Reflexionen aus einem nun cleanen Leben

  • Ich habe mal parallel zu meiner Geschichte “Golden Moments” begonnen, ein paar Erlebnisse oder eher Blickwinkel aus meiner jetzigen nüchternen Sicht aufzuschreiben. Im Prinzip würde das auch ganz gut bei den “Golden Moments” mit hineinpassen, aber chronologisch könnte dadurch vielleicht alles doch etwas unruhiger werden.


    Also mache ich das mal an dieser Stelle separat, vielleicht wird ja sogar mal eine bunte Pinnwand daraus, wo der eine oder andere je nach Lust und Laune etwas beisteuert. Muss aber auch nicht sein.


    Ich habe das Ganze wieder etwas leicht ironisch und ein klein wenig augenzwinkernd geschrieben. Gerade diese leichte Ironie hilft mir ganz gut, Momente in meinem Leben zu verarbeiten und das Leben und mich selber nicht immer so “bierernst” zu nehmen.

    Falls Namen von privaten Personen auftauchen sollten, sind das natürlich nicht die echten Namen, sondern wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.


    Los geht's…


    Köln, Lanxes-Arena, Depeche Mode World-Tour, April 2024

    Auf dem Weg zum Event laufe ich an einem fliegenden Getränkehändler vorbei, der linkerhand an einer Häuserecke eine Art Stand aus Bier- und Getränkekisten aufgebaut hat. Bier, Alkopops, wahrscheinlich auch alkoholfrei, was hier bestimmt niemand weiter ordern wird. Vielleicht auch doch, ich betrachte eben die Geschichte immer nur aus meinem Blickwinkel und alkoholfrei fand ich auf solchen Events nur Zeit- und Geldverschwendung. Noch ein kurzer Blick aus dem Augenwinkel und dann lasse ich diesen Verkäufer samt seiner Ware, die früher immer ein zuverlässiger Garant für gute Laune war, im wahrsten Sinne des Wortes links liegen und schenke seinen überteuerten Flaschengeistern keine weitere Aufmerksamkeit.

    Sowas juckt mich schon lange nicht mehr und war auch früher nur der Notbehelf. Gerade dieses Low-Level-Trinken, ewig lang für einen überteuerten Tropfen auf dem heißen Stein anstehen und eventuell wieder vor der Zeit auszunüchtern, war nervig und anstrengend.
    Opioide oder auch andere Schmerzmittel mit einem leichten Retardeffekt waren da schon eher mein Ding. Es war schon etwas anderes, wie ein kleiner König stundenlang gelassen über den Dingen zu stehen und zuzuschauen, wie sich der gemeine Pöbel für ein Glas überteuertes Krabbelwasser oder ein 0,4l Dünnbier anstellen musste. Es war nicht nötig, wie ein Ottonormal-Festivalbesucher am Verkaufswagen geldscheinwedelnt und gestresst, Sichtkontakt mit einer überforderten Aushilfskraft aufzunehmen, um dann verzweifelt zuschauen zu müssen, wie die Becher mit 0,38l statt 0,4l Inhalt übergeben wurden. Nur weil die studentische Saisonalkraft keine Zeit oder Lust hatte, auf das Setzen der Schaumkrone zu warten und das Getränk entgegen der vereinbarten Füllmenge übergab. Aber woher soll er auch wissen, dass in so einer Situation jeder Tropfen zählt.

    Vor ein paar Jahren hatte ich bei einer Freiluft-Theatervorführung unverschämtes Glück gehabt, als sich nach ein paar überteuerten Bieren im 0,4 Plastikbecher herausstellte, dass der Wein nur in großen Flaschen verkauft wurde. Da meine Begleitung kaum mehr als ein paar Schlucke abverlangte, hatte ich diesen wunderbaren Rotwein mit über 14% fast für mich alleine.
    Ich kann mich noch an diesen schönen Sommerabend erinnern, an dem fast noch 30 Grad herrschten und sich alles beinahe mediterran anfühlte.
    In dieser Atmosphäre erschuf ich mir meinen eigenen Sommernachtstraum, der von dieser goldenen untergehenden Sonne und diesem rotgoldenen Himmel in einer wunderbaren Farbpalette eingerahmt wurde.
    Die eigentliche Interpretation von Shakespeares Werk war zwar an sich auch nicht schlecht, wenn auch für meinen Geschmack etwas experimentell, aber da meine Sinne unter dieser wunderbar wohligen Decke steckten, hätte ich sogar weit künstlerische wertvollere oder experimentierfreudigere Werke als dieses angeschaut. In diesem verzauberten Zustand fällt es wunderbar einfach, alles zu akzeptieren und positiv aufzunehmen.

    Es ist auch etwas anderes, als sich bei einer Pflichtfeier Verwandte oder Bekannte “schön” zu trinken oder schwelende Konflikte kurzzeitig vergessen zu können.
    Es ist dieses Mittendrin sein, den Menschen, den man liebt an seiner Seite und die Flüssigkeit, die man man nicht weniger verehrt, in seiner Blutbahn und ausreichender Menge in Reserve zu wissen. Es fühlt sich an, wie ein Stück Geborgenheit und die weiche, warme Decke des Rausches lässt beinahe die latente Schuld und die Angst vor dem nächsten Tag vergessen.
    In dieser fast verzauberten Atmosphäre fällt es wunderbar einfach, alles und vor allem sich selbst wohlwollend zu reflektieren und der Mensch zu sein, der man gerne sein will.


    Aber entzaubern wir nun jetzt wieder diesen wunderbaren, weichgespülten Sommerabend, vergessen das in der Vergangenheit erlebte und kommen zurück in das aprilhafte und eher kühle Köln des Jahres 2024.

    Es ist dieses Gefühl der Fremdheit, dieses nicht wirklich Dazuzugehören und ein latentes Gefühl der Minderwertigkeit und inneren Leere, was ich ab und an noch habe, wenn ich mit ungewohnten Umgebungen, Situationen oder fremden Menschenmassen konfrontiert werde. Es kommen jahrzehntealte Gedanken hoch, dass ich mich besser anpassen müsste, irgend etwas tun müsste, um auch ein Teil der soeben fokussierten Menschenmenge zu sein.
    Kurzzeitig taucht auch der melancholische Gedanke auf, für immer dieses Hilfsmittel, das es noch vor ein paar Schritten an der Ecke für ein paar Euro gab und auch an jeder kommenden Ecke geben wird, aufgegeben zu haben.

    Nur habe ich jetzt dieses Hilfsmittel nicht mehr und gehe so wie ich gerade bin, oder eher wie ich mich gerade fühle, unter diese feiernden, trinkenden und wartenden Menschenmassen. Es ist ein Annehmen der Situation oder eher ein Annehmen der Emotionen und Gedanken, die mit dieser Situation einhergehen. Es ist ein Aufgeben meines sogenannten starken Teils in mir, welcher nie genug bekommen konnte, immer sediert werden wollte und immer nach Bestätigung gesucht hatte. Welcher nur damit beschäftigt war, sich krampfhaft ums eigene Wohlfühlen, den eigenen Kick zu kümmern, immer auf seine Art herausstechen, glänzen und bei jedem Anlass dazugehören wollte.
    Aber gerade dieses innere Aufgeben, die Situation und mich aus der Hand zu geben und einfach geschehen zu lassen, was eben geschieht, gibt mir die nötige Ruhe und das Selbstvertrauen zurück.

    Als wir den Einlass passiert haben, steht im Foyer ein eher tragikomischer Typ mit auf dem Rücken geschulterten Bierfass, Signal-Fähnchen und Zapfarmatur und hält beinahe verzweifelt zwei Plastikbecher in die Luft um diese zu füllen und feilzubieten. Wahrscheinlich will dieser Typ, der mich mit seiner runden Brille und seinem zerknitterten Basecap ein klein wenig an einen Umweltaktivisten oder Kleingärtner ohne Latzhose erinnert, so schnell wie möglich seine Last loswerden. Vielleicht hat er aber einfach nur Angst, dass die Kohlensäure in Verbindung mit schnellen, ruckartigen Bewegungen wie eine Bombe oder eher wie eine Wasserrakete explodieren könnte. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum der arme Kerl sich nicht von der Stelle traut. Es dauert nicht lange, bis ihm ein Kollege mit Migrationshintergrund und baugleicher Ausrüstung zu Hilfe eilt. Nur scheint dem neuen Kollegen die Gefahr ein paar Schritte vor der Rettung des Kollegen bewusst geworden zu sein und er steht nun ebenfalls in leichter Schockstarre und mit zwei erhobenen Plastikbechern da. Da er die lebensgefährliche Situation überspielen will, macht er wohl das, was er am besten kann: Er lächelt die vorübergehenden Besucher einfach leicht verzweifelt an und hält die zwei Plastikbecher in die Höhe.

