Hallo in die Runde,
Greenfox‘ Vorstellungsfaden, den er wieder hervorgeholt hat, um eben nicht nur als "Inventar" wahrgenommen zu werden, sondern als Mensch, der selbst Betroffener ist, hat mich dazu inspiriert, für mich selbst einen neuen Vorstellungsfaden aufzusetzen, der im Überblick beschreibt, inwiefern ich selbst Betroffene bin.
Mein Weg war ein anderer als der von Greenfox. Als ich Ende Oktober ´20 hier im Forum aufschlug, war ich noch nicht so weit, mich als Alkoholikerin zu sehen.
Ein Alkoholiker war für mich das, was ich bei meinem Vater erlebt hatte: Jemand, der Alkohol trinken MUSS. Jemand, dem sein Alkoholmissbrauch mehr oder minder anzusehen ist. Jemand, der unter Alkoholeinfluss nicht mehr arbeitsfähig ist, unzuverlässig und unzurechnungsfähig wird. Jemand, der beim Trinken nicht sonderlich wählerisch ist. Jemand, der ohne klinischen Entzug nicht aufhören kann. Und so weiter.
Ich hingegen musste nicht trinken, ich konnte Trinkpausen von Tagen, Wochen oder Monaten einlegen.
Ich war wählerisch bei der Auswahl von Wein, Sekt und Bier, was mir nicht schmeckte, ließ ich stehen, mit den „harten“ Sachen war ich äußerst vorsichtig.
Ich war nicht auffällig, hatte keine Filmrisse.
Ich hatte keine Entzugserscheinungen, wenn ich nicht trank.
Einzig mein Mann, der sehr wenig bis gar nicht Alkohol trank und sich, wenn, dann von mir zum Konsum anstiften ließ, sprach mich mehrfach auf meinen Alkoholkonsum und die vielen leeren Flaschen, die sich ansammelten, an. Etwas, was ich als Bevormundung empfand.
Was mir aber zusehends Sorge bereitete, war, dass ich mehr oder minder die Kontrolle verlor, wann immer ich ein Glas Alkohol trank, der Durst kam sozusagen beim Trinken. Ich trank allein zuhause und es war stets ein großer Durst, der mich überkam: Ich wollte mehr von den angenehmen Gefühlen, die sich beim Trinken einstellten, von diesen Gefühlen, die das Leben leicht und angenehm anfühlen lassen, die mich die Depression für eine Weile vergessen ließen. Doch immer wieder und immer mehr musste ich die Erfahrung machen, dass sich dieser Zustand nicht halten ließ, sondern ich stattdessen immer häufiger den Pegel überschritt, ab dem es noch angenehm war und mich stattdessen nur noch kaputt, erschlagen, erschöpft, müde fühlte.
Und mir war bewusst, dass ich wegen meiner Medikamente eigentlich gar keinen Alkohol trinken sollte.
Kurz: Ich wusste nicht, dass es „funktionierende“ Alkoholiker gibt, dass vor der körperlichen Abhängigkeit bereits eine psychische Abhängigkeit vorhanden sein kann, und mir war nicht wirklich bewusst, wie schleichend der Übergang vom Missbrauch zur Abhängigkeit ist.
Ich wandte mich an dieses Forum, weil ich glaubte, dort Menschen vorzufinden, die sich auskennen.
In meiner Vorstellung hier schilderte ich, wie oft, wie viel und zu welchen Gelegenheiten ich trank und warum es mir so schwer fiel, es sein zu lassen, obwohl ich aufgrund der Erfahrungen mit meinem Vater um die Gefahr wusste, ein ernsthaftes Alkoholproblem zu entwickeln.
Mein Vater war schon als junger Mensch Alkoholiker geworden und er war, obwohl er mehrere Entzüge und Therapien hinter sich gebracht hatte und es besser hätte wissen müssen, immer wieder und im Laufe der Jahre in immer kürzeren Abständen rückfällig geworden. Er war, wenn er nicht trank, ein liebevoller Vater, fürsorglich, intelligent, vielseitig talentiert, feinfühlig und eloquent. Seine Familie bedeute ihm alles, aber er war definitiv kein „funktionierender“ Alkoholiker.
Sein letzter Rückfall endete schließlich tödlich: Er starb im Alter von Anfang 40 infolge eines selbstverschuldeten Autounfalls unter Alkohol- und Tabletteneinfluss. Da war ich 15 Jahre alt.
Ich hab die Krankheit meines Vaters spätestens, als ich 5 Jahre alt war, voll mitbekommen, seine „Phasen“ waren grauenvoll und prägend für mich und für meine Familie.
Ich hab bis vor Kurzem nicht verstanden, warum meine Mutter ihn nicht mitsamt ihren beiden Kindern einfach verlassen hat. Nicht selten hatte sie während seiner „Phasen“ fürchterliche Angst vor ihm, weil er sie verbal und körperlich bedrohte, und oft hab sie vor ihm beschützt. Wobei ich dazu sagen muss, dass es bei uns ständig wechselnde Koalitionen gab.
Vor dem, was wir da immer wieder erlebt haben, hätte sie meine Schwester und mich eigentlich beschützen müssen. Doch wir sind geblieben und befanden uns jahrelang in einem Kreislauf auf Angst, Hoffen, Angst.
