rauchen sowieso überhaupt nicht gern gesehen bzw. könnte ich dann gleich mal 100 Liegestütze zur Buße tun. Ich habe auch durch einige frühere kurzzeitige Rauchstopps gemerkt, was mir das scheiss Gequarze für eine Energie, Kondition und innere Kraft abzieht.
    Schauen wir mal, mein Leben ist ja noch jung…

    (Viele Jahre später wird mir bewusst werden, wie viel vertane Zeit ich mit dieser Rauchsucht und dem Entfliehen selbiger zugebracht habe. Wie ich kurze Zeit später, meinte, ein Mittel zu entdeckt zu haben, welches mich auch kurzzeitig vom Rauchen befreien zu schien, aber noch viel mehr von meinem Leben und meiner Zeit gestohlen hat. Wie ich damals eigentlich nie der Mensch werden konnte, der ich wirklich sein wollte und wie ich beispielsweise die Boxhandschuhe für meine andere, “eigentliche Karriere”, die bald folgen soll, an den Nagel gehängt habe.
    Aber noch ist es noch nicht soweit und ich hämmere gerade auf Ron Perlmans behandschuhte schweinslederne Deckung ein, dass die Schwarte nur so kracht)

    Beim Training lerne ich auch den Typen kennen, der zur Disco immer so einen Mantel und Hut wie Udo Lindenberg trägt und sich vielleicht auch für den Panikrocker höchstpersönlich hält. Da Cosplay wahrscheinlich noch nicht erfunden ist, vermute ich, dass er vielleicht sowas wie ein Fanboy ist. Fragen werde ich ihn das aber bestimmt nicht.
    Obwohl die Typen (und eigentlich auch er), hier alle in Ordnung sind.
    Es ist halt immer wie so oft im Leben, es kommt immer darauf an, auf welcher Seite des Zauns man sich trifft.

    Ich kann mich noch erinnern, wie Udo mal Krach mit Kevin, einem eher berüchtigten Schläger hatte, welchem die meisten, mich eingeschlossen, früher immer aus dem Weg gegangen sind. Da ich Udo noch nicht vom Training kannte, hätte ich mein Lehrlingsgeld wohl eher auf Krach-Kevin statt auf den Sängerknaben Udo Lindenberg gesetzt. Nun vielleicht nicht mehr. Ich habe aber dann auch nicht erlebt, wie es damals ausgegangen ist.


    Apropos stadtbekannter Schläger, zu Kevin gibt's auch noch eine kleine Geschichte in der Geschichte:

    In einer langweiligen Disco-Nacht, in der ich bestimmt wieder mehrere Schachteln Kippen inhaliert habe und mir morgen wieder mit Ajax oder Meister Proper den gelben Teer von Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger schruppen muss, fragt mich mein Kumpel Matze, ob ich Kravall-Kevin mit meinem Auto mit nach Hause schaffen kann. Für mich bedeutet das einen großen Umweg und außerdem ist der Wagen nicht vergittert, zumindest ist der Bereich zum Fahrer nicht wie in einem Gefangenentransport geschützt und mein Wagen besitzt auch keine schusssichere Trennwand, die ich hochfahren kann.
    Außerdem hat mein Stiefvater die Hand auf dem Auto und wird bestimmt morgen früh wie ein Drogenfahnder oder eher wie der Spürhund des Drogenfahnders die gesamte Kabine durchkämmen. Zudem reagiert er laut eigener Aussage auf Nikotin allergisch und bekommt, laut eigener Diagnose, Herzrasen und Herzprobleme vom Passivrauchen.

    By the Way: Da ich gerne und viel rauche, aber ihn das jedesmal ankotzt, rauche ich aus therapeutischen Gründen manchmal unter seinem offenen Schlafzimmerfenster, damit sich bei ihm eine Hyposensibilisierung für seine tabakrauchbedingte Allergie entwickeln kann. Dass er sich im Anschluss meistens immer wie Sau aufregt, bekommt wahrscheinlich seinen hypochondrischen Herzproblemen wiederum auch nicht so gut. Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht, soviel dazu. Aber einen Tod muss man nun mal sterben.
    Das Leben besteht eben größtenteils immer aus Kompromissen, es ist ein Dilemma.

    Aber kommen wir zurück zu meinem Kumpel Matze, der mir die Frage stellt oder eher das Ultimatum der Ausweglosigkeit meiner Lage verkündet: “Willst du heut Abend Zoff mit Kevin oder nie wieder Zoff mit ihm? Der hat uns nämlich gefragt, ob wir ihn mit nach Hause nehmen können”. “Klar, frag mich doch gleich, ob ich lieber Pest oder doch lieber Cholera haben will oder gleich ein Krokodil mit der bloßen Hand fangen soll, lieber Matze”, antworte ich.
    Ich überlege, ob ich mich heimlich davonstehlen soll, was aber auch bedeuten könnte, in Zukunft eventuell Kravall mit Kravall-Kevin zu haben. Die Disco ist zwar langweilig, aber die Aussicht, die Stadt oder sogar das Land verlassen zu müssen bzw. nie wieder in Krawall-Kevins Einzugsbereich aufzutauchen, macht mir die Abwägung zumindest leichter.
    Zudem blitzen auch noch einige Millisekunden lang verstörenden Schreckensbilder auf, nun die Wochenenden mit dem herzschwachen Nikotin-Allergiker und Hypochonder von meinem Stiefvater verbringen zu müssen.
    Ich höre schon diesen Nikotin-allergischen Darth Vader röcheln: “Rent, ich bin dein Vater”. Nein und nochmals Nein! Dann lieber diese völlig unberechenbare Raubkatze namens Kevin in einem völlig ungeeignetem Fahrzeug in den nahen Zoo zurückbringen.

    Das ganze Leben besteht größtenteils aus Kompromissen, es ist ein Dilemma.


    Wir sitzen nun zu dritt oder zu viert in meinem Auto und ich fahre Kevin schön über einen Umweg nach Hause.
    George Bush Senior hat zwar vor ein paar Jahren durch seinen Einmarsch in Kuwait die Ölpreise wieder gedeckelt und nachsichtigerweise seinen alten Skatkumpel Saddam erst viele Jahre später von seinem Sohnemann aus dem Olymp stoßen lassen, aber als Lehrling besitze ich trotzdem keine eigene Ölquelle.

    Aber zurück zu Kevin, den ich strategisch günstig auf dem rechten Rücksitz platziert habe, zumindest ist das eine Risikominimierung und erstmal der größtmögliche Abstand gewahrt. Falls Kevin einen Ausraster bekommen sollte, soll er sich ruhig erstmal an Matze abreagieren, der hat den ganzen Rotz schließlich eingerührt. Wenn Kevin das nicht erledigt, werde ich sowieso später Matze noch dafür persönlich dafür “punishen”.
    Aber ehrlich gesagt, gibt sich Kevin sehr umgänglich. Ein paar Minuten später wird mir klar, warum. Er fragt, ob er “Eine” rauchen kann. Kann der Typ denn keine 10 Minuten ohne Nikotin auskommen?! Ich überlege, ob ich im Sani-Kasten noch ein Nikotinpflaster für ihn habe (oder ihm ein echtes Pflaster auf seinen Mund kleben soll).
    Aber da Nikotinpflaster, wie auch Nicorette-Kaugummi, wahrscheinlich erst später erfunden werden, sage ich zerknirscht…Ja.
    Im nächsten Moment stellt sich heraus, dass er natürlich keine Kippen mehr hat und er fragt mich, ob ich ihm Eine geben kann.
    Wieder sage ich zerknirscht…Ja.