    Ich stehe mit einem gehörigen Sicherheitsabstand leicht an eine Säule gelehnt und betrachte das Geschehen. Ich will mich gerade fragen, ob es denn unbedingt nötig ist, noch mehr unschuldige Passanten in die Gefahrenzone zu locken und es nicht konsequenter wäre, wenn diese beiden sich heldenhaft für die vielen anderen arglosen Besucher opfern würden. Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: “Das Grabmal der beiden unbekannten Bierkellner, hier in Köln, in der Lanxes-Arena! ”

    Aber es kommt ganz anders. An die Säule gelehnt, merke ich, wie zufrieden ich gerade mit mir bin und in mir ruhe. Ich muss nicht krampfhaft jeden Strohhalm oder eher jeden Bierkellner nehmen. Ich muss mich nicht krampfhaft in einer Schlange anstellen, um schon vorher zu wissen, dass die Dosis sowie nicht über den Abend reichen wird. Ich muss nicht während des Konzertes an mir im Weg sitzenden und leicht genervten Leuten schuldbewusst vorbeischlängeln, um mir den nächsten Tropfen auf dem heißen Stein zu holen. Ich muss nicht mehr versuchen, den Rausch, der durch die Gegebenheiten sowieso nur suboptimal gestartet wäre, krampfhaft aufrechtzuerhalten.

    Durch dieses Ruhen in mir ist auch das Gefühl weg, krampfhaft unbedingt hier dazugehören zu wollen und es lässt mir Zeit, die Situation und mich in Ruhe betrachten zu können.
    Ich muss an die unzähligen Male denken, als ich in ähnlichen Situationen noch mein Tonikum ungeniert benutzt habe und trotzdem nie zufrieden mit mir war.
    Und gerade in diesem Moment an der Säule spüre ich eine wirkliche Zufriedenheit und Stärke in mir. Es ist so, als hätte ich jahrzehntelang etwas erlebt oder auch durchgemacht, wovon die meisten hier keine Ahnung haben, niemand wirklich die ganze Düsterkeit, Verzweiflung und verrückten Wahnsinn kennt. Es fühlt sich an, als wäre ich sehr lange Zeit im Dunklen immer tiefer von mir weggetaucht und hätte es in letzter Minute noch geschafft, wieder zum rettenden Licht nach oben zu schwimmen.
    Es kommt sogar ein leichter Stolz oder eher Trotz hoch, der sagen will, “Kommt ihr erst mal in meine Lage und erlebt das, was ich erlebt habe, dann hättet ihr eine andere Sicht auf die Dinge”. Vielleicht ist das auch nur ein Stück Narzissmus oder Eitelkeit von mir, aber es ist das, was ich jetzt im Moment gerade brauche. Ich bin im Moment beinahe stolz, trockener Alkoholiker zu sein. Soweit ist es also schon gekommen. Naja, auf das T-Shirt drucken werde ich es trotzdem nicht. Aber allemal noch besser, als diese latente Scham und dieses Versteckspiel.
    Es ist ein Annehmen des Lebens, ein Annehmen von dem, was ich eben gerade bin oder dem, zu was ich geworden bin. Ob aus eigenem Verschulden, einer Laune des Schicksals oder schon vor Beginn der Geschichte unabwendbar, mag dahingestellt bleiben. Es ist eben, wie es ist.

    Von meinem Platz an der Säule beobachte ich die vorbeiziehenden Leute im schwarzem Ledermantel oder atmungsaktiver Outdoor-Funktionsjacke. Da viele Fans und Besucher meinen Altersdurchschnitt widerspiegeln und einigen ihr Alter oder besser gesagt, ihr Leben anzusehen ist, frage ich mich, was wohl der eine oder andere für eine Lebensgeschichte bis jetzt hinter sich hat. Vielleicht bin ich ja auch mit meiner Alkohol- und Drogensucht gar nicht so schlecht davongekommen und jammere auf hohem Niveau, wer weiß das schon genau.

    Wir haben uns relativ zeitig an unseren Plätzen niedergelassen und da ich mich nun nicht mehr um kontinuierlichen Getränkenachschub kümmern muss, bleibt noch genug Zeit, um dem stetigen Füllen dieser riesigen Arena zuzuschauen. Aus meiner Perspektive erscheinen manche Treppenaufgänge wie senkrechte Tritte, auf denen Ameisen hin und her krabbeln. Da ich nie ein großer Fußballfan war, wirkt schon dieses Stadion auf mich sehr gigantisch, beinahe wie ein riesiges Raumschiff oder eine andere Welt. Aber es ist schon interessant, wie sich die Arena mit der Substanz namens Mensch füllt und nach und nach jeder Platz besetzt wird.

    Nach einer Vorband, die keiner kennt und meiner Ansicht nach für das im Schnitt eher reifere Publikum etwas unglücklich gewählt wurde, kommen die großen Stars meiner Kindheit und Jugend auf die Bühne. Ich hatte Depeche Mode schon einmal 1993 auf einem Open-Air Konzert erlebt, nur dass wir damals in einer Ecke standen und die Band, falls denn mein Vordermann mal den Kopf eingezogen hatte und einen kurzen Blick zur Bühne freigegeben hatte, wie Ameisen wirkte. Ich habe keine wirklich gute Erinnerung an diese Zeit, die aber auch mit anderen damaligen Problemen durchwachsen war.

    Nun ist es ganz anders. Nachdem zwei Musiker, die ich nicht kenne und wahrscheinlich der Ersatz für den verstorbenen Andrew Fletcher oder auch den schon vor Ewigkeiten ausgeschiedenen Alan Wilder sein sollen, die Bühne betreten, lassen sich Martin Gore und Dave Gahan kurz danach auch nicht mehr lange bitten.
    Ich bin eigentlich ein relativ emotionaler und begeisterungsfähiger Mensch, habe mir aber meine Emotionalität und Begeisterung durch viele vergangene Lebensereignisse eher abgewöhnt. Man könnte das auch Selbstschutz nennen.
    Aber es fühlt sich schon gut, beinahe episch an, als die beiden Briten unter der Beschallung ihres typischen, eher düster-schweren Depeche Mode Sounds die Bühne betreten.
    Auf der großen Videoleinwand und beinahe in echt, fällt mir auf, wie alt die beiden geworden sind. Ich muss daran denken, wie ich als 13-15 Jähriger den Bravo-Postern hinterhergerannt bin, die wohl vor über 35 Jahren viele Kinderzimmerwände geschmückt hatten. Es war auch die Zeit oder auch kurz davor, als Nikotin, Alkohol und alles andere in mein Leben traten. Aber es ist auch eine Zeit, an die ich mit gemischten Gefühlen zurückdenke, die nicht nur oder weniger mit den Drogen zu tun haben.
    Mir fällt auch auf, wie fertig oder eher wie gezeichnet die beiden Musiker aussehen. Dave Gahan muss nun schon mehrere Jahrzehnte clean sein und Martin Gore trinkt ebenfalls seit vielen Jahren nicht mehr. Irgendwie hatte ich erwartet, dass die beiden etwas frischer ausschauen. Wahrscheinlich fordert so ein Rockstar-Leben wohl so oder so seinen Tribut.
    Aber was ist schon einfach auf Gottes schöner Erde und welcher Spaß fordert nicht doch irgendwann seinen Tribut ein?
    Es sind diese kleinen Momente wie jetzt, die alles andere, was uns sonst noch bewegt, tangiert, triggert und bohrt, kurzzeitig vergessen lassen und den Fokus auf das Hier und Jetzt legen.

    Dave legt los, als hätte er ‘96 keinen Herzstillstand nach einer Überdosis Heroin gehabt und Martin spielt genauso cool wie früher, als würde er nichts mehr von Panikattacken und andauernden Alkoholmissbrauch wissen. Die beiden haben es natürlich drauf, wie man eine Show macht und das Publikum mitnimmt. Gerade Dave kokettiert mir für sein Alter fast eine Spur zu viel mit dem Publikum, aber wer bin ich, der über das Idol meiner Jugend richten könnte.
    Es sind auch diese Songs und der Sound, die ich als Kind oder Jugendlicher immer und immer wieder gehört habe, die sich beinahe eingebrannt haben und jetzt ein Stück jahrzehntealte Erinnerungen ins Hier und Heute transportieren. In mir wird sich aber jetzt auch das Bild einbrennen, wie Dave es schafft, das gesamte Publikum zum Ende mit seinen Armbewegungen zu steuern oder sich in der Masse zu spiegeln.

    Diese homogene Bewegung der Menschenmassen unter dem typischen Sound der Briten wirkt beinahe surreal und stellt ein episches Ende der Performance dar.
    Und es ist das zweite Konzert seit Jahrzehnten, das ich ohne Alkohol oder sonstige chemische Wohlfühler erlebe. Und es fühlt sich wirklich gut an. Es ist im Prinzip so wie früher, als ich es noch nicht nötig hatte, mir vor jedem Event eine externe Chemie durch die Blutbahn zu jagen und ich wegen der Musik, der Atmosphäre und den Leuten hingegangen bin. Es ist schön, wieder Herr über sich selber und seine Sinne zu sein. Es tut gut, das Ereignis vollkommen zu erleben. Es entspannt, nicht mehr mit der Beschaffung der Droge, krampfhafter Aufrechterhaltung des sinkenden Alkoholspiegels oder Überdosierung beschäftigt zu sein.

