Scham - sind wir verantwortlich für unsere Alkoholsucht?

  • Ich möchte einmal ein Thema zur Diskussion stellen oder anregen, darüber nachzudenken.

    Ein Thema, was mir im Bezug auf den Alkohol immer wieder begegnet ist die Scham darüber, ein Alkoholproblem entwickelt zu haben oder sogar sich als Alkoholiker zu bezeichnen oder so gesehen bzw. eingestuft zu werden. Und mir ging es nicht anders, anfänglich viel es mir unendlich schwer einzugestehen, dass ich ein Problem mit Alkohol habe. Und auch diese Scham, dieses Nichtakzeptieren hat mutmaßlich mit dazu beigetragen, dass ich mich nicht meinem Problem gestellt habe.

    Nun bin ich vor kurzem über einen Podcast gestolpert, der dazu anregt darüber nachzudenken, inwiefern sind wir eigentlich verantwortlich für unseren Alkoholmissbrauch oder unsere Sucht? Wo liegt eigentlich unserer Eigenverantwortung und warum schämen wir uns so tief?

    Ich habe mittlerweile ein sehr schales Gefühl bei Aussagen oder Aufrufen, die den Konsum von Alkohol auf der einen Seite legitimieren, aber gleichzeitig zur Vorsicht aufrufen. Ihr kennt sie alle:

    Kenn dein Limit
    Drink responsibly
    Bier bewusst genießen
    Safe Drinking

    Auf Zigarettenschachteln sind mittlerweile in den meisten Ländern fürchterliche Fotos aufgedruckt und Sprüche vermerkt, die uns den Tod und Teufel vom Himmel versprechen sollten wir rauchen.

    Aber eine Droge, die 9.000.000 problematische Konsumenten (Stand 2021) hervorbringt, dort ist man noch dem rethorischen Darstellung der Warnhinweise selber verantwortlich?

    Weil man sein Limit nicht kannte? Weil man nicht verantwortungsvoll getrunken hat? Weil man Bier, wie so viele, nicht bewusst genossen hat?

    Lasst Euch das mal bitte ganz in Ruhe auf der Zunge zergehen für was man im Endeffekt verantwortlich gemacht wird.

    Hat jemand jemals gesagt:

    Heroin bewusst genießen?
    Speed sicher schnupfen?
    Kenn dein Kokain-Limit?

    Ich glaube, die Schamdebatte und das eigene Gefühl, sich schämen zu müssen hat sich überholt. Man ist einer Droge erlegen, niemand hat sich vorgenommen und wissentlich gesagt: Jetzt werde ich aber mal alkoholsüchtig, da habe ich so richtig Lust drauf. Wir haben das Zeug unterschätzt und sitzen nun in der Patsche.

    Nein, ich meine, man muss sich nicht schämen. Die Debatte was Alkohol alles anrichten kann, muss härter und intensiver geführt werden. Und, vor Alkohol muss stärker und intensiver gewarnt werden.

    Meine Meinung. Und mir persönlich gefällt der Gedanke, nicht verantwortlich zu sein, sich nicht schämen zu müssen, sehr gut. Das macht mir persönlich die Abstinenz viel leichter und unterstreicht erst Recht meinen Willen, dem Alkohol zu entsagen. Weil man nicht verantwortlich ist, wenn man süchtig wird. Der Alkohol ist verantwortlich. Aber für eines sind wir verantwortlich: Aus dem Sucht wieder herauszukommen.

    Eure Gedanken?

  • Ich glaube, es ist ganz einfach.

    Wir sehen ständig Menschen, die Alkohol trinken und es danach wieder sein lassen. Bei mir/uns war das anders. Und das lässt uns an uns selbst zweifeln. Wir stellen uns die Frage: Warum kann ich mit Alkohol nicht so umgehen, wie das die meisten Menschen augenscheinlich tun? Was stimmt mit mir nicht?

    Und so kommt eben doch ein Gefühl der Scham auf.

    Ganz sicher ist es so, dass das Gefühl der Scham unangebracht ist. Aber seit wann richten sich Gefühle danach, ob sie angebracht sind oder nicht?

    Und irgendwann ist die Scham auch weg. Bis mir war das Gefühl der Scham in dem Augenblick wie weggeblasen, nachdem ich wusste, dass ich die Kraft habe, den Teufelskreis zu verlassen. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich kein Problem mehr darüber zu sprechen, dass ich bislang abhängig war.

    Bassmann

  • Der Begriff der Verantwortlichkeit wird gerade zu Beginn von Therapeuten gerne gewählt, um den der "Schuld", der zu vorwurfsvoll klingt, zu umschiffen. Dieser überfordert den Neuling womöglich.

    Ja, ich bin verantwortlich, in die Spirale des abhängigen Trinkens geraten zu sein. Aufgrund meines Werdegangs, meiner Ausbildung, meines intellektuellen Zuschnitts war mir klar, dass mein zunehmend stärkerer Konsum so enden musste. Nur habe ich genau dies seinerzeit verdrängt und mir den Alkohol schön geredet und gezeichnet. Dafür bin allein ich und sonst niemand verantwortlich.

    Ich habe mich jedoch meiner Verantwortung gestellt und mich frei geschwommen.


    Klar ist die Scham groß, wer gesteht sich denn schon gerne ein, eine Suchterkrankung aufzuweisen. So eine Krankheit ist schlecht beleumundet. Freiwillig habe ich sie mir nicht ausgesucht, jedoch habe ich meinen Frieden mit ihr gemacht. Auch das ist ein Teil meiner Verantwortung.

  • Es gab Umstände in meinem Elternhaus, die dazu geführt haben, dass ich in jungen Jahren zum Alkohol gegriffen habe. Das konnte ich damals nicht sehen, weil mir die Einsichtsfähigkeit und geistige Reife als Teenager fehlte. Die Umstände waren zwar maßgeblich, aber der Alkohol war mein Weg. Ich hätte auch einen anderen Weg wählen können. Habe ich aber nicht, denn der Alkohol hat zu gut geholfen. Ich sehe es als eine Mischung aus bedingtem Vorsatz und grober Fahrlässigkeit: Ich hielt es für möglich, dass ich aufgrund meines Konsums in der Sucht lande, es war mir jedoch bis zu einem gewissen Grad egal, weil ich voll in Selbstzerstörungsmodus unterwegs war, aber ich hatte auch die Hoffnung, dass es anders kommt und alles wieder gut wird. Die Verantwortung allein dem Alkohol zu geben, halte ich für zu kurz gedacht. Klar, der Alkohol ist stets da und immer verfügbar, er macht abhängig, aber sofern er einem nicht unter Zwang intravenös zugeführt wird, trinkt man ihn immer noch aus freiem Willen. Der Alkohol ist ein Weg, den man für sich wählt, weil er am Anfang auch geholfen hat. Und zwar besser als alle anderen Alternativen, die zur Verfügung standen. 🤷‍♀️