    Am besten lasse ich Kevin heute Nacht gleich mit (meiner) Schachtel Kippen im Auto sitzen und wenn morgen früh mein nikotin-allergischer Stiefvater nach Drogen schnüffeln kommt, können die beiden das dann unter sich ausmachen.
    (In dem Fall würde ich mein Lehrlingsgeld wohl doch eher auf Kevin setzen…)


    . . .


    1990 - 1993 DIE ANDERE WANGE HINHALTEN oder Lehrjahre sind keine Herrenjahre

    Vor mir steht irgend so ein Oompa Lumpa in der Kampfstellung eines Bruce Lee oder wie er das auf seiner Polizeischule im ersten Lehrjahr wohl gelernt bekommen hat. Irgendwie erwarte ich beinahe, dass er jetzt noch einen Kampfschrei ausstößt und mit seinen Pfötchen erst einmal schnell eine Tanzvorführung mit Schattenboxen darbietet …oder den Oompa-Lumpa-Tanz tanzt. Beides käme mir seltsam vor und würde die bizarre Situation noch verstärken. Obwohl ich eher für Zweiteres wäre. “Oompa-Lumpa-du-di-del-du–jetzt-wird-es-komisch–hört-doch-mal-zu”... und wir würden wieder reingehen und vielleicht sogar einen zusammen trinken, obwohl ich ehrlich gesagt überhaupt keinen Bock auf die Klette habe. Was trinken Oompa Lumpas eigentlich? Bestimmt irgendwas Süßes…
    Aber das geht sowieso jetzt alles nicht mehr, weil ich mein Gesicht oder der kleine Mann mit den grünen Haaren und den weißen Augenbrauen sein (oranges) Gesicht verlieren würde.

    [Dem aufmerksamen Leser schwant bestimmt schon, wie sich die Situation weiterentwickeln wird.]
    Als er dann mal endlich seine Kampfpose gefunden hat, faucht er mich an: "Na los, komm schon!”
    Wenn dir ein kleiner seltsamer Mann mit grünen Haaren und weißen Augenbrauen versucht, Anweisungen zu erteilen, erreicht er zumindest bei mir meistens das Gegenteil und ich entgegne ihm, “Komm du doch, du wolltest doch rausgehen, du Pfeife!”
    Das soll eigentlich nach Buckel runter rutschen, Überlegenheit und scheißegal klingen, aber eigentlich brodelt in mir eher die unterdrückte Wut auf diesen Arsch heraus, den ich seltsamerweise seit ein paar Minuten an meinem Arsch kleben habe und bis dato nie gekannt habe. Aber es ist nicht nur die Wut, die ich unter einer Maske aus Coolness und Überlegenheit zu verbergen suche. Es ist eher ein bunter Cocktail aus unangenehmen Emotionen.

    Man nehme etwas Wut (auf diesen Arsch und was sich dieses kleine Männchen mit den grünen Haaren und den weißen… [Sie wissen schon]...einbildet), würze es mit etwas latenter Angst und einer Brise Kontrollverlust (vor dem, was eventuell oder besser gesagt, jetzt gleich passieren wird) und mische dann die Hauptzutat Adrenalin dazu. Nun lasse man alles gut brodeln und stelle das Ganze dann zum Abkühlen auf das Fensterbrett in der Küche. Guten Appetit!

    Natürlich nicht! Es ist unumgänglich, dieses Gemisch nun durch die Röhren des körpereigenen Laboratoriums fließen zu lassen! Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, die Membranpumpe, die dafür sorgt, dass der Cocktail auch dort hintransportiert wird, wo er eben hingehört, auf höheren Hub und höhere Frequenz zu stellen.
    Zum Glück macht mein Körper bzw. das Adrenalin das von selbst, denn ich habe jetzt gerade keine Zeit dafür, mich persönlich um diese Feineinstellung zu kümmern.


    Ich komme auch nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, was wir für eine groteske Darstellung bieten, denn jetzt geht es ganz schnell…
    Seine Bruce Lee Kampfstellung erweist sich im ersten Moment als kleiner Vorteil, zumindest hat er mit seiner lächerlichen Kampfpose schon mal seine Fäustchen oben. Ich, der ich nun leider nicht auf der Polizei-Kampfkunsthochschule war, kann natürlich nicht wissen, dass es in dem Moment oder schon im Vorfeld besser gewesen wäre, wenigstens eine Moderations- oder Schutzhaltung einzunehmen, bei der ich zumindest meine Hände in etwas beschwichtigenden oder abwehrenden Pose schon erhoben hätte.
    Aber da ich weder beschwichtigend noch abwehrend wirken will, stehe ich blöderweise mit offenen Armen wie ein Westernheld nach 3 Whisky in einer Saloon-Schlägerei da, der sagt “Komm doch, mach doch endlich!”

    …Was er in der nächsten Millisekunde auch macht.
    Scheinbar will er wie Kung-Fu Meister Pai Mei oder eher wie seine Schülerin Beatrix Kiddo aka Uma Thurman in Quentin Tarantinos “Kill Bill 2” die 5-Punkte-Herzexplosiontechnik bei mir anwenden. Ich beruhige mich aber schnell wieder, da mir bewusst wird, dass wir noch nicht 2004 haben, sondern uns im guten alten Jahr 1993 befinden.
    Falls er kein Zeitreisender ist, kann er auch das nicht von seiner Polizei-Sonderschule wissen. Oder doch, wissen “die da oben” etwa mehr als wir, das einfache Volk?

    So oder so, da er nun den ersten Schlag gesetzt hat, aber nicht schnell genug war, mit den nächsten 4 Schlägen mein Herz zum Explodieren zu bringen (und meine Backmischung der gemischten Emotionen noch nicht ganz auf dem Küchenfensterbrett abgekühlt ist), ist das Einzige, was er damit erreicht, dass mein Kuchen explodiert.
    Ohne groß nachzudenken, verselbstständigen sich meine Fäuste und er bekommt 3 oder 4 Schwinger über, bei denen ich vermute, dass sie ganz gut getroffen haben, vielleicht aber auch nicht. Das Adrenalin macht dich völlig unempfindlich für den Schlag, den du einsteckst, aber auch den Schlag, den du austeilst. Du merkst NICHTS, in dir ist nur der Gedanke, nicht hart genug zugeschlagen zu haben, noch härter zuschlagen zu müssen.
    Scheinbar ging es unseren Vorfahren mit Keule oder Faustkeil ähnlich.
    Was unsere Urahnen scheinbar nicht hatten, ist die Scham und Verzweiflung danach, wenn du dir Eine gefangen hast, wenn der Kampf vorbei ist. Wenn dir das Gesicht, Backe, Auge oder Mund anschwillt, du sozusagen dein Gesicht verlierst und die Tränen, die Wut und die Verzweiflung unterdrücken musst, dass dein Gesicht nicht noch mehr anschwillt. Dass deine Gegner nicht noch extra über dich feixen können, wenn du die Arena gesenkten Hauptes verlassen musst.
    Das ist das Einzige, was WIRKLICH weh tut. Aber nicht heute!