Erst vor Kurzem habe ich durch die Beschäftigung mit diesem Thema begriffen, was „Co-Abhängigkeit“ ist und was das bedeuten kann.
Nur wenige Jahre nach seinem Tod holte meine Mutter die Vergangenheit ein und sie erkrankte an schweren, rezidivierenden Depressionen, wegen derer sie arbeitsunfähig wurde und den Rest ihres Lebens immer mal wieder in einer Klinik behandelt werden musste.
Ich selbst glaubte lange, meiner Vergangenheit entkommen zu sein. Ich hatte Abitur gemacht, studiert, war glücklich verheiratet, arbeitete in einem gut bezahlten, anspruchsvollen Beruf, in den ich all meine Zeit und Energie investierte.
Doch die Prägungen und die traumatischen Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend hatten ihre Spuren hinterlassen und führten schließlich vor einigen Jahren auch bei mir zum Ausbruch einer Depression, die ebenfalls rezidivierend wurde und sich aufgrund mehrer mehr oder minder gemeinsam eintretender Ereignisse in meinem Leben zwischenzeitig auch zu einer schweren Depression entwickelte.
Ich übernahm wie immer, ich konnte und wollte gar nicht anders, die Verantwortung für mein Leben, ging für drei Monate in eine Klinik, erholte mich langsam und kehrte in meinen Beruf zurück. Leider nur für zwei Jahre, denn der Ausbruch einer MS-Erkrankung mit monatelangen Schmerzen im gesamten Körper führte wieder zu schweren Depressionen und damit zu Berufs- und Arbeitsunfähigkeit.
Als ich hier Ende Oktober ´20 aufschlug, hatte ich mich wieder halbwegs stabilisiert, nutzte aber den Alkohol nicht selten, um mich besser zu fühlen. Und da mir die Kontrolle mehr und mehr entglitt, bereitete mir Sorge, zu allem Überfluss nun auch noch ein Alkoholproblem entwickelt zu haben.
In meiner Unsicherheit meldete ich mich hier an und stellte mich vor. Die Antworten einiger Nutzer hier und ihre Erfahrungsberichte führten mir vor Augen, wo ich in Bezug auf meinen Alkoholmissbrauch stand und wohin es mich führen würde. Und ich begriff, dass es für mich keine Alternative mehr zur völligen Abstinenz gab.
Ich las hier von „zufriedener Abstinenz“ und hielt das für ein lohnenswertes Ziel.
Ich hab daraufhin keinen Alkohol mehr angerührt und in der Folgezeit sehr viel hier im Forum gelesen und geschrieben und mich durch Bücher, die hier in der Literatur-Ecke empfohlen werden, über das Thema „Alkoholismus“ informiert.
Zwischenzeitlich war ich auch noch in einem anderen Forum angemeldet und dort aktiv.
Bis zum vergangenen Sommer glaubte ich, dass es mir einfach reichte, mir vor Augen zu halten, wie es war, bevor ich aufgehört hatte, und dass es genügte, zu wissen, was ich will. Ich fühlte mich durchaus zufrieden abstinent.
Doch dann überkam mich nach zwei Erlebnissen mit „normal“ Alkohol konsumierenden Menschen überaus heftiger „Suchtdruck“, den ich ohne Hilfe von außen wahrscheinlich nicht erfolgreich überstanden hätte.
Ich wollte so etwas nie wieder erleben und mir wurde klar, dass ich mehr für mich sorgen muss und mich in der sogenannten „Trockenarbeit“, auch „Selbstfürsorge“ genannt, üben muss.
Ich habe nach und nach ein paar Maßnahmen ergriffen, um mich z.B. vor Überforderung zu schützen.
Diese „Selbstfürsorge“ ist mir inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden und ich bin schon eine ganze Weile tatsächlich „zufrieden abstinent“.
Psychisch und körperlich sind durch die Abstinenz nach und nach Verbesserungen eingetreten, die ich SO überhaupt nicht mehr erwartet hätte. Ich hätte nicht erwartet, dass sich regelmäßiger Alkoholkonsum derart negativ auf Körper und Psyche auswirken. Inzwischen weiß ich, inwiefern da Zusammenhänge bestehen, Alkohol ist eben ein Nervengift. - Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin… :rotwerd: :grins:
Inzwischen trinkt auch mein Mann, mit dem ich mich auch über dieses Thema und meine neu erworbenen Kenntnisse viel und oft ausgetauscht habe und mit dem ich nach wie vor glücklich verheiratet bin, gar nicht mehr.
Ein Teil meiner Selbstfürsorge besteht u.a. darin, mich regelmäßig mit dem Thema zu beschäftigen, deshalb ist mir dieses Forum hier so wichtig, dessen Offenheit, Diskussionsbereitschaft und Diskussion auf Augenhöhe ich sehr schätze.
Wie ich erst durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema erfuhr, weisen erwachsene Kinder aus alkoholkranker Familie (EKA) in der Regel bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster auf. Ich fand und finde mich in Vielem davon wieder. Diese Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster dürften neben den traumatischen Erinnerungen den Ausbruch meiner Depressionserkrankung begünstigt haben.
Seit mir das bekannt ist, beschäftige ich mich immer mal wieder mit diesem Thema.
Grüße
AmSee