    Es ist auch ein Annehmen meiner derzeitigen Emotionen und meines Lebens, was ich jetzt ohne den Rausch erlebe.


    Auf der Heimfahrt werden wir weit nach Mitternacht und kurz vor unserem Ziel noch in irgendeinem Kaff von einer Batterie Polizisten angehalten, von denen sich scheinbar noch einige in der Ausbildung befinden. Der freundliche Jung-Polizist fragt mich nach Führerschein und Fahrzeugpapieren, die ich ihm minimal nervös und etwas genervt aushändige. Warum eigentlich, ich habe nichts zu verbergen und er macht auch nur seinen Job, führt seinen Auftrag aus.
    Als er noch den Kofferraum geöffnet haben will, um Warnweste, Warndreieck und Verfallsdatum des Sanikasten auf das Genaueste zu überprüfen, bin ich fast erleichtert, dass beim Öffnen die Helme und Skateboards meiner Kinder lustig hin und her kullern. Ich bin unschuldig, Herr Wachtmeister, ich habe weder Drogen im Kofferraum noch in meiner Blutbahn!
    Da ich nun aber nicht wie früher von Schuldgefühlen und ängstlichen Abschätzungen meines Rest-Alkoholspiegels im Blut geplagt werde, kann ich mir die Frage nicht verkneifen, aus welchem Grund denn die akribische Verkehrskontrolle weit nach Mitternacht denn nötig sei. Da er wahrscheinlich nicht sagen darf oder will, dass es sich nur um eine Übung für die Azubis handelt oder reiner Zeitvertreib ist und somit die ganze amtliche Bedeutungschwere der Sache verloren gehen würde, erwidert er ausweichend, dass wir eben die Zweiten wären, die sie heute Nacht angehalten haben. Natürlich ist das nicht die Antwort auf meine Frage und um weiteres peinliches Schweigen zu vermeiden, wünscht er uns einfach eine gute Fahrt.
    Ich wünsche ihm eine gute Nacht und fahre nüchtern und in Freiheit ein Stück weiter meinem neuen Leben entgegen.

  • 2

    Sometime after the point of no return

    Ich fahre mit dem Auto Richtung Feierabend entgegen und lasse diese nervtötende Woche in diesen seltsamen, verrückten Betrieb und diesen seltsamen, verrückten Leuten, die scheinbar meine Arbeitskollegen sein sollen, hinter mir. Die Kopfschmerzen und der Druck hinter Stirn und Augen bleiben.
    Zu allem Übel musste ich noch vor dem Wochenende erfahren, dass ich kommende Woche meinen Chef auf eine mehrstündige Dienstreise zu einem Workshop begleiten muss. Der mega-langweilig Workshop ist ohne meine Führungskraft schon anstrengend genug, aber mit ihm müsste ich eigentlich Erschwerniss-Zuschläge beantragen. Noch anstrengender als diese Show-Veranstaltung ist die lange Autofahrt mit ihm dahin und wieder zurück.
    Im Grunde seines Herzens ist mein Chef nicht verkehrt, aber er ist dienstlich wie auch privat sehr in die Strukturen dieses Kasperle-Theaters, was eine Firma sein soll, verstrickt. Diese sogenannte Firma, wo sich der Sauhaufen unter hochglänzenden, wichtigen Zertifikaten und Corporate Design versteckt und er ein mittelgroßes Zahnrad verkörpert. Aber eigentlich ist er eine total arme Wurst und ich wöllte auf keinen Fall mit ihm tauschen.

    Mein Großmogul gibt sich auf Dienstreisen erfahrungsgemäß immer freundlich und volksnah. Natürlich lässt er es aber auch nicht zu, dass sich das Gespräch auf Augenhöhe bewegen könnte, schließlich ist er der Vorgesetzte und ich nur sein kleiner, dummer Untergebener. Das sagt er mir natürlich nicht so offen ins Gesicht, aber da ich ihn und seine manchmal herablassende Art kenne, fällt es mir relativ leicht, die Schmierenkomödie unserer Abteilung als das zu sehen, was sie ist. Nämlich ein Haufen aus Halbwahrheiten und Schwindel, Diffamierung, Machtspielchen und Aufbauschen von Nichtigkeiten. Dazu kommen noch unverhältnismäßige Disziplinarmaßnahmen gegen einige Mitarbeiter und permanentes Kleinhalten selbiger, aber wiederum wohlwollendes Auge zudrücken und Lobhudelei bei anderen rebellischen Mitarbeitern. Man bekommt auch nur die Informationen zugeteilt, die personengebunden für richtig befunden werden und ein manipulatives Lenken des jeweiligen Mitarbeiters einfacher machen.
    Alles dient letztendlich dem Zweck, um willenlose Arbeitsameisen zu erziehen und von eigenen Defiziten abzulenken. Es läuft darauf hinaus, das Ego der Mitarbeiter so klein wie möglich zu halten, ihnen latent eine Grundschuld am eigenen Misslingen und Fehlplanungen überzuhelfen und somit ein gutes Druckmittel zu besitzen.
    Als ich früher noch täglich mein Tonikum genoss, was zu der Zeit keins mehr war, sondern eher das Gift, das mich immer kränker werden ließ, machte ich das ihnen unterbewusst auch recht leicht.
    Nun zieht das psychische Druckmittel, das gerne von unserer Führung gegen undemütige Mitarbeiter eingesetzt wird, nicht mehr so ganz. Und der Mitarbeiter macht sich seine eigenen Gedanken, ohne dass er sich jetzt noch verkatert um Schuld, Scham, Verpeiltheit und alle anderen lustigen Begleiterscheinungen eines alltäglichen feucht-fröhlichen Abends kümmern muss. Dem Mitarbeiter fiel es schon zu Zeiten des Tonikums schwer, gute Miene zum bösen Spiel zu heucheln, aber ohne Tonikum sieht der Mitarbeiter die Sache, wie sie ist: Ein Kasperletheater, über das man nicht einmal schmunzeln kann und es fällt ihm deswegen nicht leichter.

    Nun ist Dienstreise und Theater-Show-Vorführung erst nächste Woche und ich spiele mit der Vorstellung, meinen Comandante auf der langen Fahrt an irgendeinem Bratwurststand nahe der Autobahn ohne Handy und Papiere auszusetzen. Ein paar Euros für eine Wurst und ein Bier würde ich ihm natürlich lassen. Ich bin ja schließlich kein Unmensch.
    Aber wir befinden uns hier in Deutschland und nicht im australischen Outback.
    Und Dinge haben Konsequenzen, Rent, so ist das nun mal im Leben. Egal ob man bewusstseinsverändernde, süchtig machende Substanzen zu sich nimmt, gegen eine Dienstanweisung verstößt und die Tür nur einmal, statt zweimal zuschließt und damit haarscharf an einer Abmahnung vorbeischlittert oder seinen Boss auf einer verlassenen Autobahnraststätte aussetzt, früher oder später kommt alles wieder auf dich zurück. Schlechtes Karma, Rent, du hast es in der Hand. Es ist dein Leben, deine Zukunft und dein Chef.