    Also kommen wir wieder zurück zum augenblicklichen Geschehen.
    Wenn ich Zeit hätte, würde ich jetzt auch noch zu meinem Trainer Ron Perlman nicken, der mir zuruft, “Deckung! Hände oben lassen, Ellbogen an den Körper!”
    Hier scheint aber irgendwie alles wie ein rasend schneller Film abzulaufen, den ich nicht beeinflussen kann und auch noch ein paar Sequenzen fehlen.
    Ich finde mich wieder, wie ich meinen Kontrahenten mit weiteren Hieben auf die Motorhaube eines Autos gedrängt habe und wie er und sein Hinterkopf polternd über Motorhaube und Stoßstange, beinahe wie über Treppenstufen rutscht oder poltert und dann zum Erliegen kommt.
    In der nächsten Sequenz sitze ich über ihm und will ihn eigentlich noch weiter bearbeiten, aber irgendwie ist nun scheinbar der emotionale Kuchen gegessen und ich will nicht weitermachen.
    Und mir wird die groteske Situation, wie schon am Anfang, wieder bewusst. Jetzt ist es beinahe Mitleid oder eher so eine Unfähigkeit, die Situation zu begreifen, warum wir das hier machen.
    Ich senke die Keule und lege den Faustkeil beiseite.

    Ich fauche ihn an, “Hast du jetzt genug, du elender Wichser, hörst du nun endlich auf!?” Er sieht nur hasserfüllt zurück, aber da er weder Ja noch Nein sagt, sondern mich nur anstiert und ich keinen Bock mehr auf ihn und diese seltsame Situation habe, lasse ich von ihm ab.

    Wir haben uns nicht wirklich schwer verletzt, er hat ein dickes Auge oder eine geplatzte Augenbraue und wahrscheinlich durch seinen Zusammenstoß mit der Stoßstange eine fette Beule am Hinterkopf. Mir hat er, wahrscheinlich beim Klammern oder weil er vielleicht gerne seine Gegner umarmt, einen Ohrring ausgerissen (bzw. geöffnet und entfernt). Morgen werde ich mit meinem Kumpel nochmal zum Ort des Geschehens pilgern, aber den Ring natürlich nicht mehr finden.

    In meinem Siegestaumel mache ich den Fehler, wieder in die Disco zu gehen, anstatt diesen Typen erstmal zu fesseln, morgen früh seine Eltern anzurufen und ein Lösegeld (oder eher ein Schmerzensgeld für seine Bekanntschaft) zu verlangen. Da aber seine Eltern eventuell froh sein könnten und die Sache vielleicht schlauerweise aussitzen würden, lasse ich es einfach. Ich gehe wieder rein, um mir ein Bier zu holen und erstmal 2-12 Zigaretten zu rauchen, weil ich innerlich noch total aufgeregt bin und mir vom Adrenalin übelst die Hände zittern.


    Ich kann mich an die dazwischenliegenden folgenden Abläufe nicht mehr erinnern, aber der Oompa Lumpa muss irgendwie seine anderen Oompa Lumpas aus dem Lumpa-Land oder besser gesagt aus der angrenzenden Plattenbausiedlung migriert haben und wir finden uns am Ort des vorherigen Geschehens wieder.
    Ich merke, wie diese Oger samt ihrer Billig- Bomber-Jacken versuchen, mich hin und her zu schubsen. Flink wie die Oompa Lumpas eben nun mal sind, bekommt man sie aber nur schwer zu fassen. Ein Jung-Oompa Lumpa tritt immer wieder einen Schritt vor, schubst mich vor die Brust, tritt dann aber wieder schnell 2 Schritte zurück und ruft dabei: “Was willste, komm doch her!”
    Ich sehe von der schier ausweglosen Möglichkeit ab, ihm klarzumachen, dass ich (erstens) nichts von ihm will und (zweitens) nicht zu ihm kommen kann, wenn er mich immer wieder wegschubst und dann wieder 2 Schritte zurückgeht. Das geht rein logisch schon gar nicht. Ich verzichte auch darauf, ihm mitzuteilen, dass sein Benehmen vor den anderen Oompa Lumpas ziemlich albern wirken muss, da mir klar wird, dass die Alt-Oompa Lumpas sich auch nicht wirklich anders verhalten und dem Jung-Oompa Lumpa somit ein schlechtes Beispiel gegeben haben. Er kann es einfach nicht besser wissen und ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Stammesriten zu lernen und es seinen Erziehungsberechtigten gleich zu tun.

    Glücklicherweise löst ein Kumpel, der auch aus dem Lumpa-Land (oder naheliegenden Plattenbausiedlung) kommt und den ich aus der Berufsschule kenne, diese peinliche Situation für den Jung-Oompa Lumpa, seine erziehungsberichtigten Ober-Oompa Lumpas und gottseidank auch für mich auf. Ich weiß nicht, ob es damals schon den Begriff “Fremdschämen” gab, aber wenn nicht, würde er hiermit erfunden werden, so sehr ich meine neu gewonnenen Freunde auch mag.

    Mein Kumpel, den ich immer gerne wegen seiner Bomber-Jacke (Marke: New Yorker, Schlussverkauf, 29,99 DM) und seinen Fake Doc Martens (Marke: Reno, B-Ware, ohne Stahlkappe, 25,99 DM) aufgezogen habe, erscheint mir in dieser Situation, wie mein Retter auf einem weißen Pferd, zumindest hat er weiße Schnürsenkel in seinen “Doc’s”.
    Zum Glück hat er mir es auch nicht übel genommen, dass ich immer mal behauptet habe, seinen Vater früh mit Bierdosen vorm Arbeitsamt sitzen gesehen zu haben. Das war übrigens gelogen, ich kenne den werten Herrn überhaupt nicht. Und da er immer ähnliche Sprüche über meine Erziehungsberechtigten bringt, gleicht sich im Leben wohl immer alles aus.

    Auf alle Fälle managt oder eher dolmetscht jetzt mein Kumpel die Situation wie ein Reiseleiter von der TUI, da er in der Lage ist, sich mit den hiesigen Eingeborenen zu verständigen. Da er zudem noch denselben Kopfschmuck und die gleichen Stammesabzeichen trägt, ist es für ihn einfach, Zutrauen bei diesem sonst so scheuen und friedliebenden Volk mit den kahlrasierten Köpfen zu gewinnen. Es dauert nicht lange und er hat es geschafft, dass Oberscharführer samt Jungvolk eine gewisse Empathie für mich entwickeln oder mich zumindest nicht mehr schubsen wollen.

    Ich weiß nicht mehr, wie sich die Situation damals aufgelöst hat. Der Initiator, der kleine Bruce Lee, war damals irgendwo auch relativ schnell verschwunden. Vielleicht hatte er ja auch Stuben-Dienst, Revierreinigung oder musste zu einer Kampfkunst-Tanz-Darbietung in irgendeiner Zirkus-Show.
    Natürlich hatte mein Kumpel die darauffolgende Woche in der Berufsschule die große Klappe gehabt und erzählt, dass ich vor seinen Freunden gezittert hätte und wenn er nicht dazwischen gegangen wäre, wäre Schlimmes passiert. Ich habe ihm darauf gesagt, dass ich seinen Vater zitternd vorm Arbeitsamt gesehen habe, weil der diesmal keine Bierdosen dabei hatte und er hat dann wieder etwas Ähnliches über meine Erziehungsberechtigten erwidert und so weiter und so fort…
    Im Leben gleicht sich halt immer alles aus.
    Aber trotzdem war ich meinem Kumpel damals echt dankbar. Daumen hoch!


    Die Moral von der Geschicht’

    Alles ist nun schon über 30 Jahre her und aus heutiger Sicht kann ich es verstehen, warum ich damals so reagiert habe.

