Meine Eltern loslassen

  • Hallo liebes Forum,

    ich überspringe gleich die Vorstellung und schreibe meinen ersten Beitrag hier herein. Ich hoffe das ist in Ordnung. :)

    Ich bin Nina, Ende 30. Meine Eltern (beide Mitte 70) trinken seit Jahrzehnten und haben nie Anstalten gemacht, aufzuhören. Ich denke auch nicht, dass sie es jemals tun werden.
    Ich habe viele Therapien und viel Beratung in Anspruch genommen, um alles halbwegs für mich aufzuarbeiten. Ich habe wirklich Jahre dafür gebraucht, um überhaupt ein lebenswertes Leben für mich selbst aufzubauen und dafür auch Kraft zu finden. Ich habe chronische psychische Erkrankungen, aber ich habe auch - in meinem Rahmen - etwas für mich selbst aufgebaut wofür es sich lohnt weiterzumachen. Ich schreibe das dazu weil ich das leider nicht immer so wahrgenommen habe.

    Nun habe ich noch immer die "typischen" Probleme von erwachsenen Alkoholikerkindern im Gepäck. Die Rollenumkehr, den Drang Verantwortung übernehmen, das Gefühl haben alles regeln zu müssen. Zudem sie sich um wichtige (finanzielle) Dinge tatsächlich auch gar nicht kümmern und es an mir hängen bleibt.
    Es wird mit zunehmendem Alter meiner Eltern auch nicht leichter, sich abzugrenzen und loszulassen. Zu den Alkoholschäden und den Charakterveränderungen kommt nun noch der körperliche Verfall. Dazu kommt aktuell noch die Pandemie, die alles verschärft und für dünne Nerven und schwierige Situationen sorgt.

    Ich würde gern wissen, worauf ich mich vorbereiten sollte, wenn sich der Zustand meiner Eltern so verschlechtert, dass sie sich nicht mehr um sich selbst kümmern können.
    Ich weiß zum Beispiel, dass meine Eltern sich nicht freiwillig (ambulant) betreuen lassen würden, obwohl zum Beispiel meine Mutter schon stark gehbehindert ist. Im Notfall könnte sie sich nicht selbst versorgen. Zum Arzt gehen sie beide nicht.
    Ich weiß auch, dass meine Eltern kaum noch Rücklagen haben, d.h. irgendwann, wenn sie ihr restliches Geld weggetrunken haben, wäre wohl das Sozialamt für sie zuständig, oder? Oder müssen dann zuerst Kinder die finanzielle Versorgung übernehmen? Und eventuell sogar die häusliche Pflege? Der Teil mit der Pflege wäre ein absoluter Alptraum für mich und ich denke auch nicht, dass ich es psychisch lange durchhalten würde. Und ich würde natürlich auch nicht gern weiter ihren Lebensstil finanzieren.

    Was kann ich vorab regeln, um vorzusorgen, falls eine Akutsituation eintritt?
    Welche Ansprechpartner könnten mir helfen, wo könnte ich Unterstützung finden, und wie kann ich mich auf die dann nötigen bürokratischen Dinge vorbereiten? Bringt es etwas, zum Beispiel eine Patientenverfügung und Vollmachten für meine Eltern zu haben oder binde ich mir damit nur noch mehr Verantwortung ans Bein, die mich überfordert?
    Und wie kann ich mich bei all dem psychisch von allem abgrenzen, was mit ihnen passiert?

    Falls ihr mir weiter helfen könnt oder eigene Erfahrungen damit habt, wäre ich sehr dankbar für jegliche Hilfestellung!

    Viele Grüße,
    Nina

  • Liebe Nina,

    um es gleich vorweg zu nehmen, ich persönlich habe keine Erfahrungen mit Deiner Situation.

    Aber ich kann es nicht ausstehen, wenn ein Thread eröffnet wird und dieser unbeantwortet bleibt. Von daher möchte ich versuchen dir nach besten Wissen zu helfen.

    Und vielleicht meldet sich ja noch jemand aus dem Forum zu Wort der Erfahrung mit einer vergleichbaren Situation hat.


    Falls sich deine Eltern nicht mehr versorgen können und auch keine Entscheidungen mehr treffen können, dann wird von einem Gericht ein Vormund bestellt. Das kann ein Angehöriger sein oder ein staatlich bestellter.
    Soweit ich recht informiert bin, können die leiblichen Kinder zur finanziellen Unterstützung verpflichtet werden.