    Ich mache mir keine weiteren Gedanken über Zukunft oder Vergangenheit, weil ich zu Hause angekommen bin und meine Kopfschmerzen schon ohne Chef unerträglich genug sind. Ich lasse einfach das ganze Affentheater, wo es ist, steige aus und schließe mein Auto ab. Früher hätte ich mich bei einem so leidlichen Allgemeinbefinden erst einmal ordentlich weggeballert und noch ein paar Schmerzmittel dazu eingeworfen. Aber das geht nun nicht mehr, besser gesagt, ich möchte das nicht mehr. So schließe die Wohnungstür auf, ziehe meine Vans aus und gehe ins Haus.
    Da wieder mal die Busse streiken und dadurch immer ein großer logistischer Aufwand entsteht, hat meine Mutter die Kinder aus der Schule abgeholt. Ich komme in die Stube, wo sie mit den Kindern auf mich wartet und ich merke, dass die Stimmung eher angespannt ist. Meine kleine Tochter tut sich seit einiger Zeit immer wieder schwer, früh zur Schule zu gehen und hat teilweise regelrechte Panik davor und mein Großer hat zur Zeit ziemliche “handfeste” Probleme mit einigen Mitschülern. Meine Mutter war auch noch nie ein optimistischer Fröhlichkeitsgarant und ich bin immer froh, wenn es halbwegs ohne große Reibereien mit ihr läuft. Im Moment gibt es zwar keine Reibereien, aber die Problemlösungsansätze meiner Mutter gehen eher in Richtung unbestimmte Verzweiflung und Schwarzmalerei und sind, wie so oft, nicht hilfreich.
    In mir kommt so eine Hilflosigkeit auf, weil es nicht um meine eigenen Probleme geht, die ich vielleicht noch stemmen kann oder zur Not eben meinen Chef irgendwo auf der Autobahn aussetze, sondern um die Probleme meiner Kinder, bei denen ich ihnen nur gut zureden kann. Ich kann aktiv nichts unternehmen und fühle nur ihre beschissene Situation nach.
    Bei meinem Sohn bin ich versucht zu sagen, gib diesen Stänkerfritzen mal ordentlich eins auf die Fresse, damit sie ihre Fresse halten und dich zufrieden lassen. Aber da sie in der Überzahl, einige einen halben Kopf größer, stärker und wahrscheinlich auch noch wortgewandter sind, würde der Tip mit Keule und Faustkeil eher nach hinten losgehen. Erfahrungsgemäß würde so ein Ratschlag auf kurz oder lang sowieso floppen, da Gewalt, ob psychisch oder “nur” verbal immer nur neuen Ärger produziert. Ich habe zwar auf meiner Arbeitsstelle die Vorteile von gepflegten verbalen Präventischlägen und den richtigen Spruch zur richtigen Zeit, um sich mal kurz etwas Luft zu machen, zu schätzen gelernt, sehe das aber bei meinem Sohn als kaum umsetzbar und auf Dauer nicht zielführend an.
    Und da mein Sohn relativ feinfühlig und selten auf Krawall aus ist, sehe ich die Möglichkeit, verbal offensiv zurückzuschlagen, bei ihm eher weniger. Zumal er sich gegen eine Gruppe behaupten müsste, die ihm Feigheit oder sonst was unterstellt, aber sich selbst nicht zu feige sieht, um auf einem Einzelnen herumzutrampeln und ihn herumzuschubsen. Meine Frau und ich belassen es dabei, dass er versuchen soll, sich so gut wie möglich aus der Situation herauszunehmen und planen eventuelle andere Schritte, die aber erwartungsgemäß auch nicht hundertprozentig erfolgversprechend sein könnten und den Stänker-Willis eventuell sogar neues Futter bieten könnte.


    Diese Stimmung, liebe Leser, die zum Einläuten eines friedvollen Feierabends eher weniger taugt, durchlebt eben nun gerade der treu arbeitende, jetzt cleane Familienvater, der zudem nächste Woche noch seinen Chef am Hals hat.
    Kinder, wo ist mein Bier, meine Zeitung und meine Pantoffeln? Ach nein, zumindest das mit dem Bier war ja nicht mehr. Zeitung haben wir keine und wenn es mich nach Pantoffeln verlangen sollte, mache ich mir langsam Sorgen.

    Apropos Bier oder Alk im Allgemeinen, das juckt mich schon lange nicht mehr. Mich ekelt es regelrecht, wenn ich an die letzten Beduselung denke, da war nichts mehr mit Golden Moments, das war eher dauerbreit. Ich wüsste auch, dass ich ziemlich tief ins Glas und den Arzneischrank schauen müsste, um eine wirkliche Linderung meines körperlichen und vor allem meines geistigen Befinden zu haben.
    Ich höre gerade, wie mir Freimut, der Obermufti aus meiner Selbsthilfegruppe, in gewohnter Barschheit vorwirft, dass das nasses alkoholisches Denken wäre.
    Nein lieber Freimut, so einfach ist es manchmal nicht, man kann auch mal einen Gedanken in der Richtung zulassen oder zu Ende denken, ohne gleich einen Rückfall zu erwarten, der sich gewaschen hat. Man muss sich auch nicht jahrzehntelang in seiner Selbsthilfegruppe, hinter seinen Erfahrungen und seinen alkoholfreien Jahren verstecken und die eigene Angst von Generation zu Generation weitergeben. Es ist für mich ein riesen Unterschied, wie ich eben diese alkoholfreien Jahre, wie ich mein Leben jetzt verbringe. Soviel dazu, lieber Freimut.

    Es ist manchmal eher eine Suchtverlagerung auf kleinere Endgegner, die bei mir einsetzen will. Ich habe meine letzten Opioide schon ewig entsorgt, ich weiß von meinen Möglichkeiten von Sport, Spaziergang, Reden, Schreiben oder auch mal Schreien. Schreien kommt natürlich nur heimlich für mich auf einer Autofahrt in Frage und natürlich ohne Chef.
    By the Way, vielleicht schreie ich mein Oberhaupt nächste Woche einfach doch mal aus der Kalten an, das wäre für uns beide eine sehr interessante Erfahrung. Ok, vielleicht setzt er mich dann auf einer Raststätte aus, da kauf ich mir anstatt Bier und Bratwurst, eben zwei Bratwürste, was solls.

    Zurück zu den kleinen chemischen Helfern. Durch Pollenallergie und teilweise chronische Sinusitis brauche ich manchmal Schnupfenmittel, die in keinster Weise einen Rausch erzeugen, aber teilweise total eklig müde machen. Ich habe ein Medikament, das nannte ich immer “die schlechte Laune-Pille” und habe sie früher immer ungern oder nur abends genommen.
    Seit den letzten Erkältungen und Pollenallergien habe ich gemerkt, dass ich ab und zu gerade diese eher eklige Müdigkeit erzeugen will. Ich muss wirklich verzweifelt sein, in der Not frisst der eben Teufel Fliegen. Als ich das Mittel auf Abhängigkeitspotential google, komme ich auf eine offizielle Seite, wo medizinische Fachkräfte vor Missbrauch einiger Erkältungsmittel warnen. Aber so schlau oder eher so dumm, dass nebenher noch die ungefähre Anleitung steht, wie man aus legalen Zutaten einen illegalen Rausch zusammenbasteln kann. Man nehme…
    Und das mir, liebe Leser, der ich doch mit den besten und ehrlichen Absichten auf Internet-Recherche gegangen bin.
    Ok, den Alk gibt's auch an jeder Tanke und in jedem Penny, so viel dazu. Ab einem gewissen Alter sollte Eigenverantwortlichkeit eben eine Rolle spielen

    Kehren wir nun wieder zurück zu der eher unangenehmen Freitag-Nachmittags-Feierabend-Situation.
    Mir geht eigentlich alles auf den Sack, ich weiß mit meinen Emotionen und den Spannungskopfschmerzen nicht wohin und will mich mit irgendwas minimal sedieren, müde machen, irgendwas. Da mir das wiederum zu blöd ist, mache ich Sport und schlage auf den Boxsack meines Sohnes ein. Manchmal stelle ich mir beinahe einen dickeren Arbeitskollegen vor, der nicht mein bester Freund ist, aber vom Umfang deutlich dicker als der Boxsack ist. Das klappt schonmal nicht. Nein, natürlich schlage ich nicht gedanklich auf einen Menschen ein, sondern eher auf die Situation und den Frust, den manche Zeitgenossen in ihrem ewigen Neid-Denken und Diffamierungen nunmal erzeugen. Ich gebe dem Kollegen, nein, natürlich dem Boxsack ein paar Low-Kicks und ein paar Ellenbogen und schlage mit meiner kaum erwärmten Rechten einen schönen rechten Seitwärts-Haken, der mit der Kraft der Verzweiflung angetrieben wird und gut sitzt. So gut, dass ich mir gleich mal den Daumen halb verstauche.
    Ich sehe schon meiner Frau, die mich mit einem Blick anschauen wird, der sagt, “Ach Mensch, was hast du nur wieder gemacht” und ich werde abwehrend sagen, “Alles halb so schlimm, ist kaum was”, obwohl mir der Daumen gerade anschwillt und doch etwas über Gebühr schmerzt. Da der Frust-Kampf-Sport nun mal ausfallen muss und meine Hand beim Joggen bei jeder Bewegung schmerzen würde und ich sie gerade kühle, lasse ich lieber alles bleiben.

    Ich fange an, in den “Golden Moments” weiterzuschreiben, was mir immer recht gut hilft und mich etwas erdet. Mir wird beim Schreiben wieder bewusst, was ich bin und bleiben werde: Süchtig. Und das löst in mir keine Verzweiflung aus, sondern es ist eher ein Annehmen von mir und der Situation, sogar verbunden mit einem leichten Trotz, beinahe einer positiven, kämpferischen Stärke.
    Tough Life hier bin ich und ich stehe, noch! Egal wie die Emotionen gerade sind, es sind meine Emotionen und sie spiegeln nur die derzeitige Situation wider. Die Situation ist scheiße, aber ich kann sie im Moment nicht ändern. Was ich kann, ist sie samt meiner momentanen negativen Gefühle anzunehmen. Es ist so, wie es gerade ist.