    Der eigentliche Verursacher, der damals die ganze Sache losgetreten hat, war ein Kumpel, der mich veralbern wollte und mir gesagt hatte, dass er mir im Auftrag von irgendeinem Mädchen ihre Nummer geben sollte. (Danke J., der Scherz ist echt gelungen)
    Nur leider hat er mir die Nummer von der Freundin von diesem Kampfkunst-Experten gegeben. Und leider war dieser kleine Napoleon, wie kleine Leute eben manchmal sind, krankhaft eifersüchtig und mit schwachem Ego ausgestattet, da halfen weder Kampfkunst-Darbietungen noch die (zu große) Polizeimütze inkl. (zu großer) Uniform wirklich weiter.
    Wie er das überhaupt mitbekommen hat, dass ich damals bei seiner Freundin angerufen habe, ist mir bis heute etwas unklar.
    Naja Polizei halt, “die da oben” wissen scheinbar doch mehr als wir, das einfache Volk. Vielleicht hat dieser James Bond im Vorfeld auch das Telefon meiner Eltern oder die der ganzen Stadt verwanzen lassen. So verprassen “die da oben” wahrscheinlich die Steuergelder von uns, dem braven Steuerzahler.

    Auf alle Fälle hatte ich ihm damals klargemacht, dass das ein sinnloser Scherz war, ich seine Freundin überhaupt nicht kenne und deswegen auch überhaupt nichts von ihr will. Und da ich nun ihren Geschmack kenne, der nicht wirklich für sie spricht (man sprach damals von Geschmacksverirrung), werde natürlich auch in Zukunft die Hände von ihr lassen werde.
    Da aber die Beweislast nicht eindeutig zu klären war und er trotz seiner mehrjährigen Ausbildung scheinbar noch nie etwas von der Unschuldsvermutung gehört zu haben schien, ging er zwar erst weg, (scheinbar um zu überlegen, was er jetzt machen soll), kam dann wieder und fing an, mich in der Disco immer wieder leicht anzurempeln und forderte mich immer wieder auf, mit ihm “rauszugehen”.


    Ich weiß nicht, wie ich heute reagieren würde, wahrscheinlich würde ich einfach gehen, sozusagen die Situation verlassen.
    Aber so einfach war das damals nicht, niemand, und vor allem ich, wollte als feige dastehen.

    So gesehen waren wir beide arme Würstchen und hätten eher gegenseitiges Mitleid füreinander empfinden müssen.
    Er mit seinem kranken Ego, was immer wieder nach Bestätigung verlangt hatte, er nun mal auch nicht der Größte war, er das bestimmt wusste, aber das nicht wahrhaben wollte. Und ich, immer das Gefühl zu haben, mich wehren, behaupten, kämpfen zu müssen. Nicht zuzulassen, dass mir jemand weh tut oder mich noch kleiner machen könnte, als ich mich sowieso schon selber gefühlt habe.

    Und gerade über dieses Hamsterrad wird kurze Zeit später der Alkohol eine wohlige Decke legen und mir eine Zeitlang die Ruhe und den Frieden geben, den ich damals gebraucht und so lange gesucht habe.


    Last but not least. Die Freundin von dem Typen muss sich einige Zeit später sowieso von ihm getrennt haben und er muss daraufhin, besoffen und/oder mit viel zu hoher Geschwindigkeit einen Unfall verursacht haben, was zur Folge hatte, dass die Unfallgegnerin querschnittsgelämt war oder gar das Leben verloren hat. Zumindest wurde das damals so erzählt. Er ist daraufhin natürlich von seiner Polizeischule geflogen und wer weiß, was aus ihm geworden ist.


    Ich weiß noch, wie schadenfroh ich damals war, “dass der Arsch endlich bekommen hat, was er verdient hat."
    Heute denke ich anders darüber. Hat er es wirklich "verdient" gehabt? Hat es überhaupt jemand wirklich "verdient"? Ist er nicht eher, wie ich oder auch jeder andere, ein Sklave seiner Emotionen, Prägungen und Glaubenssätze gewesen? Hat er nicht, wie ich auch, nur versucht, gegen seine Defizite anzukämpfen? Hat er nicht versucht, nur das “Beste” aus seiner Lage zu machen, aber ist die Sache, wie ich ja auch, vollkommen falsch angegangen?


    Manchmal denke ich, dass wir unter anderem hier auf dieser Welt sind, um Mitgefühl für uns selber und für unser Gegenüber zu entwickeln, sozusagen uns selbst im Anderen zu erkennen.
    Zumindest hilft mir das oft weiter, wenn ich heute über mein Leben nachdenke, die Sache mit der Sucht, und warum auch immer dies und das so sein musste.

    Und wenn ich zurückdenke, bin ich sehr dankbar, dass ich in den vielen Jahren meiner berauschten Zeit nie wirklich einen Menschen (zumindest körperlich) verletzt habe oder noch viel Schlimmeres passiert ist.
    Weil das weder Opfer noch Täter, weil das niemand “verdient”.

    Aber trotzdem fällt es mir nach wie vor sehr oft schwer, “die andere Wange” hinzuhalten. Und der kleine Junge in mir will oft noch kämpfen, weil er es damals auch nicht anders gelernt bekommen hat und es der einzige Schutz war, den er für sich hatte.

    Und wir alles, was wir als Kinder auf unser weißes, reines unschuldiges Blatt geschrieben bekommen haben bzw. was eben in diese wunderbare glatte Platine eingehämmert und eingekratzt wurde, wir sozusagen geprägt wurden, nun sehr lange mit uns herumtragen müssen.

    5

    In the Chambers

    Als ich wieder zu meiner Tafel komme, erwartet mich eine Frau, welche ich gleich als "Stimme aus dem Off" wiedererkennen werde.
    Die Art, wie sie hier steht und beinahe auf mich zu warten scheint, wirkt schon etwas resoluter als die vorherige "Pausenaufsicht", was auch durch ihre Uniform, die etwas ranghöher zu sein scheint, noch bestärkt wird.
    Wie als Beweis ihres Ranges oder als Rangabzeichen hat sie ein altes Tonbandgerät umgehängt, an dem ein zerschrammtes Mikrofon baumelt. Der Equalizer des Geräts ist auf "Hall" eingestellt, womit sich mir die Aura der vorher gehörten "allumfassenden Stimme" erklärt. Meistens erklären sich die Dinge eben auf relativ unspektakuläre Art, denke ich leicht belustigt, aber als ich den eher ernsteren Blick dieser Frau auf mir ruhen sehe, sieht mir das eher so aus, das Gesprächsbedarf von ihrer Seite zu bestehen scheint und meine Gesichtszüge stellen sich auf offen, aber ernst.
    Freundlich, aber bestimmt werde ich darauf hingewiesen, dass sich einige Fehler in meinen Berechnungen befinden und ich die Gleichungen so nicht auflösen könnte. Wieder kann ich mich nicht des Eindrucks einer Belehrung erwehren, die meiner Ansicht vollkommen fehl am Platze zu sein scheint, da doch diese Frau meine Formeln und die Herleitung überhaupt nicht kennen kann. Sie fängt an, meine Gleichungen nach ihrem Rechenweg umzustellen, der auf ein ähnliches Ergebnis zu deuten scheint, aber sich für mich sehr hart, schwierig und fremd anfühlt. Dieses Vorrechnen und ihre Prophezeiung, mit meinem Rechenweg vollkommen falsch zu liegen, erzeugt in mir den Drang, meine Unterlagen in die Hand zu nehmen, alles von der Tafel zu wischen und einfach wieder zu gehen.
    Da ich aber der "Neue" bin und meine Absichten wirklich ernsthaft sind, bleibe ich vorerst und versuche mich freundlich und beschwichtigend zu rechtfertigen. Wir gehen im Guten auseinander, aber ein schales Gefühl bleibt trotzdem.