    Ich persönlich schäme mich nicht für meinen Alkoholismus, sonst könnte ich den Podcast ja auch nicht machen. 😅 Aber ich schäme für die eine oder andere Sache, die ich im Konsum und in der Sucht so angestellt habe. 😉 Da bin ich über meine eigenen oder halt die Grenzen Anderer gegangen. War gerade anfangs schwierig auszuhalten vom Gefühl her, aber inzwischen komm ich damit gut klar. Wie Rekonvaleszent schon geschrieben hat: Ich hab meinen Frieden damit gemacht. Zumindest die meiste Zeit. 😁🖖🏻

  • Ich hab mal die Frage, weil ich es gerade an einer anderen Stelle wahrgenommen habe, das dort die Aussage im Raum steht, dass ein jeder weiss, wohin übermäßiger Alkoholkonsum führen kann.

    Und ich frag das mal ganz direkt: Weiß ein jeder das wirklich?

  • Zitat

    ...das dort die Aussage im Raum steht, dass ein jeder weiss, wohin übermäßiger Alkoholkonsum führen kann. Und ich frag das mal ganz direkt: Weiß ein jeder das wirklich?

    Ich muss gestehen, dass ich die Fragestellung nicht ganz verstehe... das kleine Wort "ein jeder" lädt ja geradezu zu Verallgemeinerungen ein. Und davor versuche ich mich eigentlich zu hüten wo ich kann.

    Wenn ich von mir berichte, so kann ich nur sagen, dass es durchaus eine Zeit gab in der ich nicht wusste in welch verhängnisvolle Verstrickungen ich mich da begab. Ich war da ziemlich leichtsinnig. Es gab sogar eine Zeit, als junger Erwachsener, da hängte ich meine 'extreme Experimentierphase' sozusagen an den Nagel, und lies alle möglichen anderen Substanzen von da an konsequent hinter mir. Aber der Alkohol blieb mir erhalten, und sollte für mich auch erst noch zum Fallstrick werden. Zu dieser Zeit noch: war es "normal" für mich das ich regelmäßig und oft auch exzessiv trank. Und es war "normal" für mich, dass nahezu alle meine Freunde und Bekannten mit denen ich mich umgab mehr oder weniger oft Alkohol tranken. Es gehörte sozusagen zum guten Ton dazu.

    Insofern muss ich, zum Thema hier, auch ganz ehrlich sagen, dass ich mich eigentlich auch für nichts schäme. Also weder für die Zeit in der ich trank, es gehört zu meinem Leben dazu und ich habe ja auch viel Spaß gehabt (und die Verantwortung für mein Handeln auch immer getragen); als auch ebenso nicht für meine Entschlüsse, die ich vor etwa zehn Jahren fasste, ein nüchternes Leben zu führen. Es würde doch nichts bringen mich für Vergangenes zu schämen, das würde es ja auch nicht ungeschehen machen. Und über das Leben das ich jetzt führe, bin ich einfach nur dankbar und glücklich, und ja, auf manche Dinge die ich bisher erreicht habe auch etwas stolz.

  • ... das dort die Aussage im Raum steht, dass ein jeder weiss, wohin übermäßiger Alkoholkonsum führen kann.

    Und ich frag das mal ganz direkt: Weiß ein jeder das wirklich?

    In Deutschland werden circa 10 Liter reiner Alkohol pro Kopf/Jahr (Lebensalter: 15 Jahre und älter) konsumiert. Das entspricht so ungefähr 20 Gramm reiner Alkohol pro Tag. Also ein 1/2 Liter Bier oder 0,2 Liter Wein.

    Das ist nicht wenig, da es sich hierbei um Durchschnittswerte handelt. Trinkt der Durchschnittsdeutsche einen Tag keinen Wein, müsste er am nächsten Tag schon 0,4 Liter trinken, um wieder im Durchschnittsbereich zu landen. Wenn man dann noch die mittlerweile durchaus nicht ganze geringe Anzahl der Nicht- und Wenigtrinkern berücksichtigt, wird klar, dass der verbleibende Rest schon recht hohe Mengen an Alkohol konsumieren muss, damit die o.g. Durchschnittsmengen auch erreicht werden.

    Die Frage war ja nicht, ob viele Menschen "übermäßig" Alkohol konsumieren, sondern, ob ihnen bewusst ist, wohin das führen kann. Ich denke eher nicht. Ich persönlich fand Wenigtrinker unsympathisch. Gar-Nicht-Trinker fand ich noch merkwürdiger. Eine nach meinem damaligen Empfinden eher bemitleidenswerte Spezies. Warum sollte ich mir also Sorgen machen um meinen Konsum? Ich stand auf der richtigen Seite, hatte aber auch nie exzessiv getrunken, was mich in meiner Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, noch mehr bestärkte. Ich trank halt "nur" regelmäßig.

    Ich hatte bereits ein halbes Jahr vor meinem damaligen Alkohol- und Nikotin-Stop meinen Alkohol- und Nikotinkonsum deutlich gesenkt. Obwohl meine damalige Abstinenz aus einer Phase mit sehr moderatem Konsum erfolgte, waren die Effekte der Abstinenz für mich nach einigen Wochen direkt spür- und erlebbar. Für mich ist seitdem klar, dass ich - obwohl ich kein Alkoholiker bin - jetzt und künftig Alkohol nur in zeitlich größeren Abständen und sehr gering dosiert trinken werde. Trinken "auf Wirkung" ist für mich kein Thema mehr. Den "Zauber" hatte der Alkohol allerdings auch schon Monate vor meiner zeitweisen Abstinenz verloren. Vielleicht gab es diesen Zauber auch nie und es war auch schon damals eine Illusion - keine Ahnung. Das Zeugs interessiert mich einfach nicht mehr. Die letzte Zigarette habe ich vor gut einem Jahr geraucht. Bemerkenswerterweise triggern mich Zigaretten in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder, aber bisher nicht in dem Maße, dass ich nicht widerstehen konnte.

    Nun bin ich vor kurzem über einen Podcast gestolpert, der dazu anregt darüber nachzudenken, inwiefern sind wir eigentlich verantwortlich für unseren Alkoholmissbrauch oder unsere Sucht? Wo liegt eigentlich unserer Eigenverantwortung und warum schämen wir uns so tief?

    Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich nicht die Reißleine gezogen hätte, Alkoholiker geworden wäre. Vielleicht wäre es jetzt schon soweit, vielleicht in drei oder vier Jahren. So konnte mein Leben neu gestalten und bin wirklich dankbar, dass ich diese Chance erhalten habe, ohne erst Tiefpunkte erkunden zu müssen. Jetzt könnte ich hier rumtönen und behaupten: Seht her, man kann den tiefen Fall in die Sucht vermeiden, indem man vorher abbiegt. Letztlich war es bei mir eher ein Glücksfall, dass ich die Abbiegung noch vor der Klippe gefunden habe. Da mache ich mir selbst nicht vor. Man ist vielleicht insofern "verantwortlich" für seine Sucht oder gar seine Süchte, als man in seinem bisherigen Leben zu wenig Wert auf ein erfülltes Leben gelegt hat.

    Ich habe mittlerweile ein sehr schales Gefühl bei Aussagen oder Aufrufen, die den Konsum von Alkohol auf der einen Seite legitimieren, aber gleichzeitig zur Vorsicht aufrufen.

    Mein Eingangsstatement zeigt auf, dass zu viel Alkohol getrunken. So gesehen hast Du zweifelsohne recht, wenn Dich die Teil-Legitimierung des Alkoholkonsums stört. Andererseits gibt's auch nicht wenige Menschen, die tatsächlich sehr moderat trinken und bei denen man tatsächlich sagen kann, dass diese Personen "Genusstrinker" sind. Generell fehlt schon das Bewusstsein in großen Teilen der Bevölkerung, dass Alkoholkonsum schon ein Ritt auf der Klinge ist. Man kann auch fallen. Das sollte jedem bewusst sein, ist es aber nicht. So gesehen teile ich Deine Aversion gegen gewisse Werbeslogans durchaus.


    Ein "Ritt auf der Klinge" sind allerdings auch so manch andere Sachen, die wir heutzutage nur allzu gern zelebrieren: Internet-Konsum, Sport als Droge, Ernährungs- und Selbstoptimierungswahn, etc., etc. Diese "Disziplinen" haben ebenfalls das Potenzial, dass man bei deren "Nutzung" die Kontrolle schneller verliert als es einem lieb ist. Bei mir war beispielsweise bis vor Kurzem die tägliche Dosis meiner Internetnutzung (viel) zu hoch. Ich habe wirklich gestaunt als ich das Ganze mal über einen gewissen Zeitraum getrackt habe. By the way: Internetforen sind in diesem Kontext auch nicht gerade Nebenwirkungs-frei ;)

    Es gibt also durchaus andere Drogen, die ihre Fühler ständig nach uns ausstrecken und die man folglich kritisch hinterfragen sollte, da sie einem ansonsten auch schnell ein Nikotin- und Alkohol-freies Leben verhageln können.

  • Vielen Dank für Eure Beiträge 👍 Das Thema Scham greife und die Verantwortung greife ich deswegen auch, ich habe mich längerer Zeit gefragt wie ich selber dazu stehe. Und in der ersten Zeit habe ich mir schon ziemliche Vorwürfe gemacht und sah mich auch immer in der Rechtfertigung gegenüber meinem Umfeld, warum ich nun abstinent bin. In meiner Blase bin ich bislang auch weiterhin der einzige, der sein Trinken komplett eingestellt hat. Und da bekommt man schon in Gesprächen öfters mal mehr oder weniger indirekt Häme, Vorwürfe oder Unverständnis ab.

    Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich nicht die Reißleine gezogen hätte, Alkoholiker geworden wäre. Vielleicht wäre es jetzt schon soweit, vielleicht in drei oder vier Jahren. So konnte mein Leben neu gestalten und bin wirklich dankbar, dass ich diese Chance erhalten habe, ohne erst Tiefpunkte erkunden zu müssen. Jetzt könnte ich hier rumtönen und behaupten: Seht her, man kann den tiefen Fall in die Sucht vermeiden, indem man vorher abbiegt. Letztlich war es bei mir eher ein Glücksfall, dass ich die Abbiegung noch vor der Klippe gefunden habe. Da mache ich mir selbst nicht vor. Man ist vielleicht insofern "verantwortlich" für seine Sucht oder gar seine Süchte, als man in seinem bisherigen Leben zu wenig Wert auf ein erfülltes Leben gelegt hat.


    Was Du beschreibst ist so der Punkt der mich umtreibt. Und wenn ich da schonungslos ehrlich bin, muss ich mir eingestehen, für eine längerer Zeit wirklich mehr als grenzwertiges Verhalten gezeigt zu haben. Ich bin mir auch ziemlich sicher, bei meinem Absprung war es 10 nach 12, ich habe wirklich ernsthaft Glück gehabt, keine oder kaum körperliche Reaktionen bekommen zu haben, was bei meinem Konsum nicht verwunderlich gewesen wäre.

    Und da denke ich schon drüber nach, wo begann meine Verantwortung meinem Alkoholkonsum Einhalt zu gebieten und wo habe ich angefangen eine Grenze zu überschreiten. Vor 10 Jahren habe ich einmal einen massiven Schuss vor den Bug bekommen, aber ich war nicht soweit dort mein Handeln mit Alkohol wirklich zu hinterfragen und zu reflektieren. Deswegen, nach einer Trinkpause von 6 Monaten, habe ich wieder angefangen. Deswegen überlege ich die ganze Zeit, konnte ich wirklich mein Handeln steuern und ich hab da Schwierigkeiten eine Antwort zu generieren. Ich glaube, ich wusste es einfach nicht besser, mir war einfach nicht bewusst was ich da tue und auf was ich zusteuere. Ich habs schlicht ignoriert und mich treiben lassen.

    Fatal, eigentlich. Das Bewusstsein wiederum, sich als Ziel ein erfülltes Leben aufzubauen, kam erst jetzt. Oder ich weiß erst jetzt richtig zu schätzen, was ich an mir habe, was für ein Potential in mir schlummert. Das wird im Rausch, vor allem im süchtigen Rausch, mit einer dicken Decke überdeckt.

    Und die Scham, ja, gut, die habe ich mittlerweile komplett abgelegt, zum Glück gibt es nur ganz wenig Dinge, für die ich mich wegen meines Verhaltens wirklich schämen müsste, manches war einfach massiv dumm. Wofür ich mich aber geschämt habe war in den Tiefpunkten keinen Ausgang zu finden und vielleicht nicht aktiv geworden zu sein, um mir Hilfe zu holen. Es ist halt echt schwierig, finde ich, eine alkoholproblematik offen zuzugeben. Das ist eine riesen Hürde, wie ich finde.

  • das dort die Aussage im Raum steht, dass ein jeder weiss, wohin übermäßiger Alkoholkonsum führen kann.

    Und ich frag das mal ganz direkt: Weiß ein jeder das wirklich?

    Ich komme mit dieser Fragestellung, aber aber auch mit der Aussage nicht so ganz zurecht.

