Guten Morgen Mia
du schreibst, dass du zum ersten mal spüren kannst, dass es kein Verzicht sondern eine Befreiung ist. Das ist ein richtig guter Moment und ein ganz wichtiger sogar. Erst durchs Spüren kann eine Veränderung besser vollzogen werden, als nur über dein reinen Gedanken. So geht es mir zumindest. Natürlich kann über den Kopf vieles gesteuert werden, aber das, was man dann parallel dazu spürt ist noch viel bedeutsamer für die weiteren Schritte.
Ja, ich kenne das sehr gut, wenn ich etwas gelesen oder gehört habe und auch vom Kopf her verstanden habe, aber noch immer nicht wirklich verinnerlicht habe, obwohl ich verstandesgemäß eigentlich weiß, was zu tun wäre. So gern würde man eine Situation verändern , aber es geht nicht, weil eben ein bestimmter Baustein fehlt, nämlich die Erfahrung des wirklichen Spürens.
Erst vor Kurzem hatte ich so einen Moment, er war ganz kurz aber sehr bedeutsam für mich. Vom Kopf her habe ich tausend mal ,mehrere Jahre diese eine Situation vor Augen gehabt, aus der ich nicht herauskam-es gab so viele innere Widerstände. Vom Kopf her aber wusste ich: ich habe alles verstanden und ich fragte mich, warum ich die Situation xy nicht verändern kann, obwohl ich doch weiß, dass... und dann plötzlich am Morgen, als ich das Haus verlassen wollte, um zur Arbeit zu fahren, ich mir meine Schuhe anzog, spürte ich plötzlich, dass ich von innen heraus , also spürbar etwas wahrnahm, dass sich der Gedanke, dieser Lösungsgedanke, den ich jahrelang versuchte umzusetzen auch spüren konnte.
Das war ein besonderer Moment.
Ich habe mir für den Abend dann vorgenommen, mir genau diese Situation aufzuschreiben, damit ich mich wieder und wieder daran erinnern kann, wenn ich es nur nachlese. Ich notiere mir neuerdings einiges , was mir wichtig ist oder auch , was mich beschäftigt, damit ich meine Gedanken irgendwo auf Papier festhalten kann. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass meine Gedanken dann weniger ziellos in meinem Kopf herumgeistern, weil ich sie notiert hatte.
Das Festhalten von Gedanken durchs Aufschreiben verschafft mir auch gleichzeitig mehr Ruhe und Sortiertheit und die Gewissheit, dass ich sie jederzeit nachlesen kann und nichts verloren geht, wenn ich sie aufschreibe. Gleichzeitig muss ich diese Gedanken auch nicht mehr so oft denken, was mir auch ein gutes Gefühl verschafft.Aber zurück zum Spüren: Dieser Moment, den ich gerade erwähnte, ist nun auch festgehalten und ich bin froh, dass ich ihn durchs Lesen jederzeit wieder aktivieren kann und ihn ERLEBEN kann.
Gerade vermisse ich jedenfalls dieses beschwingte Gefühl. Kochen, aufräumen und dabei diese Leichtigkeit…
Gleichzeitig ist mir aber alles präsent, was danach folgt. Die Angst. Die Scham. Der hohe Preis an Selbstwirksamkeit (den ich noch weniger bereit bin weiterhin zu zahlen, als die körperlichen Katerfolgen).
Na, jedenfalls konnte ich vorhin ZUM ERSTEN MAL wirklich spüren, was du über Befreiung, statt Verzicht geschrieben hast. Kennst du das, man liest etwas sinngemäß von unterschiedlichen Quellen hundert mal und verstehts vom Kopf her, aber plötzlich kann man Zustimmung FÜHLEN.
Das war ein wertvoller Moment für mich, danke!!!
Als ich damals aufhörte mit dem Trinken, hab ich ein Alkoholfrei-Tagebuch geführt. Ich habe auch viel notiert, meine Gedanken , die ich tagsüber hatte und auch meine inneren Dialoge, die ich furchtbar anstrengend fand und auch, dass mein Suchtgedächtnis mir immer wieder irgendetwas Blödsinniges einflüstern wollte und ich habe mir dann Gegenstimmen dazu überlegt, es war manchmal richtig lästig, aber hilfreich.
Eines war mir bewusst: Ich will mich nicht nur in Form von Abstinenz vom Alkohol befreien, sondern auch von diesen Gedanken um den Alkohol. Ich wusste, dass das eines Tages endlich aufhört, die Beschäftigung mit dem Alkohol. Auch noch zu meiner Zeit, als ich getrunken habe, war der Alkohol Dauerthema: Wann trinke ich, heute nur ein Glas, morgen dann dafür 2 oder 3 ? Das schlechte Gewissen, die Scham, ausgelöst durch Alkohol waren die schlimmsten Begleiter. Es klebte wie Pech und Schwefel an mir. Ich war nicht mehr existent ohne den Alkohol und das war so erschreckend. Es war, wie wenn er permanent über mich und mein Leben bestimmte. Ich war der Alkohol und er war ich. So ungefähr.Es war jedenfalls nicht mehr wirklich trennbar ...