    Was seltsam ist, ich hatte vor kurzem noch das Bedürfnis, mich mit einem zweitklassigen Erkältungsmittel, was früher nie die erste Klasse oder Wahl gewesen wäre, mich in einen drittklassigen müden Zustand zu versetzen oder alles in Scherben zu hauen.
    In mir kommt aber jetzt wieder das zum Tragen, was ich so sehr mit mir, meiner Sucht und der Annahme selbiger in Verbindung bringe.
    Durch dieses innere Aufgeben oder Annahme der Situation transformieren sich mein Frust, meine Verzweiflung und meine hässlichen Kopf- und Augenschmerzen zu einer Energie, die mich schon oft angetrieben hat. Es ist ein Annahme der Dinge, die ich derzeit nicht verändern kann und in mich kommt eine Ruhe, ein Gefühl der Stärke, was zwar noch weit weg von echter Gelassenheit ist, aber diese hilflose Verzweiflung ersetzt.
    Es ist alles so, wie es gerade ist. Ich bin mehrmals durch das Leben zerschlagen worden, aber gerade dadurch bin ich stark geworen und stehe aufrecht. Ich kenne die Sucht und den Rausch, ich kenne das unbändige Verlangen danach, aber ich bin darüber hinweg. Für heute und hoffentlich für immer, wer weiß das schon genau. Aber zumindest für heute weiß ich es mit Sicherheit.
    Ich klappe die Tastatur zu und kühle weiter meinen Daumen.

    2 Mal editiert, zuletzt von rent (19. April 2024 um 22:37)

  • ARRIVAL oder
    “Die Letzten werden die Ersten sein”


    Mir schlägt diese heiße Luft entgegen, die wie eine Wand wirkt. Es ist Mittag und die grelle Sonne brennt in meinen müden Augen, so dass alles beinahe überbelichtet, fast weiß erscheint.

    Ich gehe die Gangway hinab, betrete das Rollfeld, das vor Hitze flimmert und trotte den anderen Schafen hinterher, einer wird schon wissen, wo es lang geht.
    Beim Betreten des Terminals bin ich beinahe erleichtert, wieder diese künstliche, klimatisierte Luft zu atmen. Das eher kleine Abfertigungsgebäude wirkt unscheinbar und ist kein Vergleich zu dem riesigen verworrenen Hochglanzflughafen zuhause, der um ein Haar wie der Turmbau zu Babel geendet hätte. Nur dass beim Turmbau zu Babel der liebe Gott die Sprachen der einfachen Bauarbeiter verwirrte und bei besagten Flughafen nur für Verwirrung unter den Planern sorgte.

    Egal, ich bin im Moment auch etwas verwirrt, ob ich am richtigen Gepäckband stehe, weil mein Koffer nicht dabei ist. Aber da meine Begleitung die Koffer vom selbigen schon vor Ewigkeiten erhalten hat, sind die Dinger vermutlich im richtigen Flieger gelandet. So kann es nur eine Frage der Zeit und der Hoffnung sein. In diesem Land braucht es, wie auch sonst in meinem Universum, eben Geduld. Mein Langmut und mein Glaube zahlen sich wie üblich aus und mein Koffer kommt als einer der letzten. Er scheint intakt, was darauf hindeutet, dass noch alle Sachen drin sind.

    Erleichtert, meine Last auf Rollen wieder zu haben, macht sich eine andere Last bemerkbar, die ebenfalls nach Erleichterung verlangt und so begebe ich mich auf die Suche nach einem “Restroom”.
    Als ich mich kurz darauf im Spiegel des Waschraums betrachte, fällt mir mein müdes, verspanntes Gesicht auf. Es gab wirklich schon Tage, an denen ich etwas ungestresster ausgesehen habe. Aber es ist wieder mein Gesicht, und ich will mich nicht beklagen. Es gab früher Zeiten, in denen ich es nicht wahrhaben wollte und vermieden habe, mich im Spiegel anzusehen.
    Ich habe dieses aufgedunsene, teigige Gesicht mit den geröteten, wässrigen Augen gehasst und mich unendlich dafür geschämt. Es fühlte sich an, als würde sich mein verzweifeltes Inneres einen Weg nach außen bahnen und verräterisch alle meine Sünden, Haltlosigkeiten, den ganzen ohnmächtigen Wahnsinn preisgeben wollen. Auch war diese seltsame Schwäche in den chronisch drückenden, müden Augen. Diese Schwachheit, durch die es in solchen Momenten schwer fiel, anderen Leuten offen in die Augen zu schauen und den Blick zu halten. Es war eine verzweifelte Scham in mir wegen dem, was andere in meinem Gesicht und in mir sehen mussten. Da ich meine innere Verzweiflung nicht von meinem Gegenüber in Form von ablehnender Bewertung widergespiegelt haben wollte, vermied ich oft den direkten Augenkontakt.

    Wiederum kenne ich auch das gelöste, feinsinnige Gesicht mit den entspannten, glänzenden Augen, in denen die Kraft der Droge steckte. Das wache Gesicht und die Augen, die Lächeln, Flirten und das Gegenüber wie vor einer Leinwand als ein lebendiges Gemälde wahrnehmen konnten. Die Augen, die ohne Schmerz und vollkommen entspannt die Umwelt wahrnahmen.
    In denen auf Basis von C₂H₅OH und später C₁₇H₁₉NO₃ und dessen Derivaten eine zuvor nie gekannte Kraft, eine abgeklärte Gelassenheit und ein verborgenes Wissen steckte und dieses geheimnisvoll nach außen strahlte. Nur eben leider nur auf der Basis dieser externen Chemie. Es war nicht mein eigenes, sondern ein geborgtes Glück.
    Aber wie es bei geborgten Sachen so ist, gibt es leider oft Sorgen damit. So wurde dieser Quell der geliehenen Glückseligkeit immer launischer und giftiger und versiegte letztendlich ganz. Am Boden dieses inneren Sees kamen nun wieder der Schmerz, die Verzweiflung, die Schuld und die Scham zum Vorschein, die alten guten Bekannten von früher und verlangten nach immer größerer Sedierung.
    Ich habe durch die Droge fast die Sonne berührt und erlebt, wie wunderbar sich Leben anfühlen kann. Ich habe mich in einer vorher nie gekannten Selbstliebe angenommen und diese gelassene Zufriedenheit, die auf der Droge basierte, aus meinem Inneren ausgestrahlt.

    Ich lasse die Erinnerungen an mir vorüber fließen, betrachte dabei den Strahl des Wassers, der im Abfluss versiegt und trockne meine Hände ab. Ich rücke mein Basecap zurecht, welches das Label einer Surfer-Marke trägt, obwohl ich noch nie in meinem Leben gesurft bin. Als ich prüfend an mir herunterschaue, um später tadelnde Blicke meiner Partnerin zu vermeiden, bleibt mein Blick an meinen Vans hängen, der Marke die ich schon seit Jahrzehnten an meinen Füßen mit mir herumtrage. Ich war nie ein besonders begabter Skateboarder, aber ich mag bis heute den Lifestyle, der durch diese Marke suggeriert wird. Diese coole Freiheit, verbunden mit einem Anderssein, die vermutlich nur findiges Marketing ist.
    In meinem Alter sollte ich mir sowieso langsam mal ein paar standesgemäße Lederslipper zulegen, aber ich mag mich manchmal einfach nicht von alten, gewohnten Dingen trennen. Vermutlich wird auf meiner Beerdigung der Kondolenzexperte meinem Schuhwerk eine besondere Aufmerksamkeit widmen: “Rent liebte seine Skater-Latschen und trug sie selbst noch im Altenheim beim Schieben seines Rollators, den er mit bunten Stickern verzierte…”

    Da ich jetzt noch keinen Rollator stoisch in Richtung allerletztes Exit schieben werde, sondern mein Koffer beinahe von alleine auf Samsonite-Rollen in Richtung Ausgang und Urlaub gleitet, versuche ich nach vorne zu schauen. Aber natürlich nicht zu weit in die Zukunft mit dem Rollator, sondern nur das, was ich gerade vor Augen habe.
    So rollen wir unsere Koffer zum Ausgang und wundern uns, wieso wir auf einmal in Freiheit stehen. Haben wir den Zollschalter inklusive dem grimmig dreinblickenden, schnurrbärtigen Borat, der sich als Beamter verkleidet hat, verpasst? Früher wechselte sein argwöhnischer Blick immer zwischen mir und meinem Pass, nur um mich dann nach endlosen Minuten wortlos durchzuwinken. Werden wir nun gleich von einem einheimischen SWAT-Kommando auf den Boden geworfen, in Gewahrsam genommen und nach Drogen durchsucht? Aber es passiert nichts.
    So fährt erleichternd die große gläserne Ausgangstür auf und ich nehme wieder diese heiße Luft wahr, die sich jetzt nicht mehr unangenehm anfühlt. Dieser warme Föhn schmiegt sich nun wie eine wohlige Decke an meinen Körper und gehört hier dazu, wie glitzernder Schnee und klirrende Kälte zum Wintersport.
    Auch werde ich durch diese tropische Hitze an längst vergangene Zeiten erinnert.