    Wer ist denn mit „ein jeder“ gemeint? Ist das im Kontext jener Aussage, auf die du dich beziehst, etwas näher definiert?

    Zweitens sinniere ich über dieses Wörtchen „wissen“. Interessant finde ich, dass - FORTUNE - es mit „sich bewusst sein“ gleichgesetzt und mit diesem Wort ersetzt hat. Was bedeutet denn überhaupt „wissen“?

    Zwischen „wissen“ und „sich einer Sache bewusst sein“ sehe ich doch noch einen Unterschied und selbst der Begriff „wissen“ kann unterschiedlich ausgelegt werden.



    Wenn ich an die erwachsenen Menschen, mit denen ich im Laufe meines Lebens so Umgang gepflegt habe, denke, so kannten diese in der Regel mindestens einen Menschen, der/die Alkoholiker war. Diese dürften sich zu diesem Thema durchaus eigene Gedanken gemacht haben und mit einer Art von „Wissen“ - was auch immer das genau ist/war - leben.


    Von Interesse dürfte im Zusammenhang der o.g. Fragestellung sein, ob dieses „Wissen“ entsprechende Konsequenzen für den Umgang mit Alkohol gehabt hat.


    Ich kürze ab: Hat es kaum.


    Was ich bei einigen von denen und auch bei mir selbst bemerken durfte, war, dass dieses „Wissen“ im eigenen Umgang mit Alkohol keine besonders große Rolle spielte bzw. bei dem einen oder anderen noch spielt. Ich hab das schlichtweg verdrängt bzw. ich lebte in dem Bewusstsein, dass mein Konsum eben nicht „übermäßig“ sei, sondern voll im Rahmen. - Fragt mich im Nachhinein nicht, wie ich zwei Flaschen Wein/Sekt am Abend für „nicht übermäßig“ halten konnte, das könnte ich euch jetzt nicht mehr beantworten. - Und nach dem, was ich von den anderen höre, halten die ihren Konsum (der definitiv über den Grenzwerten der Empfehlungen liegt) nicht für „übermäßig“.

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Die Frage war ja nicht, ob viele Menschen "übermäßig" Alkohol konsumieren, sondern, ob ihnen bewusst ist, wohin das führen kann. Ich denke eher nicht. Ich persönlich fand Wenigtrinker unsympathisch. Gar-Nicht-Trinker fand ich noch merkwürdiger. Eine nach meinem damaligen Empfinden eher bemitleidenswerte Spezies. Warum sollte ich mir also Sorgen machen um meinen Konsum? Ich stand auf der richtigen Seite, hatte aber auch nie exzessiv getrunken, was mich in meiner Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, noch mehr bestärkte. Ich trank halt "nur" regelmäßig.

    Ich bin auch der Meinung, dass ich sehr wenige Menschen wirklich bewusst sind, wohin ihr Konsum letztendlich führen könnte. Auch habe ich jahrelang meinen Konsum anhand der Skala des Trinkkonsums anderer gemessen und mich teilweise beruhigt/ in Sicherheit gewogen. Auch waren Wenigtrinker bzw. eher Garnicht-Trinker eine sehr seltsame Spezies für mich und schwer nachvollziehbar. Nichtraucher habe ich wiederum für ihre Freiheit beneidet, weil sie nicht rauchen "mussten" und habe ebenfalls lange und oft vergeblich nach dieser Freiheit gestrebt, wie es ja auch letztendlich mit dem Alkohol war.

    Aber gerade beim Alkohol erschien mir die Abstinenz lange als wenig erstrebenswert, eher als Einengung meiner Freiheit und Aufgabe einer "guten Beziehung", die sich in jede Faser meines Lebens geschlichen hatte.

    Im Vergleich damit ist mir aber diese jetzige (echte) Freiheit unabdingbar geworden und ich möchte diese Klarheit, diesen Friede und die Selbstbestimmung (und auch dieses "Wunder" nicht mehr trinken zu müssen) nicht mehr missen.


    Für mich ist seitdem klar, dass ich - obwohl ich kein Alkoholiker bin - jetzt und künftig Alkohol nur in zeitlich größeren Abständen und sehr gering dosiert trinken werde. Trinken "auf Wirkung" ist für mich kein Thema mehr. Den "Zauber" hatte der Alkohol allerdings auch schon Monate vor meiner zeitweisen Abstinenz verloren. Vielleicht gab es diesen Zauber auch nie und es war auch schon damals eine Illusion - keine Ahnung. Das Zeugs interessiert mich einfach nicht mehr.

    Ich kann diese Gedanken aus früheren "abstinenten" Wochen, Monaten und auch Jahren sehr gut nachvollziehen, aber zumindest bei MIR haben sich nach diesen Betrachtungen und des einhergehenden Vorsatzes, ab und zu oder in großen Abständen mal eine geringe Menge zu konsumieren, immer recht schnell alte Muster eingestellt. Zumal der Vorsatz oft in einem entspannten nüchternen Lebensabschnitt (und nicht unter Stress) enstanden ist, aber das Leben (zumindest bei mir) oft gerade stressige Momente in Trinkzeiten generiert hat.

    Ich mag vielleicht Alkoholiker sein oder schon von der Klippe gestürzt (wo ist eigentlich die Grenze?) Und ich sehe das für mich eigentlich eher so, dass zumindest die "harte Nadel" Alkohol tiefe Kratzer auf meiner Festplatte hinterlassen hat. Und ich spüre auch, wie diese Kratzer langsam wieder beginnen, zuzuwachsen. Aber ich bin mir recht sicher (und habe das auch mehrmals erlebt), dass, egal wie sanft und dosiert ich mir auch vornehme, die Nadel wieder auf die alte Platte zu setzen, es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese Nadel wieder in die alte Rille rutscht.

    Das ist mein eigenes Erleben und es gibt ja wirklich Unterschiede im Trinkverhalten, Intensität und Zeitfenster und vielleicht auch demzufolge Abstufungen der Sucht. Aber wäre es überhaupt eine Sucht, wenn ich es kontrollieren könnte?

    Ich für mich finde die Grenze/ Definition recht schwammig und habe gerade diese Grauzone genutzt, um recht lange noch vor der Klippe zu stehen.


    Ein "Ritt auf der Klinge" sind allerdings auch so manch andere Sachen, die wir heutzutage nur allzu gern zelebrieren: Internet-Konsum, Sport als Droge, Ernährungs- und Selbstoptimierungswahn, etc., etc. Diese "Disziplinen" haben ebenfalls das Potenzial, dass man bei deren "Nutzung" die Kontrolle schneller verliert als es einem lieb ist. Bei mir war beispielsweise bis vor Kurzem die tägliche Dosis meiner Internetnutzung (viel) zu hoch. Ich habe wirklich gestaunt als ich das Ganze mal über einen gewissen Zeitraum getrackt habe. By the way: Internetforen sind in diesem Kontext auch nicht gerade Nebenwirkungs-frei ;)

    Da gebe ich dir total recht und ich merke auch für mich, dass sich schnell Dinge zur Verlagerung einschleichen wollen, die mir letztendlich langfristig nicht gut tun.