Ich hatte ähnlich wie du auch immer wieder Zeiten gehabt, in denen ich aufhören wollte aber dann wieder mein Voraben gebrochen und wieder und wieder zur Flasche gegriffen habe, obwohl ich es nicht wollte. Das gab es mehrere Jahre lang. Mein Vorlauf , bis ich endgültig aufhören konnte, war recht lang. ERst vor drei Jahren hat es geklappt-bis heute: Keinen einizigen Schluck und ich bin so dankbar und froh, dass ich nicht mehr trinken MUSS.
Du hast geschrieben, dass es Momente gibt, in denen du das beschwingte Gefühl vermisst, wenn du Alkohol getrunken hast-auch das ist "normal", dass diese Gedanken kommen ,schließlich waren es ja häufig diese Zustände unter Alkohol, die einem kurzfristig dieses Gefühl des "wohligen Einlullens " gaben-so zumindest war es bei mir. Ich musste erst mal unterscheiden lernen, woher diese Stimmen und Gedanken kamen: War es ich ? Will ich wirklich trinken ? Oder will mein Suchtgedächtnis wieder mal penetrant versuchen ,mich umzustimmen ?
Das Suchtgedächtnis versucht mit allen Mitteln und Manipulationen wieder an seinen Stoff zu kommen.
Ich wollte ihm damals nie wieder das geben, was es von mir wollte: Ich wollte die Oberhand über mein eigenes Leben zurückgwinnen und dazu gehörte für mich, dass ich mich mit diesem Suchtgedächtnis teilweise unterhalten habe und ihm meine Argumente aufgezählt habe und manchmal sagte ich ihm auch, dass er keine Chance hat, mich dazu zu bringen, mich umzustimmen. Das gab mir ganz viel Kraft und Selbstbestimmtheit zurück!!!!!
Ganz wichtig war für mich auch immer wieder mir diese schlimmen Zustände der Scham vor Augen zu führen, der Selbstablehnung, des Verkatertssein am nächsten Morgen aber auch der Verlust meines Selbstbildes, der Verlust meiner Selbstachtung, der Verlust meines ICHS , sollte ich zur Flasche greifen... ausserdem malte ich mir genügend Momente aus, in denen ich mich wirklich hasste, als ich wieder und wieder zu viel getrunken hatte. Das schreckte mich wieder ab und ich war wieder überzeugt, dass ich nüchtern auf dem einzig richtigen Weg bin.
Was das beschwingte Gefühl betrifft, von dem du schreibst: es ist im Prinzip ein kurzer Moment, der dir suggeriert, dass das Leben leichter ist mit Alkohol-es ist dein Suchtgedächtnis, das dich hier versucht auszutricksen. Meist gekoppelt mit bestimmten Aktivitäten und Situationen, in denen du früher normalerweise getrunken hast.
Im Nachhinein betrachtet gab es wirklich nur einen kurzen Moment des wohligen einlullens bei mir, nämlich das erste halbe Glas Wein, aber dann war der "Moment" vorbei. Es ist mir oft auch schon so gegangen, dass ich bei Öffnen der Flasche bevor ich getrunken habe, dieses schlechte Gewissen hatte, der wohlige Moment war zwar kurz da "endlich darf ich wieder trinken"-und doch war das eher ein Ekel, der mich da schon begleitet hatte.
Wenn ich es heute betrachte, und zurückschaue auf diese Zeit von früher, kann ich nicht mehr behaupten, dass es wohlige Momente waren mit Alkohol, sondern heute spüre ich deutlich, dass diese Momente des ersten Schlucks Weins im Prinzip nur der erlösende Schluck war, der meine Sucht befriedigte. "Endlich wieder Stoff"...
Mir war damals nie wirklich klar, wenn jemand sagte : Nur das erste Glas stehen lassen-heute weiß ich genau, was das bedeutet.
Mir war ein Satz von ganz großer Kraft und Bedeutung, als ich mit dem Trinken aufhörte:
HEUTE TRINKE ICH NICHT.
Und diesen Satz sagte ich mir jeden Tag. So hatte ich das Gefühl, mir etwas vorgenommen zu haben, was step by step zum Ziel führt :in kleinen Schritten gehts zum Ziel und dieser Satz hatte auch eine bessere Wirkung für mich als der Satz:NIE WIEDER ALKOHOL (denn ein bisschen machte er mir Angst-was ist, wenn ich das nicht schaffe ?)
Natürlich hatte ich das Vorhaben nie wieder Alkohol zu trinken, aber das war zu Beginner-Zeiten doch eine große Hausnummer, sie hatte so was endgültiges, was ja am Anfang auch ein mulmiges Gefühl verursachen kann.
Hast du für dich gewisse Strategien entwickelt in Form von "Verstärkern" ?
Liebe Grüße Oran-Gina