    Ich kann mich noch an meinen ersten Flug entsinnen. Das war die Zeit, als im Flugzeug noch geraucht werden durfte und Gratisgetränke, in meinem Fall Bier und Wein, in diesen transparenten Plastikgläsern serviert wurden. Ich habe noch dieses Schauspiel aus Natur und Technik vor Augen, als das Flugzeug durch die dicke Wolkendecke stieß und das weiße Himmelsgebilde von oben wie Zuckerwatte von einer strahlenden, goldgelben Sonne erleuchtet wurde. Ich weiß noch, wie wunderbar angeflutet ich damals die Treppen des Flughafengebäudes hinunter gegangen bin und wirklich alles in Ordnung schien. Naja nicht ganz, ich hatte mit meiner damaligen Freundin etwas Stress, weil ich es mit meiner Anflutung aus ihrer Sicht wieder etwas übertrieben hatte und wir noch durch die Passkontrolle und den Zoll mussten.
    Aber vielleicht kennt jemand die Momente, in denen die Dinge und Erlebnisse, die dich niedergedrückt und deprimiert haben, hinter dir liegen und sich alles gut anfühlt? Es ist dieses unschuldige Gefühl, das an Momente in der Kindheit erinnert, bevor das Leben mit seiner manchmal unaushaltbaren Last kam. Man denkt, man hat allen Scheiß hinter sich und glaubt, es wird auf ewig so bleiben, aber natürlich bleibt es meistens auf Dauer nicht so, wie es ist.
    Wenn ich ehrlich bin, habe ich aus heutiger Sicht und meinen Erlebnissen das Leben nie wieder so unbefangen wie damals wahrgenommen. Dafür ist in meinem Leben zu viel passiert und ich habe zu oft in den Abgrund geschaut. Auch gab es vor vielen Jahren infolge persönlicher Probleme beider Partner eine Trennung, unter der ich sehr lange gelitten habe und mir aufgrund meines Konsums die Alleinschuld gab.
    Aber es ist vor allem die Sucht an sich, die jetzt mit mir aus dem Flugzeug ausgestiegen ist. Sie zwängt und drängt mich nicht mehr wie früher, sie lässt mich größtenteils zufrieden, aber ich weiß auch, dass mein jetziger Zustand wieder mit dem ersten Glas vorbei sein könnte.
    Es ist in den Jahren etwas passiert, was mich nicht mehr alles so unbedarft wie früher betrachten lässt. Klar, man wird auch älter und ich habe jetzt als Ehemann, Familienvater und Versorger eine Verantwortung, die damals überhaupt nicht relevant war.
    Aber die Erinnerung an die Sucht fährt mit, zwar harmlos, aber in Präsenz.

    Ich habe schon ewig nicht mehr mit Craving zu kämpfen gehabt und das hier ist kein Craving, das ist Pille-Palle, das ist eher eine romantisierte Verklärung. Aber ich kenne mich, wenn ich diesem Gedanken Raum gebe, könnte er bald einen Brückenkopf installiert haben und dann wird es anstrengend.
    Heute ist es auch nicht dieser zerrende Suchtdruck, der sich früher sogar im Bereich des Solarplexus bemerkbar gemacht hat. Es ist eine Mischung aus Jetlag, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Unwohlfühlen, ein Nichtankommen in fremder Umgebung und Reizüberflutung. Auch spielt die Unzufriedenheit mit, die von einer verklärten Erinnerung genährt wird, sich nie wieder wie früher in gewohnter tropischer Urlaubsumgebung wegballern zu können. Sich nie wieder mit einer wohlschmeckenden, aber giftigen Chemie in den eigenen, ganz privaten südlichen oder universellen Sternenhimmel beamen zu können. Es ist ein Hadern mit mir und meinem Leben. “Warum ich?!”
    Klar, frag mal den, der unheilbar krank ist, der schmunzelt eventuell über dein Problem und wöllte vielleicht mit dir tauschen.

    Selbstmitleid hat noch nie geholfen. Ich bin meinen Weg schon so weit gegangen und habe ehrlich gesagt einen riesigen Respekt vor dem Umkehren. Ich weiß, dass durch einen Rausch, und mag er noch so klein sein, alles wieder weggespült werden würde. So gehe ich einfach weiter und werde mit jedem Schritt fester. Ich blicke nicht auf verklärte Momente zurück und schaue mich nicht um. Der Krieg und die ausgebombten Ruinen liegen hinter mir und ich schaue auf das Zarte, das jetzt neu und zerbrechlich aus den alten Trümmern hervorsprießt. Es ist wie eine Wiese, die neu eingesät wurde und anfänglich nur vorsichtig betreten werden sollte, um nicht gleich alles wieder zu zertrampeln.


    Golden Sundown and Clear Water

    Die Sonne senkt sich langsam über den Horizont und taucht den Himmel in strahlendes Gold und warme Orangetöne. Das Wasser glitzert wie tausend kleine Diamanten und die Wellen rollen sanft ans Ufer. Mir weht eine warme Brise entgegen und ich höre das ruhige Rauschen des Meeres. Alles ist in ein friedliches, goldenes Licht getaucht und ich verinnerliche diese Welt, die ein Ausdruck meines inneren Mikrokosmos, meines inneren Friedens ist, der nichts außer meines eigenen Seins benötigt.
    Mmh, das war vielleicht jetzt ein kleines bisschen übertrieben…

    Ich sitze zum Abend mit meinem Wasser im Hotel, wodurch der Abend etwas fad und geschmacklos wie das Wasser selbst wirkt. Ich werde auch beim späteren Bummel über die Promenade bei Wasser bleiben. Auch dränge ich nicht wie früher zum Halt in Tavernen und kleinen Lädchen, die mit einladenden, gut gekühlten Alkoholika mit exotischen Namen hinter kondensierten Scheiben eine mir sehr bekannte Erfrischung verheißen. Mir reicht es, die temporäre innere Zufriedenheit und Anflutung der anderen Urlauber von außen betrachten zu können. Ich fühle mich dabei wie ein Beobachter. In Ansätzen vielleicht auch wie ein Kind, das von draußen der glücklichen Familie unter dem geschmückten Weihnachtsbaum beim Geschenkeauspacken zusieht.

    Es ist halt so, wie es ist, es ist nicht mehr meine abendliche, alkoholisierte Urlaubswelt. In mir kommt trotzdem eine minimale Melancholie auf, dass es nicht mehr so ist, wie früher und auch nie wieder so sein wird. Auch klopft dieses bekannte Gefühl an, nicht dazuzugehören, beinahe noch nie wirklich in diese Welt integriert gewesen zu sein. In Summe fühlt sich das etwas fremd an, es ist diese Fremdheit und Leere, die ich mit der Droge so wunderbar kompensieren konnte.

    Da ich die momentane Gefühlslage, die vielleicht in dem Sinne wirklich auf einer Art Anderssein beruht, nicht ändern kann, nehme ich alles an und sage ja. Ich sage ja zu mir, meinem Leben und meinen Gefühlen, wie sie im Moment sind. Es macht keinen Sinn zu hadern, ich bin nunmal süchtig und vielleicht auch etwas anders, aber es ist so wie es ist und ich werde mich nicht mehr verbiegen.
    Ich weiß auch, dass morgen früh wieder alles in Ordnung sein wird, ich erleichtert aufstehen und zufrieden mit mir sein werde, dass ich seit langer Zeit ohne Droge bin und das tendenziell auch so bleiben wird.
    Aber heute Abend ist noch nicht morgen früh.

    Erfahrungsgemäß lässt diese abendliche Leere und Fremdheit meistens nach ein paar Tagen nach. Es hat bei mir auch viel mit einem Ankommen in fremder, ungewohnter Umgebung zu tun. Trotzdem wird dieses Gefühl meistens abends, zu den Zeiten, an denen ich mich früher berauscht habe, immer mal wieder in leichten Dosen aufkommen.
    Ich würde mir wünschen, dass es nicht so wäre und habe die Hoffnung, dass diese Leere irgendwann gänzlich durch ein Angekommensein, einem wirklichen Dabeisein ersetzt wird.
    Aber ich kann es auch nicht erzwingen.
    So sitze ich nun an diesen heißen Sommerabenden statt mit einem Tablett voller Weingeist, nun mit einem Tablet und dem Kopf voller Ideen da. Ich lasse mich trotzdem wie früher von einem weichen, warmen Wind umsäuseln, höre auf das Rauschen des Meeres und tippe meine Eindrücke in die Tastatur.
    So verarbeite ich nun nüchtern meinen Tag und brauche keine Angst mehr vor dem Zapfenstreich der Hotelbar zu haben. Der eine oder andere kennt bestimmt noch das Gefühl, mit zu wenig Rausch und aus Mangel an Nachschub keine Möglichkeit zu finden, die rauschende Ballnacht privat fortzuführen, und unbefriedigt in fremden Betten einzuschlafen. Auch ein Gefühl von Fremdheit, Einsamkeit und Leere, nur auf einer ganz anderen Seite des Zauns. Es ist immer eine Frage der Perspektive.



    Von “Die andere Wange hinhalten” oder so ähnlich

    2024, irgendwo im Süden mit einem gedanklichen Exkurs in längst vergangene Zeiten

    Mir ist heiß, ich bin müde und die grelle, bunte Stadt mit den vielen bunten Menschen hat mich total überreizt. Wir sind noch in so einem größeren Spittelladen gelandet, der sich Super-Market nennt. Eigentlich ist es eher so eine größere Markthalle, wo du von Gewürzen bis zum größten Urlaubskitsch alles kaufen kannst. Durch die Gerüche der Gewürze werde ich fast an einen Souk in Marrakesch erinnert.