    Einmal editiert, zuletzt von rent (30. Januar 2024 um 09:38)

  • ... nach einer Trinkpause von 6 Monaten, habe ich wieder angefangen. Deswegen überlege ich die ganze Zeit, konnte ich wirklich mein Handeln steuern und ich hab da Schwierigkeiten eine Antwort zu generieren. Ich glaube, ich wusste es einfach nicht besser, mir war einfach nicht bewusst was ich da tue und auf was ich zusteuere. Ich habs schlicht ignoriert und mich treiben lassen.

    Man kann zwar sein Leben nach vorne gestalten, aber immer nur rückblickend verstehen.


    Was Dich womöglich auszeichnet, ist die Eigenschaft, dass Du Dinge 100%ig machst, wenn Du sie machst. Oder eben mit "Vollgas", wie Du es mal selbst bezeichnet hast. Vielleicht ist das eine Deiner Stärken?

    In Deiner Alkoholzeit hast Du eben mit Vollgas getrunken. Wenn's denn mal irgendwo "gezwickt" hat und der Körper schon 12 oder kurz nach 12 signalisiert hat, bist Du auf dem Gas geblieben. Eben kein Weichei oder Zweifler, das bzw. der bei den ersten Wehwehchen/Zweifeln aufgibt, das/der aus "Schiss" vor etwaigen Konsequenzen, schnell die Richtung ändert. Mit dem gleichem Maß an Beigeisterung (oder, um bei dem Wording zu bleiben: Mit Vollgas) lebst Du jetzt Dein erfülltes Leben ohne Alkohol. Für solche Menschen gibt's dann auch keine großen Diskussionen und bedarf es in der Regel auch keine langwierigen Therapien. Da gibt's einen neuen Weg, von dem Du nunmehr 100%ig überzeugt bist. Und dieser Weg wird mit eben dieser festen Überzeugung beschritten. Punkt.


    Fatal, eigentlich. Das Bewusstsein wiederum, sich als Ziel ein ERFÜLLTES LEBEN aufzubauen, kam erst JETZT.

    Vergangenheit ist vergangen. Das stimmt zwar, ist aber nur halb richtig. Es war einer meiner Sternstunden im letzten Jahr als ich in dem Buch "Erfülltes Leben" von Friedmann Schulz von Thun über die "Biographische Erfüllung" des Lebens las. Der Autor hatte angeregt, mal darüber nachzudenken, wie denn ein Film über mein Leben so aussehen würde. Das ist eine wirklich spannende Frage. Welche Geschichten erscheinen dort? Welche Schlüsselszenen sollen dort unbedingt vorkommen? Welche Momente waren es, die entscheidende Weichen in meinem Leben stellten? Und vor allem: WER hat denn überhaupt die Weichen verstellt oder richtig gestellt? Die letzte Frage ist übrigens durchaus entlastend: "Jeder ist zwar seines Glückes Schmied", aber es gilt auch: "Du bist das heiße Eisen auf dem Amboss Deines Schicksals." Es ist ja allein schon ein Unterschied, ob ich in Deutschland oder in Bangladesch geboren wurde - um mal ein plakatives Beispiel zu nennen.

    Im Leben gibt es Situationen, wo man noch nicht so weit ist, wo eine Lernkurve noch nicht begonnen hatte, wo - damals - hingegen gute Gründe dafür sprachen so zu handeln, wie man gehandelt hat. Deshalb - so meine Überzeugung - sollte man das Buch seines eigenen Lebens (oder den Film über sein eigenes Leben) mit viel Wohlwollen und Blick auf die damaligen Umstände schreiben. Nicht als Ausrede, sondern als eine wesentliche Basis für ein gelungenes Leben. Das berührt nämlich Deinen Kern, Deine Identität, Deine Wurzeln. Ich kann z.B. eine Trennung in meiner eigenen Lebensbilanz als Verlust deklarieren und mir gar noch die Schuld dafür zuschreiben; ich kann aber auch einfach dankbar für die gemeinsame Zeit sein und die Trennung vielleicht sogar als Wink des Schicksals ansehen, die mir neue Türen öffnete, die vormals verschlossen waren. Deshalb ist es für geradezu eine Verpflichtung, mein eigenes Leben in ein schönes Licht zu stellen. Ich wäre ziemlich dumm, wenn ich das nicht tun würde, zumal es gute Gründe gibt, es zu tun.

  • Der wohlwollende Blick auf die damaligen Umstände ist m.E. maßgeblich dafür, um seinen Frieden mit der Suchtzeit finden zu können. Das Tun und Handeln in der Sucht ist bisweilen nur schwer mit dem Menschen vereinbar, der ich heute bin oder der ich hätte sein wollen. Die Diskrepanz zwischen Soll-Ich und Ist-Ich war in der Vergangenheit so groß, da hätte ein Jumbojet landen können. Der wohlwollende Blick zurück sorgt für Verständnis und dem ‚War halt so‘, aber der wohlwollende Blick befreit mich trotzdem nicht von der einen oder anderen unangenehmen Erinnerung mit entsprechenden unangenehmen Gefühlen. Manche Sachen stecken einfach tief im Kopf oder auch im Körpergedächtnis drin…Wohlwollen hin oder her…man wird sie nie gänzlich los werden, zumindest kommt es mir so vor. Meinen Kopf nehme ich nunmal überall hin mit. 😅 Aber: Ich bin auch ‚erst‘ bald 1 Jahr und 5 Monate trocken. Wahrscheinlich verändert sich meine die Wahrnehmung mit zunehmender Dauer der Abstinenz hier auch noch mal und ich kann deinem wohlwollenden Blick zurück - FORTUNE - was mehr folgen als ich gerade dazu in der Lage bin. 😉

  • Der wohlwollende Blick auf die damaligen Umstände ist m.E. maßgeblich dafür, um seinen Frieden mit der Suchtzeit finden zu können.

    Das ist doch wunderbar formuliert: Die Akzeptanz Deines bisherigen Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen, das Dich letztlich zu dem gemacht hat, was Du gerade bist, ist vermutlich der einzige Weg zu nachhaltigem inneren Frieden. Die nächste Stufe ist Dankbarkeit. Dass Du das Wunder des Lebens überhaupt kennen lernen durftest, dass Du Dich vor zig Jahren durch Zellteilung - welch irrer Zufall - zu dem entwickeln durftest, was Du gerade bist. Ich kenne Dich nicht, habe aber den Eindruck, dass Du Dich eigentlich ganz gut findest. Vielleicht irgendwann auch Dankbarkeit dafür, dass Du in den Untiefen des Lebens schwimmen lernen musstest. Manche bleiben Nichtschwimmer bis zum Lebensende.