    Aus den Augenwinkeln bemerke ich einen eher kleinen, aber dafür recht untersetzten Mann, der mit seinem freundlichen Gesicht, dem auffälligen Bauchansatz und der Glatze wie ein leicht amüsierter Opa oder eher wie ein zufriedener Buddha aussieht. Seine zerschlissenen Mönchskutte und seine Sandalen, die natürlich keine sind, sondern sich bei näherer Betrachtung als ein alter Bademantel inkl. uralter Badelatschen herausstellen, deutet darauf hin, dass dieser Mann scheinbar schon sehr lange hier verweilt. Trotz seines freundlichen Blickes und der wachen Augen sehe ich in ihm, dass er eine sehr lange und vor allem sehr intensive Zeit mit IHR verbracht haben muss. Wahrscheinlich waren beide immer wieder vollkommen haltlos ineinander verliebt und konnten nie voneinander lassen, so dass ihm nur der komplette Rückzug von IHR das Leben gerettet hat.
    Das ist ihm aber dank seiner freundlichen und unbekümmerten Ausstrahlung kaum anzumerken. Da ich aber wie jeder andere, der länger mit IHR zusammen war, genau weiß und selbst erlebt habe, wie gerne SIE sich in Geist, Körper und Gesicht ihrer Liebhaber festsetzt und sich zur Schau stellt, erkenne ich oft den Status der Beziehung wie eine Wahrsager auf dem Jahrmarkt.
    Wie der kleine dicke Buddha, wie ich ihn ab jetzt nennen werde, das sicher auch von mir weiß. Warum wäre ich sonst auch hier, da muss man eigentlich kein Wahrsager, Buddha oder Zen-Meister sein.
    Vielleicht sehen meine Augen auch nur, was sie sehen wollen. Vor allem hier unten fühle ich mich so, als könnte ich mich manchmal nicht darauf verlassen, was ich wahrnehme, da sich Zeit und Raum immer etwas zu verändern scheinen. Manchmal beinahe so, wie früher, als ich mit IHR noch die heftigsten Liebesspiele hatte, die manchmal von IHR, aber auch von mir auf eine Vergewaltigung im gegenseitigen Einvernehmen herausliefen.

    Ich merke, wie little Buddha freundlich auf meine Berechnungen schaut und mir zunickt. Mich wundert das ein wenig, da er doch vorhin unter dieser Gruppe von Leuten war, welche laut und beinahe aggressiv, ihre alten Berechnungen und Formeln im Disput mit diesem Typen, der hier in seinem seltsamen Twead-Jacket, samt ledernen Ellenbogen-Patchtes und großem Papierstapel beinahe hereingewütet kam, vehement verteidigt hatten.
    Ich vermute, der kleine dicke Buddha wird wie die anderen Alten auch die altbekannten Formeln und Rechenwege genutzt haben, um ans Ziel zu kommen, aber er lässt meine Formeln zumindest stehen und ich erhalte keine Belehrung. Das macht ihn mir schon mal sympathisch. Leider kommen wir nicht weiter ins Gespräch, der er den Gürtel seines Bademantels zuzieht, mir zunickt und auf seinen zerfledderten Badeschlappen quitschend von dannen schlurft.


    . . .


    “Die Kindheit ist wie ein unberührtes Blatt, zart und rein, gewoben aus Träumen und Abenteuern, mit dem Glanz der Unschuld und der Melodie des Lachens.”

    Wir spielen Fußball auf irgendeiner Wiese des Anwesens des Vaters meines Stiefvaters. Rein familientechnisch müsste das wohl dann mein “Opa”? oder zumindest mein Stiefgroßvater sein.
    Dabei ist auch mein fast gleichaltriger Cousin Jenzi, der eigentlich anders heißt, aber mit der liebevollen Verniedlichung seines Namens und vor allem seiner Person immer mit einem “i” gerufen wird. Ich kann mich gar nicht erinnern, ob mein Halbbruder schon mit dabei war oder ob der zu der Zeit noch auf allen Vieren durch die Gegend getappt ist. Auf alle Fälle sind auch noch ein paar Cousinen dabei, die immer gerne petzen und zwar nicht wie Jenzi mit einem liebevollen “i” am Ende gerufen werden, aber wahrscheinlich ähnlich anbetungswürdig wie Jenzi sind und deswegen genauso liebevoll behandelt werden.

    Mein “Stiefgroßvater”, der eigentlich nie Zeit hat, und immer nur am Bauen, Rumwürschen und Fluchen ist, gesellt sich in einer unergründlichen Laune des Schicksals oder in einer tiefen Geste unendlicher Gnade zu uns Kindern und fängt den Ball mit uns an zu schruppen.
    Schruppen ist der richtige Begriff, da zumindest in meine Richtung die Bälle dieses archetypischen Urgesteins von einem Landmann ganz schön hart fliegen. Mir macht es nichts aus, ich kann was aus aushalten und ich kann ordentlich zurückschruppen, obwohl die olle PVC-Gummimurmel manchmal ganz schön zwirbelt.
    In einer Übersprungshandlung oder da die alte Gummimurmel nicht ganz so zielgenau bewegt werden kann, treffe ich Jenzi mit dem Ball, der wie nicht anders zu erwarten mit meinem Stiefopa im gleichen Team gegen mich arbeitet…


    (Liebe Leser, ich bitte nun die Zartbesaiteten unter Ihnen, die nächsten Ereignisse mit großer Vorsicht zu betrachten und gegebenenfalls die nächsten Sequenzen zu überspringen und sich eventuell einiges Leid zu ersparen.)


    [Kamera Vogelperspektive oder zumindest Weitwinkel]:
    Die Welt, wie wir sie kennen, scheint stillzustehen.

    Wahrscheinlich vermuten gerade in diesem Moment einige Anhänger des Geozentrismus im nahegelegenen Dorfkrug, die von den neumodischen Theorien und dem heliozentrischen Weltbild eines Galileo Galilei noch nichts wissen wollen, eher ein Stillstehen der Sonne. Da aber das Internet, soziale Netzwerke und alternative Fakten noch nicht erfunden sind, um das gerade Erlebte zu teilen, bleibt ihnen nichts weiter übrig, als dieses Geheimwissen mit einem halben Liter kühlen Gerstensaftes, der damals nur ein paar Groschen gekostet haben muss, hinunterzuspülen.

    [Mein Lektor schaut mich gerade an, dann auf die Uhr und schüttelt mit dem Kopf. Ich merke auch gerade selber, wie ich mich verzettele, aber in mir steigen noch so coole Dinge, wie Flat Earth, Reptilienmenschen oder absichtliche Verbreitung eines Virus zur Kontrolle der Menschheit hoch, aber ich will die Geschichte nicht noch mehr verschachteln. Vielleicht wird ja mal ein Spin-Off daraus…]


    ...Wir spulen also jetzt den Film im Zeitraffer zurück und starten jetzt nochmal beim Stillstand der Erde und wie ich Jenzi versehentlich mit dem Ball getroffen habe…Los geht's:

    [Kamera Vogelperspektive oder zumindest Weitwinkel]:
    Die Welt, wie wir sie kennen, scheint stillzustehen. Alle Vögel haben aufgehört zu zwitschern, zumindest die im Dorf oder in nächster Nähe dieses Elend hautnah miterleben mussten. Selbst die Kühe und Schafe auf der Weide fragen sich, was gerade passiert.