    Nordafrika, Marokko. Da war ich einmal in meinem Leben und will dort nie wieder hin. Das Bier hat damals im Hotel 10 deutsche Mark gekostet, so dass ich gezwungen war, mir wie so ein Penner irgendwelche ungenießbare Weinplörre in schwarzer Plastiktüte unter meine Poolliege zu schmuggeln. Anders hätte ich das dort sowieso nicht ausgehalten. Klar wir hätten auch Kif, Aitsch oder getrocknete Kamelkacke von so einem ziegengesichtigen, jungkriminellen Kleindealer kaufen können, der uns beim Flanieren außerhalb des Hotels immer hinterher geschlichen ist. Aber da sein Vater, der als hiesiger Polizeichef wahrscheinlich auch die regionale Drogenproduktion inklusive Absatz innehatte und vermutlich mit seinem Schwager und dessen Großcousin in der nächsten dunklen Seitengasse auf uns gewartet hätte, habe ich es lieber gelassen.

    Um auf andere Gedanken zu kommen, hatten wir für damalige Zeiten einen vollkommen überteuerten Tagesausflug ins Atlas-Gebirge gemacht. Heutzutage bekommst du dafür nicht einmal mehr die Teppichmanufaktur oder das typische Dorf geboten.
    Ich hatte mich von meiner Reisegruppe etwas gelöst, weil der Reiseleiter in seinem Kaftan eine absolute Schlaftablette war und nur sich selbst und seine orientalische Ruhe genossen hatte. Der Typ hatte echt die Ruhe weg und erwartete wohl, dass ihn seine Touristen unterhalten. Der bräuchte mal zwei Wochen das mitteleuropäische Klima auf meiner Arbeit inklusive meiner Chefin, der wäre dort keine zwei Tage, das ist schon mal Fakt. Ich sehe ihn schon mit weit aufgerissenen, vor Entsetzen geweiteten Augen, im wehendem Kaftan und seinen lächerlichen Fez festhaltend, die Tore unseres schönen Betriebsgeländes blitzartig verlassen. Der kommt nie wieder und ich irgendwann auch nicht!

    Aber lassen wir nun den edlen Reiseleiter in seinen orientalischen Pantoffeln in Ruhe weiterschlafen und schwenken zu einem jungen Ziegenhirten in zerfransten Badeschlappen, der mir beinahe meine Ruhe und meine D-Mark geraubt hätte.
    Ich stehe wie schon erwähnt etwas abseits in flirrender Hitze, rauche eine Zigarette wie Omar Sharif in “Lawrence von Arabien” und betrachte mir dabei sinnierend das karge Atlas-Gebirge. Mir fallen die steinzeitlichen Lehmhütten auf, in denen tatsächlich Leute wohnen und ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, dieses Leben zu leben. Mir wird bewusst, dass wir Menschen eigentlich nichts dazu tun können, auf welchem Fleckchen Erde und in welches Umfeld wir hineingebohren werden. Die Umstände, welche oft den weiteren Verlauf unseres Lebens dramatisch mitbestimmen.

    Ganz versunken in meine tiefgehenden philosophischen Betrachtungen bekomme ich fast nicht mit, dass sich mir besagter dubioser Ziegenhirte nähert.
    Er bittet mich um eine Zigarette. Arglos wie ich bin, gebe ich ihm eine und sogar noch Feuer. Ich nicke ihm zu und wundere mich, warum er einfach ohne sich zu bedanken verschwindet. Da aber die Gebräuche hier wohl etwas anders sind, hoffe ich, dass ich nichts falsch gemacht habe und mir jetzt nicht die Mutter des Ziegenhirten, die wahrscheinlich auch die Schwester des Polizeichefs ist, in selbstgerechter Empörung irgendeine überteuerte Holzschnitzerei über mein Basecap ziehen könnte.
    Das passiert natürlich nicht, dafür kommt der Hirte mit einer kleinen Ziege angedackelt und macht mir klar, dass ich als Dank für die Kippe ein Foto mit seiner Ziege machen darf. Ich habe da echt keinen Bock drauf, aber der Kleintierfarmer, der auch ein guter Versicherungsverkäufer oder Vermögensberater wäre, lässt sich durch nichts von seiner guten Tat abbringen.
    Ich will es wirklich nicht! Aber da die Situation langsam nervig wird und ich ihn samt seiner Ziege nur noch loswerden will, bitte ich meine damalige Freundin sich zur Ziege zu stellen. Ich finde, dass das ein gutes Motiv ist, nämlich zwei Ziegen im Vordergrund einer malerischen, schroffen Berglandschaft. Ich schieße lustlos ein, zwei Fotos. Erleichtert darüber, dass sich die zwei Ziegen so gut vertragen haben und sich der Hirte samt seiner Ziege wieder in sein Bergdorf verkrümelt, will ich mich mit meiner Ziege wieder zu der anderen Hammelherde, auch genannt Reisegruppe, stellen. Als wir die Gruppe fast erreicht haben, kommen uns Ziegenhirt, samt seiner Schwester, vielleicht ist es auch, Großcousine oder nur eine Komparsin, laut schimpfend und gestikulierend hinterher gelaufen. Sie wollen mir klar machen, dass ich ihr Nutztier fotografiert und damit wohl geschändet habe. Um diese Schmach zu sühnen, fordern sie nun eine Entschädigung im Wert von mindestens 2 Bierkästen Marke “Sternburg Export" im Sonderangebot von mir.
    Angesichts dieser vollkommen nachvollziehbaren und logischen Forderung überkommt mich ein Schrecken. Es beschleicht mich die Sorge, dass meine Begleit-Ziege, die ebenfalls fotografiert wurde, nun den Gedanken hegt, von mir geschändet worden zu sein. Es liegt nahe, dass sie gleichermaßen auf eine monetäre Wiederherstellung ihrer Ehre besteht, um sich Schminkzeug oder anderen Klimbim zu kaufen. Vermutlich käme ich bei der marokkanischen Ziege deutlich besser weg. Aber meine deutsche Ziegenlady hat sich schon wieder unter die anderen Touris gemischt und macht wahrscheinlich dem Reiseleiter schöne Augen. Nur dass er das unter seiner nachgemachten Ray-Ban nicht bemerken wird, weil er bestimmt, wie schon die ganze Tour über, gemütlich einen abratzt. Und ich stehe wieder mal der Arbeitsgemeinschaft der betrügerischen Weiden-Warlords allein gegenüber.
    Die Sache spitzt sich zu, die beiden Hirtendarsteller werden immer lauter und übergriffiger. Der Hirte will mich nun wahrscheinlich in seine Herde integrieren, weil ich das Schutzgeld nicht zahlen wollte und beginnt mich am Oberarm festzuhalten. Das ist schlimm, ich möchte nicht in diesem steinzeitlichen Gebirgsdorf mein weiteres Dasein fristen. Wahrscheinlich wäre ich noch weniger Wert als eine Ziege, da ich keine Milch gebe. Meine eigentliche Sorge besteht aber eher darin, dass die Hirtin gleich ihren Berbergesang mit diesen hohen Kehllauten anstimmt und die beiden noch ein Folkloretänzchen darbieten. Bitte nicht!

    Da ich damals noch keine x Entzüge hinter mir habe, noch nicht von Menschen verarscht wurde, die mir sehr viel bedeutet haben und ich noch nicht 25 Jahre durch ein Kasperle-Theater, namens [meine Firma] konditioniert und klein gehalten wurde, fällt es mir relativ leicht, für mich einzustehen, meine Bedürfnisse zu formulieren und meine Grenzen zu setzen.
    Und mein jetziges Bedürfnis ist, dass sich die beiden Ziegenfressen samt ihrer Ziege verpissen sollen. Und meine Grenze ist, dass die männliche Ziegenvisage seine dreckige Ziegenpfote von meinem Oberarm zu nehmen hat, an dem er mich die gesamte Zeit festhält und irgendwelchen unverständlichen Kauderwelsch daher brabbelt.
    In mir lodert diese gerechte Empörung, ein wütender Ur-Gerechtigkeitssinn, was der Vogel sich einbildet, mich hier so abzocken zu wollen. Ich schubse, unterstützt durch eine Adrenalinausschüttung, die mir übermenschliche Kraft zu verleihen scheint, das Männeken, was er zum Glück ist, zwei bis drei Meter von mir weg. Der Schwung ist so stark, dass bei seinen abgefransten Badelatschen der Staub aufwedelt. Ich fauche ihn in meiner Rage zornig an, was er sich einbildet und er es NIE WIEDER wagen soll, mich anzufassen! Der trickbetrügende Ziegenhirte funkelt darauf wütend zurück und würde am liebsten sein Zicklein auf mich hetzen, das unberührt am steinigen Wegesrand vermutlich schon seit Tagen vergeblich nach etwas vernünftigem zu Fressen sucht.
    Aber er scheint auch gemerkt zu haben, dass hier kein Geschäft mehr zu machen ist und zieht sich drohend, aber geschlagen in seine Berghöhle zurück. Heute wird es eben ausnahmsweise kein leicht verdientes Trinkgeld geben, und er wird sich mit Ziegenmilch als Abendtrunk begnügen müssen.
    Die ziegenhütetende Betrügerin will wahrscheinlich noch von ihrem Frauenbonus profitieren und schimpft in gebührendem Abstand weiter auf mich ein. Ich lasse die Meckerziege einfach weiter meckern und geselle mich wieder zu meiner Reisegruppe. Der in sich ruhende und selbstzufriedene Reiseleiter hat natürlich nichts mitbekommen, weil er immer noch sich selbst und seine orientalische Ruhe genießt. Vielleicht ist er auch an einer Überdosis Schlafmohn für immer eingeschlafen, aber da ich seine Person einige Zeit später wieder mit seiner Ray-Ban aufrecht im Reisebus schlafen sehe, muss er zumindest zu seinem Platz schlafgewandelt sein.