    Und auch diese Scham, dieses Nichtakzeptieren hat mutmaßlich mit dazu beigetragen, dass ich mich nicht meinem Problem gestellt habe.

    Beim Thema Scham fällt mir vor allem ein Punkt ein: Der Schmerz über ein ungelebtes Leben. Wenn man irgendwann unmittelbar vor seinem Ableben steht und sich dann selbst eingestehen müsste, dass man ein ungelebtes Leben geführt hat, dass man Chancen immer wieder verstreichen ließ, dass man lethargisch vor sich hin lebte, dass man keine Spuren im Diesseits hinterlassen hat - ja dann würde man vor seinem Tod nochmals damit konfrontiert werden, dass man es vergeigt hat und nix mehr tun kann.

    Da wir ja gerade im Leben stehen mein bescheidener Tipp: In Richtung Leben gucken.

    Ich mag es überhaupt nicht, (Lebens-)Zeit zu verschwenden. Es kann ja durchaus sinnvoll bis notwendig sein, sich mit seiner Vergangenheit zu versöhnen oder diese gar schätzen zu lernen, aber es gilt auch hierbei: Jede (unnötige) Minute, die wir in der Vergangenheit schwelgen, behindert uns ein wenig, in Richtung Leben zu gucken.


    Wahrscheinlich verändert sich meine die Wahrnehmung mit zunehmender Dauer der Abstinenz hier auch noch mal und ich kann deinem wohlwollenden Blick zurück - FORTUNE - was mehr folgen als ich gerade dazu in der Lage bin. 😉

    Das könnte klappen ;) Und denk immer daran, welcher Film in den letzten Minuten Deines Lebens mal auf Deiner geistigen Leinwand aufgeführt werden soll. Du kannst an Deinem Drehbuch des Lebens durchaus noch kräftig mitschreiben. Viel Spaß dabei!

  • - FORTUNE - Ich tue mich mit deiner Aussage hinsichtlich in der Vergangenheit schwelgen was schwer. Wenn du Auto fährst, schaust du als antizipierender Autofahrer ja auch bisweilen in den Rückspiegel. Ähnlich sehe ich das auch auf mein Leben bezogen. Ich kann nur sicher geradeaus fahren und schauen und save unterwegs sein mit dem Blick in den Rückspiegel der Vergangenheit. Denn da von dort aus fahre ich los - nicht unbedingt weg, es ist einfach mein Ausgangspunkt. Hoffe, das ergibt Sinn, was ich damit meine. 😅

    Der Blick zurück ist keine verschwendete Lebenszeit, sofern in der Reflexion verbracht und nicht im Bedauern oder Selbstmitleid. Und was ein gelebtes oder ungelebtes Leben ist…nun ja…ich sehe mich jetzt keinesfalls als erleuchtet oder dergleichen an, weil ich den Weg in die Abstinenz geschafft habe und anders lebe als zuvor. 😅 Ich netflixe für mein Leben gern und ich bin auch echt gern faul und vertrödele so richtig schön meine Zeit…ob das am Ende meiner Lebensbilanz gut kommt…keine Ahnung…aber kommt halt ganz gut im Hier und Jetzt. 😂 Wenn das am Ende in meinem Drehbuch des Lebens steht und das mein Sinn des Lebens ist, dann ist das so. Der Sinn des Lebens liegt darin, welchen wir persönlich unserem Leben jeder für sich halt so geben. 🤷‍♀️ Ob nun mit oder ohne Verschwendung. 😜 Liegt alles im Auge des Betrachters.

  • Und in der ersten Zeit habe ich mir schon ziemliche Vorwürfe gemacht

    In den Monaten meiner Ausstiegszeit fand ich mich natürlich immer wieder auch in unangenehmen Gefühlen und inneren Konflikten wieder. Ich konnte das aber für mich schnell auflösen.

    Vieles ist für mich als wäre es heut gewesen. In anderer Sicht wiederum fällt es mir mittlerweile schwer, mich so wirklich komplett in diese Zeit zurück zu versetzen und gedanklich dahin zurück zu reisen.

    Geholfen hat mir denke ich, dass ich mich von Beginn an wirklich sehr intensiv mit allem befasst habe und mich dem schonungslos gestellt habe. Am deutlichsten war es für mich vor allem abends oder nachts, nachdem ich versucht hatte mich müde zu lesen, ich das Licht aus machte und es keine ablenkung des Alltags mehr gab - nur noch mich, die tiefe Nacht, den Atem, … ich lebte zu dieser Zeit alleine und konnte viel Zeit darein geben, für mich zu sein und in mich hinein zu blicken. Oder in der Suchthilfe - später auch für einige Wochen mit therapeutischer Unterstützung (ambulant) - war ich immer wieder damit konfrontiert. Das schriftliche Erstellen eines Suchtlebenslaufes beispielsweise, eine harte Aufgabe für die ich, wohldosiert (das ging nur Stück für Stück) einige Tage und Nächte brauchte.

    Ich merkte für mich aber gerade in diesen Auseinandersetzungen, dass wenn Gefühle und Gedanken wie Scham, Selbstzweifel oder innere Vorwürfe aufkamen – ich diese bald schon als sehr destruktiv für mich empfunden habe. Ich erkannte für mich: Es hätte mich nicht weitergebracht, mich zu schämen. Es hätte mich auch kein bisschen weitergebracht, an mir zu zweifeln oder mich klein zu reden.

    Vielmehr versuchte ich von da an, solche destruktiven Gedankenmuster konsequent durch positive Formulierungen zu ersetzen. Auch der Gedanke „Ich liebe mich!“ kann heilsam sein. Dinge zu tun und zu denken die mir guttun. Die Veränderungen in meinem Inneren und in meinem Leben konstruktiv voran zu bringen und einer geduldigen Entwicklung zuzuführen.