    [Kamera Schnitt, Total Einstellung+Zeitlupe]:
    Jenzi ist getroffen! Neeeiiiin! Er fällt einem heldenhaften Soldaten gleich (andere Beobachter hätten vielleicht auf eine Schwalbe getippt oder gesagt, der hat sich einfach hingehauen) auf den unerbittlich harten Boden der Wiese, welcher genauso unerbittlich und hart wie das Wesens meines Stiefgroßvaters erscheint.
    Das grüne saftige Gras und der weiche Boden können seinen Fall nur unzureichend abmildern und wir sehen [in Slow Motion], wie er leicht federnd auf dem Selbigen landet.

    Die nächste Sequenz zeigt, wie Grasbüschel und Erdbatzen in einer epischen Explosions-Szene unter dramatischer Musik auf unseren Jenzi regnen [natürlich in Zeitlupe], wahrscheinlich ist auch noch irgendwo ferner Geschützdonner zu vernehmen.
    (Würde ich übertreiben, was ich natürlich nicht tue, würde jetzt noch ein Bild von einem einstürzenden Eiffelturm eingeblendet. Paris, Tokio and London Has Fallen und der Türke steht vor den Toren Wiens!)

    [Szenenübergang]:
    Stellen Sie sich vor, wie die Kamera vom Geschehen abschwenkt und auf die Eingangstür eines ca. 100 m entfernten Hauses zoomt. (Ich bin kein Kameramann, wahrscheinlich müsste die Kamera auf Schienen in einem leichten Zeitraffeffekt über den Hof, dann durch die sich öffnende Eingangstür über ein paar Gänge und Zimmer in die Küche zu Jensi’s Oma gefahren werden, wo selbige gerade Blumen gießt und selig an ihre Enkelkinder denkt (natürlich nicht an mich, ich bin ja nur der, den die Frau ihres Sohnes mitgebracht hat) und ein Liedchen trällert. [gefühlvolle, liebevolle Musik im Hintergrund]

    Da ein liebevoller Mensch immer spürt, wenn einem anderen geliebten Menschen etwas zustößt, wird ihr in einer Sekunde die Porzellangießkanne mit dem Blümchenmuster aus der Hand fallen und [in Zeitlupe] auf dem Boden zerschellen. Dann wird sie versuchen, wie Kirsten Dunst in der Eingangssequenz von Lars von Trier’s “Melancholia” in alptraumhafter Zeitlupe und nicht von der Stelle kommend, aus dem Haus zum Ort des Geschehens zu eilen. [schwere dramatische Musik, die die Spannung aufbaut]

    [Szenenwechsel wieder zum Ort des Hauptgeschehens]:
    Nach der Explosion hört man ganz dumpf und wie von weitem, Stimmen, Rauschen und Fiepen und sieht, wie “Privat” Jenzi, die Augen öffnet [Nahaufnahme/ Close Up] und sich (ganz langsam) erhebt. Schwelende Trümmerteile (also eher Grashalme) fallen von ihm ab. [Natürlich alles in leichter SlowMo]
    Er lebt! Privat Jenzi lebt! Da ihn die Sache etwas mitgenommen zu haben scheint, kommen natürlich auch ein paar vereinzelte Tränen der Erleichterung, die ihm in kleinen Rinnsalen den Explosionstaub vom Gesicht waschen und dann wie zarte Perlen des Schmerzes von der verbrannten Erde gierig aufgesaugt werden. [leichte Slow Motion+Nahaufnahme]

    Da meine Ohren durch diese epische Explosion noch fast taub zu sein scheinen und alles dumpf und weit weg klingt, [leichtes Fiepen] kann ich nur das wutverzerrte, jähzornige Gesicht meines Stiefgroßvaters auf mich zukommen sehen, der wild gestikulierend auf mich einzuschimpfen scheint. [Nahaufnahme/Close Up]
    Als sich der Nebel der Explosion endgültig lichtet und das Fiepen nachlässt, sehe ich ihn, wie er mir den Vogel zeigt, sich die flache Hand an seinen Sturkopf kloppt und mich anschreit: “Du musst doch blöde im Kopp sein, wohl keinen Geist im Koppe!” und im Mäntelchen seiner gerechten Empörung kopfschüttelnd und zornigen Schrittes das rauchende Trümmerfeld verlässt.


    [Abspann]:
    Jenzi und ich stehen beide etwas belämmert auf der schönen grünen Wiese, wie die Schafe meines Stiefgroßvaters auf der Weide.
    Selbst ihm scheint diese jähzornige Überreaktion seines (temporären) Fußball-Teamkameraden und (permanenten) Opas nicht ganz so zu behagen…

    Vielleicht könnte eine Kameradrohne das Bild von oben langsam immer mehr auszoomen [Zoom Out] oder ich blende einfach das Licht und die Erinnerung an diese Geschichte selber aus…
    [vielleicht noch etwas leicht nachdenkliche Musik zu Abspann, muss aber nicht sein]


    [After Credits Scene]

    Lieber “Opa” X und liebe “Oma” Y,

    da ihr mich fast nie beim Namen genannt habt, fällt es mir auch nicht schwer, euch genauso wenig beim Namen zu nennen.
    Ihr liegt nun schon einige Zeit unter der Erde und habt mich bestimmt schon längst vergessen, wie ihr auch immer gerne Weihnachten und meinen Geburtstag vergessen habt.
    Der kleine Junge in mir hatte damals deswegen auch einmal euren Sohn, (also den Mann der Frau, die mich mitgebracht hatte) gefragt, warum das denn so sei.
    Euer Sohn hatte dem kleinen Jungen daraufhin erklärt, dass ihr euch doch um soo viele Enkel kümmern müsst und dass es da auch mal vorkommen kann, wenn da ein Enkel “mal” vergessen wird. Das versteht natürlich der kleine Junge, aber eigentlich auch nicht so richtig, warum er das immer sein musste…

    Und wie ihr mich die ganze Zeit ausgeblendet habt, werde ich jetzt auch den Regler meiner Erinnerung auf 0 drehen und euch ganz langsam ausblenden… [langsame Ausblendung/ Fade Out…schwarzer Bildschirm]

    Ganz kurz noch ein Nachtrag in eigener Sache:

    Vorwort
    Diese Geschichte kann sich wohl zu jeder Zeit und an jedem Ort zugetragen haben und ich überlasse es der Phantasie des Lesers, was Wahrheit und was Fiktion sein könnte...

    Nachtrag: ... selbstverständlich werden bei meiner Geschichte keine echten Namen verwendet. Alle Namen und Informationen wurden zu illustrativen Zwecken geändert, um die Privatsphäre zu schützen und die Vertraulichkeit zu wahren.


    Nun geht's weiter...



    4

    In the Chambers

    Nachdem die alles ausfüllende Stimme wieder verebbt ist, kehrt in der Halle wieder Ruhe ein.
    Halle ist übrigens der falsche Ausdruck, es wirkt so, als würde der Raum keine festen Dimensionen besitzen, eher wie ein zerbrochenes Kaleidoskop oder teilweise eine optische Täuschung, in Fragmenten wie das Bild "Relativität" von M.C. Escher, (welches zwar jeder kennt, aber niemand weiß, wie es heißt und wer es gezeichnet hat.)

    Irgendwo verstärkt dieser surreale Eindruck das Gefühl, hier nicht richtig zu sein und ich werde eine gewisse Befremdung nicht los, aber ich weiß das noch nicht einzuordnen.
    Da ich aber denke, dass das eben jetzt in meiner Lage so sein muss, bleibe ich erstmal hier. Wo soll ich auch hin, wieder zurück zu IHR?