    Ja, liebe Leser, das war wohl um 1996, in einer Zeit, in der ich noch sehr unbedarft und frei war.
    Ich stand noch am Anfang meiner Suchtkarriere und hatte noch nicht in meiner jetzigen Firma angefangen, die mir bis dato jahrzehntelang jeden Funken Selbstvertrauen nahm und meine Eier auf Erbsengröße schrumpfen ließ.
    Ich bin noch nicht von Menschen verarscht worden, die mir einmal viel bedeuteten und bei denen ich glaubte, einen Halt gefunden zu haben.

    Es war die Verbindung meines Alkoholmissbrauchs mit den damit einhergehenden, erdrückenden Scham- und Schuldgefühlen sowie der daraus folgenden Selbstabwertung. Eine Selbstablehnung, die durch meine dysfunktionale Kindheit und später durch ein verzweifeltes Festhaltenwollen einer längst verflossenen Beziehung befeuert wurde. Dies verlangte in der Folge nach noch mehr Sedierung, wodurch ein unendlich schwer zu durchbrechender Kreis der Sucht und die stärksten Selbstzweifel entstanden, die ich je erlebt habe.
    Ich war zu einem Menschen geworden, der es verlernt hatte, für sich selbst einzutreten. Ein Mensch, der keine eigenen Bedürfnisse mehr formulieren und nie echte Grenzen setzen konnte.
    Ich wollte nach dem verzweifelten Ende der damaligen Beziehung jedem gefallen, habe mich angepasst, eine Rolle gespielt und meine Sucht versteckt. Den unvermeidlich aufkommenden Frust, die Ohnmacht und die Depressionen habe ich wortwörtlich jahrzehntelang hinuntergespült und sediert. Das war mein toxischer Trost, mein zweischneidiges Schwert, mein Januskopf. Mein Himmel und meine Hölle.
    Dazu kamen wie schon erwähnt die kranken Strukturen in meiner Firma, für welche eine solche Schwäche ein gefundenes Fressen war. Ich habe mich in diesen Jahren meilenweit von mir selbst entfernt. Ich habe mich durch die Sucht, der damit einhergehenden Rückschläge, einem toxisches Arbeitsumfeld und manipulativen ‘Freunden’ immer mehr zu einem innerlich total unsicheren, sich selbst abwertenden Menschen entwickelt. Einem Menschen, der unter Scham- und Schuldgefühlen litt und dessen größte Sorge es war, wie über ihn gedacht werden könnte. Der deswegen stets bedacht darauf war, nicht das Geringste falsch zu machen oder negativ aufzufallen.

    Wäre mir vor nicht allzulanger Zeit dieselbe Situation mit dem Ziegenhirt passiert, hätte ich ihm wahrscheinlich freundlich und zuvorkommend mein Portemonnaie samt meiner Kreditkarte ausgehändigt und ihm mit dem Google-Übersetzer lächelnd meine Sparkassen-App erklärt. Im Anschluss hätte ich ihm wahrscheinlich noch mit gesenktem, höflichen Blick mein Smartphone unentsperrt übergeben.
    Des Weiteren hätte sich eine konditionierte Angst bemerkbar gemacht, dass er auf meiner Arbeit anrufen könnte, um sich über mich und mein Verhalten zu beschweren.
    Um dem zuvorzukommen, wäre ich ganz besonders nett und freundlich gewesen und hätte ihm bestimmt noch einen schönen Tag in seiner Lehmhöhle gewünscht. Natürlich nicht ohne ihn vorher respektvoll zu fragen, ob ich denn nicht nochmal ganz kurz seine tolle Ziege streicheln darf. Das wäre zwar in keinem Fall mein eigentliches Bedürfnis gewesen, aber ich hätte es getan, um nicht unangenehm aufzufallen und er mich doch in guter Erinnerung behalten möge.
    So wäre ich heutzutage für mich eingetreten, so hätte ich noch bis vor kurzem meine Bedürfnisse formuliert und meine Grenzen gesetzt.

    Aber ich habe noch diese lebendige Kraft von damals in mir, bevor mich die Droge und die damit einhergehenden Lebensumstände platt gemacht haben. Diese Stärke, die ich so lange unterdrückt habe und die da war, bevor ich begonnen habe, meine Emotionen und Bedürfnisse, im Grunde mich und mein ganzes Leben zu unterdrücken.
    Und ich arbeite an mir und hole mir mein Leben zurück, was ich mir selbst und durch die Droge so lange vorenthalten habe.
    Möge die Macht mit mir sein!


    Ja, lieber Leser, so sieht's nach 30 Jahren Alkoholmissbrauch und dysfunktionaler Kindheit aus, lassen Sie sich das und Ihren Kindern ein warnendes Beispiel sein. Seien Sie gewarnt, wenn Sie in geselliger Runde bierselig singen: “Einer geht noch, einer geht noch rein!”
    Oder wenn Ihnen vielleicht bei einem edlen Gläschen Wein bei Sonnenuntergang auf Ihrer Veranda diese Geschichte in die Hände fallen sollte. Urteilen Sie nicht vorschnell, wenn Sie verständnislos fragen, wie man sich so unkontrolliert gehen lassen kann.
    Denken Sie immer daran, es könnte jeden erwischen...auch Sie!!

    Schönen guten Abend.


    In eigener Sache:
    Für mich stellt sich von Zeit zu Zeit die Frage, wie geht's weiter, wo will ich eigentlich hin? Auch habe ich begonnen, Dinge von früher, aber auch aus jüngerer Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen.
    Ich möchte das jetzt nicht den letzten Diskussionen zugrunde legen, aber bei mir stellt sich nach solchen Debatten die Frage: Wie gehe ich mit meiner Zeit um, was nimmt mir nur die Energie und was tut mir wirklich gut?

    Auch habe ich nun “leider” recht feine Antennen, die mir einerseits gut gestatten, besser meine Umwelt und auch mich wahrzunehmen, aber die sich andererseits vielleicht auch manchmal etwas “übersensibel” äußern, was gewisse Dinge oder Atmosphären betrifft.
    Ich kann die Welt oder den anderen nicht ändern, wie ich mich auch nicht mehr verbiegen will. Nur habe ich auf Grundlage meiner Sucht gelernt, dass es manchmal besser ist, Dinge loszulassen, als endlos zu debattieren, dagegen anzukämpfen oder bei einem Spiel mitzumachen, welches nicht mehr meins ist. Derzeit ist auch meine Arbeitsstelle so ein Feld, wo es genau um diese Punkte geht.
    Sei es wie es sei.

    Aus o.g. Gründen fühlt es sich derzeit für mich richtig an, mich hier herauszunehmen.
    Ich danke euch für das Lesen und den Austausch, der mir sehr weitergeholfen hat und sage “Macht’s gut”. Schauen wir mal, was das Leben oder die Zeit so bringt :)

  • Aus o.g. Gründen fühlt es sich derzeit für mich richtig an, mich hier herauszunehmen.
    Ich danke euch für das Lesen und den Austausch, der mir sehr weitergeholfen hat und sage “Macht’s gut”. Schauen wir mal, was das Leben oder die Zeit so bringt

    Beste Wünsche und ein gute Zeit auf all deinen Wegen:thumbup:

  • Winke, winke Herr rent,

    schade, dass du uns mit deinen Ansichten in Zukunft "verschonen":S wiilst, waren es doch nützliche Botschaften, die, zumindest mich, zum Nachdenken anregten.

    Mach's gut.

  • Auch habe ich nun “leider” recht feine Antennen, die mir einerseits gut gestatten, besser meine Umwelt und auch mich wahrzunehmen, aber die sich andererseits vielleicht auch manchmal etwas “übersensibel” äußern, was gewisse Dinge oder Atmosphären betrifft.

    Schade, dass sich das wider Erwarten nicht so leicht klären ließ.

    Danke auch dir für den Austausch hier. Alles Gute für dich.

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

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