  • Honk   Mojo Ich denke, dass es auch schlichtweg Veranlagungssache ist, in welchen Emotionen man sich so bewegt. Natürlich durchläuft jeder Mensch alle Emotionen, aber gewissen Emotionen steht jeder für sich was näher. Ich selbst habe es nicht so mit der Scham, auch wenn ich mich ab und an schäme. 🤷‍♀️ Ich stehe den Schuldgefühlen viel näher als der Scham. Wenn ich auf die Funktion der Scham schaue, nämlich dem Verstoß gegen gesellschaftliche Normen, dann ergibt das aufgrund meiner Biografie auch Sinn, dass ich nicht so viel in der Scham unterwegs bin. Ich hab mich mal was mit der Soziolgie in Gruppen beschäftigt und ich bin den Weg aus der Gesellschaft schon früh angetreten. Ich stehe nicht außerhalb, aber ich fühle mich auch nicht der Mitte zugehörig, sondern den Außenseitern. Und wo kein Zugehörigkeitsgefühl, da auch keine Scham. 🤷‍♀️ Da die Normen und Werte der gesellschaftlichen Mitte keine Bedeutung für mich haben, lebe ich schlichtweg was schamfreier, weil man Rande der Gesellschaft andere Normen und Werte gelten. Vielleicht fühlst du dich Honk zum Beispiel der Mitte viel mehr zugehörig als ich das tue. 😊 Wie dem auch sei…allgemein empfinde ich die Scham als eher hinderlich und mag diese auch nicht besonders, da die ursprüngliche evolutionäre Funktion der Scham meines Erachtens heutzutage massiv an Bedeutung verloren hat aufgrund unserer immer mehr zunehmenden individualistischen Gesellschaftsstruktur und die Scham macht einfach unglaublich passiv. Gleichzeitig ist die Scham aber ein unglaublich mächtiges Gefühl. Wer in der Scham verhaftet ist, kommt nicht aus dem Quark und bleibt in der Regel der Passivität verhaftet, wenn man in dem Gefühl drin bleibt. Und Passivität ist so ziemlich der Anfang vom Ende, gerade in der Sucht. 🙄 Beispiel: Mein Ex-Freund hat mir damals vor der Klinik zum Beispiel gesagt, dass er sich für mich schämt. Gleichzeitig war mein Ex-Freund aber der Scham auch extrem nahe und hat ein riesiges Schauspiel aufgeführt, um seine eigene Suchtthematik vor seinen Leuten zu verstecken und jemand Anderes zu sein, um von seinen Leuten akzeptiert zu werden. Ich hab das damals schon nicht verstanden, weil ich dachte, warum willst du zu einer Gruppen dazugehören, die dich nicht akzeptiert so wie du bist? Und da habe ich kapiert, was es mit diesem gesellschaftenlichen Zugehörigkeitsgefühl auf sich hat und dass ich mich so gesehen freier bewege als mein Ex-Freund. 🤷‍♀️ Im Gegensatz zu mir hat der sich nämlich gefühlt die Hälfte des Tages geschämt. 😂

  • Ich denke, dass es auch schlichtweg Veranlagungssache ist, in welchen Emotionen man sich so bewegt. Natürlich durchläuft jeder Mensch alle Emotionen, aber gewissen Emotionen steht jeder für sich was näher. Ich selbst habe es nicht so mit der Scham, auch wenn ich mich ab und an schäme. 🤷‍♀️ Ich stehe den Schuldgefühlen viel näher als der Scham.

    Ich muss gestehen, dass ich bei dieser Unterscheidung nicht mehr so richtig mitkomme. Was unterscheidet denn Scham von Schuldgefühlen?

    Geht es nicht bei beidem darum, sich in irgendeiner Weise schuldig zu fühlen für etwas, was man absichtlich oder unabsichtlich, bewusst oder unbewusst getan hat? 🤷‍♀️

    Deswegen überlege ich die ganze Zeit, konnte ich wirklich mein Handeln steuern und ich hab da Schwierigkeiten eine Antwort zu generieren. Ich glaube, ich wusste es einfach nicht besser, mir war einfach nicht bewusst was ich da tue und auf was ich zusteuere. Ich habs schlicht ignoriert und mich treiben lassen.

    Meine persönliche Antwort darauf:

    Anders vielleicht als du „wusste“ ich aufgrund meiner Familiengeschichte im Prinzip, auf was ich zusteuern könnte. Ich hab in meinen letzten zwei Jahren sogar durch solche Online-Tests immer wieder überprüft, ob ich schon Alkoholikerin bin, weil mir mein Konsum Sorgen zu bereiten begann, ich den Alkohol aber nicht lassen wollte, weil ich mir mir etwas vom Alkohol versprach, auf das ich zu dem Zeitpunkt nicht verzichten wollte.
    - Heute kann ich über mein Verhalten nur noch den Kopf schütteln. -

    Rein vom Verstand her hätte ich entweder den Alkohol lassen müssen oder aber meinen Konsum einschränken bzw. besser kontrollieren müssen. Das aber konnte oder wollte ich nicht. Meiner eigenen Erfahrung nach ließ sich dieser berühmte Schalter nur vom Kopf her nicht für mich umstellen.

    Bis dann eben der Moment kam, als ich’s vor mir selbst nicht länger leugnen konnte und tatsächlich bereit war, die Reißleine zu ziehen.

    Gefühle von Scham hatte ich zunächst auch. Ich hab mich fast mein ganzes Leben dafür geschämt, aus einer Alkoholfamilie zu entstammen. Dahinter steckte so ein Glaubenssatz, dass ein Alkoholiker ja schließlich selbst an seiner Krankheit schuld sei.

    Ich hatte in meinem Leben alles dafür getan, um diesen Makel, den ich empfand, wettzumachen. Und dann musste ich mir eingestehen, dass ich selbst mich ebenfalls da reingeritten hatte. Was würde meine Schwiegerfamilie über mich denken, wenn das rauskommt? Würden die denken: „War ja klar, das aus so einer Familie nix Gutes rauskommen kann.“?


    So denke und empfinde ich inzwischen aber schon lange nicht mehr. Ich schäme mich weder für meine Familie noch für das, was ich getan habe, sondern finde mich heute durchaus in dem wieder, was Mojo in Beitrag # 6 über sich geschrieben hat.

    Und auch mir hat, wie Mojo über sich schreibt, sehr geholfen, dass ich mich von Beginn an wirklich sehr intensiv mit allem befasst habe und mich dem schonungslos gestellt habe. Heute denke ich, dass alles, was mir widerfahren ist und was ich getan habe, mich zu der gemacht hat, die ich heute bin.

    rent hat in einem anderen Thread etwas geschrieben, was mir manchmal auch sinngemäß durch den Kopf geht:

    Zitat

    Mir hilft sogar manchmal dieser trotzige Gedanke, "Ok, bin ich eben Alkoholiker und ihr weichgespülten Feiertagstrinker, die ihr euch vielleicht irgendwelche Urteile anmaßt, kommt erstmal in meine Lage, macht den Schmerz, Zerbruch, Entzug, Verzweiflung trallala durch, bevor ihr über mich urteilen könnt und mir das Siegel "A" (selber schuld, einfach keine Kontrolle über sich) aufdrückt. Macht ihr das erstmal durch und schafft es mal, da rauszukommen!