    Ich gehe an eine der riesigen Tafeln, die überall herumstehen und fange an, meine Gleichungen, Berechnungen und Lösungsansätze auszuführen.
    Nach einiger Zeit kommt eine Frau im grau grünen Drillisch zu mir, dessen Schnitt mich irgendwie an eine Uniform erinnert, aber in Form und Verarbeitung nur einen sehr niedrigen Dienstrang begleiteten zu scheint.
    Sie begrüßt mich freundlich, kommt aber nicht umhin, recht kritisch über meine Formeln und Berechnungen zu sehen, die für jeden gut einsehbar an der großen Tafel geschrieben sind. Ihr Ton bleibt freundlich, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass ein belehrender Unterton mitschwingt, bei dem ich mich frage, warum das nötig sein soll. Meiner Ansicht nach geht es doch darum, den Berechnungen der Anderen zuzuschauen und den besten Lösungsweg für sich zu finden, um die eigenen Formeln und Gleichungen am einfachsten und dauerhaft lösen zu können.
    Die Frau nickt mir trotzdem freundlich zu und geht weiter, wobei sie mich ein wenig an eine Pausenaufsicht erinnert und mich ein klein wenig bedröppelt stehen lässt.
    Leicht desillusioniert und in einem kleinen Verteidigungsmodus übergehend, schreibe ich unbeirrt meine Gleichungen weiter auf und versuche diese zu berechnen. Als ich mich kurz umdrehe, merke ich, dass viele Anwesende mir dabei stumm zu schauen. Da ich es noch nie gerne mochte, wenn mein Gegenüber keine Reaktion zeigt, gehe ich erst einmal meiner Wege und schaue mir andere Tafeln mit Berechnungen an.


    . . .


    1994 Balaton-Baby

    Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, warum wir kurz vor Siófok auf irgendeinem verlassenen Zeltplatz irgendwo in der Puszta unsere Zelte aufgebaut haben. Vage erinnere ich mich, dass etwas mit dem Auto gewesen sein muss, so dass wir erst im Dunklen hier ankommen und die Zelte aufstellen.
    Natürlich haben wir es auch nicht mehr geschafft, das tschechische Leergut, welches im Fußraum lustig, munter und multikulturell vor sich her klapperte, in ordentlicher deutscher Zuverlässigkeit dem ungarischen Pfandsystem zurück- oder eher einzuführen (und bei der Gelegenheit die leeren Flaschen in Volle umzutauschen).

    Das wäre doch mal ein Ost-West Joint Venture, Michail Gorbatschow wäre stolz auf uns gewesen. Zu der Zeit regiert aber schon sein Nachfolger, dessen Name später auch gern so manche Wodka-Flasche ziert. Mir fällt gerade ein, dass vielleicht auch Gorbi seinen Namen für ein Getränk hergegeben hat, in dem sich “des Wodkas reinste Seele” versteckt halten soll. Rein oder nicht rein, keine Frage, Wodka wäre jetzt vielleicht auch nicht schlecht, obwohl ich sonst nur Bier, Wein und höchstens Becherovka trinke und mich der Gedanke an Wodka eher abschreckt und ekelt. Aber egal, alles ist so fern und weit weg, wie die letzte Perestroika, Glasnost und der eiserne Vorhang.


    Auf alle Fälle bauen wir erstmal unsere Zelte auf. Als alles in Sack und Tüten oder besser gesagt, eher alles aus den Tüten heraus ist, (ich bin kein vorschriftsmäßiger Camper und meine Outdoor-Utensilien sind meistens in ein paar Penny-Markt-Tüten verstaut, wo ich nie das finde, was ich gerade brauche), gehe ich noch eine Weile zu einem Steg am See und kann mich nicht entscheiden, ob das Mondlicht ihn eher einladend oder doch eher gespenstisch wirken lassen soll. Ich überlege, ob ich nochmal kurz ins Wasser springe, aber mir kommt das im Dunkeln etwas zu gruselig und seltsam vor.

    Es ist so ein generalisiertes Unbehagen vor dieser lauernden und unergründlichen Schwärze und der Gedanke daran, hier im Dunklen frisch und fröhlich zu planschen, setzt in mir eher Urängste frei. Trotz dass das nicht der Amazonas, sondern nur ein harmloser kleinerer See irgendwo im Niemandsland der ungarischen Puszta ist, muss ich an mir feindlich gesinnte Bewohner dieses Gewässers denken, die hier irgendwo in diesem flüssigen Schwarz zu Hause sein könnten und das generalisierte Unbehagen vor dieser flüssigen Finsternis noch verstärken.
    (Jahre später werde ich feststellen, dass die Beschreibung dieses dunklen Sees auch in Teilen sehr gut auf meine Droge passen könnte, die ich nie wirklich immer nur arg- und bedenkenlos konsumiert habe. Aber da genau diese unheimliche Flüssigkeit mir auch die Bedenken vor ihrer Unheimlichkeit und Unkontrollierbarkeit genommen hat, war es schwierig, wortwörtlich einen klaren Kopf zu bewahren und mich auf meine damals nur spärlich vorhandene Intuition zu verlassen.)
    Aber da es noch lange nicht so weit ist, und ich sonst nichts mit mir anzufangen weiß, gehe ich einfach wieder zu den Zelten und versuche zu pennen.


    Ich habe mich schon immer etwas schwer mit dem Ankommen nach einer längeren Reise an fremden Orten getan. Ich brauche einfach ein paar Momente, um mich an das neue Ambiente zu gewöhnen.

    [Der Hobbypsychologe in mir doziert gerade mit erhobenem Zeigefinger, Hornbrille und gewichtiger Stimme, dass das vielleicht etwas mit meiner doch etwas (wortwörtlich) “bewegteren” Kindheit, die immer oft an anderen Orten, wechselnden Kindergärten und Schulen stattgefunden hat, zu tun haben könnte. In welcher sich der kleine Junge in mir immer wieder neu darauf einstellen musste, was ihn denn nun “schon” wieder “Neues” erwartet. Meistens war es dann doch nicht ganz so angenehm und der kleine Junge war zum Schluss froh, als er mit blauer, geschwollener Wange (die vielleicht dadurch entstand, weil dem damaligen Lebensgefährten seiner Mutter im Suff die Hand ausgerutscht sein muss) und samt dieser aufgelösten Mutter im Gepäck wieder in den sicheren Hafen der Großeltern einfahren konnte.
    Seltsamerweise tat dem kleinen Jungen damals sogar der damalige Lebensgefährte seiner Mutter leid und er war versucht, den Lebensgefährten seiner Mutter zu trösten, als dieser aufgelöst und unter Tränen, Junge und Mutter anflehte, nicht zu gehen.
    Der kleine Junge konnte gar nicht verstehen, warum denn schon wieder ein Ortswechsel nötig war. Wiederum stellte sich bei ihm aber eine große Erleichterung ein, als er die Gegend um das großelterliche Haus erblickte.
    Aber trotzdem konnte der kleine Junge auf diesen Mann, der als Berufsschullehrer bestimmt jede Menge Stress, ab und an mal eine andere Frau und es wohl enorm nötig hatte, sich daraufhin in gerechtfertigter Weise jeden Abend über eine halbe Pulle Goldkrone einzufädeln, nicht böse sein.
    Da kann auch schon mal die Hand ausrutschen, das versteht der kleine Junge von damals.]