    Echt, Scham fühle ich längst nicht mehr, sondern tatsächlich mitunter so etwas wie Stolz auf mich und ganz viel Dankbarkeit. Was geschehen ist, ist geschehen, aber ich hab, als ich endlich begriffen hab, was geschehen ist, einmal mehr die Verantwortung für mein Leben übernommen und das, was ich ändern konnte, geändert.

    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Ich muss gestehen, dass ich bei dieser Unterscheidung nicht mehr so richtig mitkomme. Was unterscheidet denn Scham von Schuldgefühlen?

    Hallo, liebe AmSee13

    Scham richtet sich gegen die Existenz des eigenen Bedürfnisses an sich, während die Schuld sich darauf bezieht, wie das eigene Bedürfnis befriedigt wurde.

  • Hallo liebe Bighara ,

    die Erklärung macht mich leider auch nicht schlauer. :/

    Ich muss aber auch gestehen, dass mir eine Unterscheidung nicht wirklich wichtig ist bzw. mich gedanklich nicht weiterbringt.

    Gefühlt habe ich wohl beides, aber das ist vorüber.

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Scham richtet sich gegen die Existenz des eigenen Bedürfnisses an sich, während die Schuld sich darauf bezieht, wie das eigene Bedürfnis befriedigt wurde

    Ich würde bald sagen, die beiden Begriffe kann man in der Erklärung hin und her schieben, aber ist ja auch egal.

    (Ich kann auch eine Schuld verspüren, weil überhaupt das Bedürfnis existiert und mich auch dafür schämen, wie ich mein Bedürfnis befriedigt habe)

    Ich habe Scham und/oder Schuld eher als unangenehmen "gemischten Batzen" wahrgenommen. (echt, "Batzen" ist wirklich ein gutes Wort für diese Begleiterscheinung der Sucht)


    gesellschaftliche Normen, dann ergibt das aufgrund meiner Biografie auch Sinn, dass ich nicht so viel in der Scham unterwegs bin. Ich hab mich mal was mit der Soziolgie in Gruppen beschäftigt und ich bin den Weg aus der Gesellschaft schon früh angetreten. Ich stehe nicht außerhalb, aber ich fühle mich auch nicht der Mitte zugehörig, sondern den Außenseitern. Und wo kein Zugehörigkeitsgefühl, da auch keine Scham. 🤷‍♀️ Da die Normen und Werte der gesellschaftlichen Mitte keine Bedeutung für mich haben, lebe ich schlichtweg was schamfreier, weil man Rande der Gesellschaft andere Normen und Werte gelten. Vielleicht fühlst du dich Honk zum Beispiel der Mitte viel mehr zugehörig als ich das tue. 😊 Wie dem auch sei…allgemein empfinde ich die Scham als eher hinderlich...

    Sehr interessanter Gedanke, der mich oft zu frühen und späteren Alkoholzeiten beschäftigt hat, um damals meine Scham- und Schuldgefühle loszuwerden.

    Wer legt den Rahmen fest, wie, wann, wie oft ist noch "normal"?

    Ich darf nicht früh trinken, höchstens zum Frühschoppen. Ich darf nicht mit der Flasche durch die Straßen laufen, höchstens zu Volksfest. Ich darf nicht auf Arbeit, höchtens zu einer Beförderungsfeier. Ich kann zum Oktoberfest besoffen auf der Wiese schlafen, aber wenn ich oder mehrere Leute besoffen im heimischen Park herumliegen, wirkt das sehr seltsam...

    Pauschal gesagt, ist etwas normal, wenn ALLE es tun. Und wenn ich nicht mehr in das Raster passe, gibt es für mein Verhalten Grund zu schämen oder ich fühle mich schuldig, dass ich eben so bin wie ich bin oder auch dieses und jenes Bedürfnis habe/ mich nicht unter Kontrolle habe.

    Ich hatte früher zu meinen Kamikazezeiten eine Zeitlang in einer WG gewohnt, wo das Trinken/ der Rausch von allen zelebriert und in den Himmel gehoben wurde. Sozusagen, wer den größten Humpen geleert und den größten Kater hatte, war der Größte. Aber ich würde sagen, dass selbst bei dieser Außenseitergruppe irgendwelche Normen gegolten haben. (zwar keine gutbürgerlichen, aber eben der Gruppe angepasst)

    Z.B. wurde damals über (aus unserer Sicht) "echte" Alkis abfällig geredet, "wie kann der Penner nur so saufen", obwohl wir theoretisch, praktisch und mengenmäßig dem sogenannten "Penner" temporär nicht so unähnlich waren. Vielleicht wurde uns nur ein Spiegel vorgehalten, den wir damals in unserer jugendlichen Arroganz von uns gewiesen haben und nicht wahr haben wollten.

    Also Druckbetankung ja, aber wehe, du wirst Alkoholiker/ Penner und pinkelst dir in die Hose. (im gutbürgerlichen ist die Regel dann etwas entschärft: ab und zu mal ein Bierchen ist gewünscht, aber wehe du trinkst zu viel/ besäufst dich zu oft)

    Klar fällt das Ausleben seiner "dark necessities", in einer Gruppe, die eben den selbigen angepasster ist, viel einfacher.

    Aber ich muss sagen, dass ich trotz Außenseiterumgebung noch genug Scham und Schuld in mir hatte und diese immer wieder hochkam. Da war übrigens auch noch ein Gefühl oder so eine Traurigkeit, wie "Rent, das bist du doch hier eigentlich gar nicht und willst das auch nicht wirklich" und das hatte ich eigentlich, solange ich getrunken habe. Aber ich wollte das damals alles loswerden und habe da alles, was unangenehm hochkam weggeballert oder sediert.

    Am Anfang meiner Nüchternheit wollte diese Scham/Schuld in Ansätzen wieder hochkommen. "ich trinke zwar nicht mehr, aber ich habe ja einmal getrunken". Oder ich ordnete jetzige Situationen, Entscheidungen oder Umstände, die direkter Linie überhaupt nichts mit meiner toxischen Vergangenheit zu tun hatten, eben dieser zu (und der Kritiker in mir, versuchte mir meine vergangene "Schuld", für die ich mich doch gefälligst zu "schämen" habe, wieder vorzuhalten)

    Deswegen finde ich es sehr wichtig, sich selbst (und natürlich auch allen anderen, die da irgendwo in der Vergangenheit mit drinhängen) so gut es geht, zu vergeben und anzunehmen. (Schuld, Scham und Selbstanklage haben sowieso nie weitergeholfen und nachträglich kann ich nichts ändern) Und vielleicht sogar wohlwollend auf die eigene Vergangenheit zu schauen und sie als einen Teil, eine Erfahrung zu sehen, die ich eben gemacht habe und vielleicht sogar für irgendetwas gut bzw. nötig war...

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