    Wie auch immer, mir fehlt meine Umgebung oder eher mein Ablauf im alten Sportlerheim, mit meinen abendlichen Flaschen Wein bei Sonnenuntergang, wo mir jetzt die Erinnerung daran so eine Art verblassendes Heimatgefühl und entfernte Geborgenheit vermittelt.
    Und mir fehlt vor allem dieser Wein, weil es eben Abend ist, die Sonne schon untergegangen ist (und es eben die Flaschen Wein sind, die mir das Heimatgefühl und Geborgenheit vermitteln, was mir aber zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht in vollem Umfang bewusst ist)

    [Mein Lektor weist mich gerade darauf hin, dass sich die letzten Sätze wie ein Zirkelbezug lesen. Aber es stellt auch meine damalige Unfähigkeit dar, nicht über den Tellerrand blicken zu können und einem ausgehungerterm Tier gleich die Schnauze in den nächsten herumstehenden Fressnapf zu stecken, ohne überhaupt nach Risiken und Nebenwirkungen zu fragen. In mir keimt zwar schon manchmal so eine Ahnung, aber ich möchte lieber nicht den Apotheker fragen und mache mir etwas Hoffnung damit, das Medikament irgendwann “später” abzusetzen.]

    Ich merke auch, dass mir das erste Mal nach meinem Rauchstopp wirklich die Kippen fehlen. Ich habe früher manchmal die etwas besinnlicheren Momente geschätzt, gerne zum Abend noch die eine oder andere Zigarette geraucht, die Abendstimmung in mich aufgenommen und über den Tag resümiert.
    Nun habe ich weder Kippen noch mein neu entdecktes Tonikum und der Abend fühlt sich irgendwie etwas seltsam und eher nicht sehr besinnlich an.
    Und da mein tschechisches Bier langsam von meinem zuverlässigen deutschen Stoffwechsel unaufhaltsam und emsig, wie wir Deutschen eben sind, beinahe deutscher Ingenieursleistung gleich, abgebaut wird, (ich sozusagen langsam ausnüchtere), fühlt sich alles etwas seltsam ernüchternd an…


    Siófok

    Es ist ein entspannter Vormittag, der minimal diesig wirkt, aber die Sonne, diese alte Angeberin, schon in den Startlöchern steht und nur darauf wartet, wie die Tage und Wochen zuvor, ihr Licht vor diesem azurblauen Firmament zu präsentieren, welches als Nebenprodukt diese tropische Sommerluft oder eher diese geile Urlaubsatmosphäre erzeugt, die sich beinahe mediterran anfühlt.


    Ich bin mir nicht sicher, ob 1994 die Hotpants erfunden wurden, aber zumindest werden sie dieses Jahr von fast allen Mädchen hier und wahrscheinlich auch auf dem Rest der Welt getragen, was mir und meinen Kumpels keineswegs unangenehm auffällt.
    Weil sich im Leben aber immer alles ausgleicht, haben viele Kerle lange Latzhosen an. Weil es ihnen scheinbar zu warm wird, sie sich aber nicht von den schützenden Beinkleid trennen wollen, wird die Latzhose gern zu nacktem Oberkörper getragen, so kann die Luft besser zirkulieren. Mit dieser praktischen Lösung wird ein perfektes Yang zum Yin der Hotpants hergestellt.
    (Ich bin berechtigt zum lästern, ich bin nämlich ebenfalls oben ohne und trage eine Lee-Latzhose, bei welcher immer die verflixten Bügel der Träger locker werden und ich mit dem Schnitt eigentlich nie so ganz glücklich werde, es war halt ein Krampf-Kauf)
    Nun ja, verlieren werde ich sie so schnell nicht, weil wir hier ganz entspannt flanieren und erstmal ganz smooth die Lage checken.
    By the Way, da mir wegen fehlendem Oberteil nicht zu warm ist, trage ich noch recht robuste gelbe Caterpillar-Boots und bin damit aber auch nicht allein. [Vielleicht waren es aber auch Palladium oder Chucks und vielleicht in dem Moment auch keine Latzhose, die Zeit ist so lange her und die Erinnerung spielt manchmal auch einen Streich, aber zumindest war ich für ‘94 sehr gut gestylt und integriert.]

    Aber ehrlich gesagt, kann ich mich derzeit wirklich sehen lassen. Durch den langen Sommer, der nicht zu enden scheint und das tägliche Arbeiten an der frischen Luft, bin ich braungebrannt und sehe gesund aus, wie lange nicht mehr. Meine “Nick Kamen” Frisur ist auch endlich längeren Haaren gewichen, was mir, wie ich finde, zur Zeit sehr gut steht und auch in den 94er Style sehr gut passt.
    Durch meinen wochenlangen “gesunden Lebensstil” im Vorfeld, welcher die täglichen abendlichen Flaschen Wein, das relativ zeitige Zubettgehen und entspanntem Schlaf beinhaltet und dem Wissen, über einen Schlüssel zur Aktivierung einer Superkraft zu verfügen (welchen es zudem hier auch an jeder Ecke zu geben scheint und bunt beworben wird), sind meine Gesichtszüge, meine Haltung und Bewegungen deutlich entspannter und selbstbewusster geworden. Mir fällt es in dieser Zeit wirklich sehr leicht, mit Blicken zu flirten und oft ein Lächeln (und zu gegebener Zeit manchmal auch mehr) zurückzubekommen.

    Apropos überall erhältliche und beworbene Superkraft: In meiner Erinnerung bringe ich noch sehr lange die Marke Heineken, auch diese bunten Werbeschilder, diese grünen 0,33l Bierflaschen mit diesem eiskalten, leichten und frischen Geschmack, welcher nicht so herb wie das gute einheimische Adelskrone Pils aus der Dose daherkommt, mit dieser Zeit von damals, dieser Lebensart und dem dazugehörigen Gefühl, wo alles so in Ordnung schien, ich mich so frei und glücklich fühlte, in Verbindung.
    Viele Jahre später werde ich halb lallend, (dauer)müde und breit, nach unzähligen Kippen (die ich eigentlich nicht rauchen wollte) und vielen Flaschen der einheimischen Billig-Lurge (die ich eigentlich nicht trinken wollte), in irgendeiner Mensa mit einer überteuerten Flasche Heineken dastehen. Und ich werde diesen Geschmack oder eher diesen goldenen, “unschuldigen” Rausch, der mit diesem Geschmack in Verbindung stand, diese Erinnerungen an damals, an meine Superkraft, die mit dieser Droge einherging, suchen, aber nie wieder in dieser vollen reinen unschuldigen Intensität finden…]


    Wie auch immer, noch ist diese Zeit nicht heran und meine Kumpels und ich betrachten gerade das Publikum oder besser gesagt, die Akteur’innen, die in Scharen ungerührt in oben erwähnter (Ver)kleidung an uns vorüberziehen. Für mich, der bis jetzt nur Zelten an der Ostsee kannte, Ballermann und Co. nicht kennt und später auch nicht kennenlernen wird (und das auch nie vermisst hat), wirkt die ungarische Partymeile wie kleines buntes Eldorado aus einer anderen Welt.
    Ich lasse diesen bunten Trubel auf mich wirken, aber trotz der obigen Beschreibung meiner positiven äußerlichen Zustandes, kommt ein ganz klein wenig wieder das Gefühl von früher auf, nicht wirklich zu dieser schönen und ausgelassenen Welt dazuzugehören, irgendwie nicht ganz so schön und wertvoll wie die Anderen zu sein…

    Aber die Feierlaune überwiegt natürlich und noch habe ich mein L.S.I., was mich im Moment noch nicht schwächt und mir eher die Superkraft verleiht, auf die ich so lange in meinem Leben gewartet habe. Und so freue ich mich auf die Partynächte der nächsten Tage.