    Aber darüber will ich mich mit meinem Halbwissen nicht auslassen. Vielmehr möchte ich Dir Tipps da lassen an wen Du Dich wenden kannst um sichere Informationen zu bekommen:

    - Hausarzt
    - Krankenkasse
    - Kirche z.B. Diakonie, Caritas, aber auch Pfarrämter
    - Wohlfahrtsverband wie z.B. Paritätische, Seelsorge, allgemeiner sozialer Dienst
    - Verbraucherzentrale
    - Rechtsanwalt Fachrichtung Familienrecht

    Das sind meine Vorschläge an dich.

    Wie gesagt, vielleicht meldet sich ja noch jemand mit weiteren Tipps...

  • Vielen Dank proky! :)

    Ich hatte gar nicht mehr mit Antwort gerechnet, daher auch meine späte Reaktion.
    Ich hab in der Zwischenzeit ein bisschen recherchiert, verstehe aber nicht alles und brauche dementsprechend Unterstützung. Hier im Forum ist wohl keiner, der mir meine Fragen beantworten kann. Ich werde mich wohl an eine Beratungsstelle wenden und sehen, ob ich dort Informationen erhalte.

    Wegen mir kann der gesamte Thread eigentlich auch gelöscht werden, es steht ja für Andere nicht viel Hilfreiches drin.

    LG
    Nina

  • Hallo Nina,

    in den praktischen Dingen kann dir anderswo, in einer Beratungsstelle z.B., vermutlich besser geholfen werden, da dies hier eher eine Art Selbsthilfegruppe für Alkoholiker und Angehörige ist, und es da Zufall wäre, wenn hier jemand sich mit den praktischen Dingen, um die du dir Gedanken machst, gut genug auskennt, um guten Rat zu geben.

    Aber die Möglichkeit, als Angehörige (EKA) hier von dir zu schreiben und dich mit anderen Angehörigen auszutauschen, bleibt ja offen.

    Ich selber bin trockene Alkoholikerin, und obwohl mein Vater auch getrunken hat, bezeichne ich mich nicht als EKA, weil es einfach nicht so schlimm war wie bei vielen anderen.

    Ob du nun hier weiter schreibst oder nicht, ich wünsche dir jedenfalls ganz herzlich alles Gute!

    Camina

  • Hallo Nina,

    ich erinnere mich an einen Beitrag, den jemand vor einiger Zeit für Fälle
    verfasst hat, wo Angehörige Orientierungshilfen in Situationen wie Deiner
    gebrauchen können:

    https://alkoholforum.de//index.php?top…g31512#msg31512

    Ich selbst bin auch EKA, habe mich mit diesem Thema praktisch aber noch
    nicht befasst. Vielleicht findest Du Infos für konkrete Schritte, die Du tun
    kannst. (Oder was Du getrost abgeben kannst.)

    Liebe Grüße
    Wolfsfrau

  • Danke auch für euren Input! Der verlinkte Beitrag hat mir tatsächlich schon ein Stück geholfen. Den Rest werde ich dann wohl in einer Beratungsstelle besprechen, evtl gibt es da zur Zeit auch Onlineangebote.

  • Ah, und eine Frage zum Austausch habe ich doch: wie ist es euch EKAs gelungen, euch von euren Eltern innerlich zu lösen und nicht mehr so auf sie und die Krankheit fokussiert zu sein? Also zb von dem Gedanken, dass man noch mal ein gutes Verhältnis zueinander hat, oder dass sie ein angenehmes Leben haben werden. Ich rutsche immer wieder sehr in das Gefühl herein, mich verantwortlich zu fühlen, oder mich doch um sie kümmern zu müssen. Gedankt kriege ich es natürlich nicht, wenn ich es tue. Meine Eltern sind nicht offen bösartig oder so, haben aber null Krankheitseinsicht und sehen nicht, dass ihr Verhalten mich schädigt und verletzt.

  • Hallo Nina,
    darauf kann ich dir schon eher eine Antwort geben, auf die anderen Fragen leider nicht.

    Auch ich bin EKA, allerdings verstarb mein alkoholkranker Vater, als ich 15 Jahre alt war, infolge eines selbstverschuldeten Autounfalls. Meine Mutter, in den letzten dreißig Jahren schwer depressiv, starb vor einem guten halben Jahr. Sie war zuletzt infolge eines Schlaganfalls, der sie linksseitig gelähmt hatte, in einem Pflegeheim in der Nähe meiner Schwester. Ich habe sie dort nur besucht, die geschäftlichen Angelegenheiten hat meine Schwester erledigt.
    Ich selbst bin Ende 40 und selbst chronisch krank (Depressionen und MS) und seit einem guten halben Jahr trinke ich keinen Alkohol mehr, auch davon war ich (psychisch) abhängig geworden.

    Du schreibst von dir, dass du viele Therapien und viel Beratung in Anspruch angenommen hast und dir ein lebenswertes Leben für dich selbst aufgebaut hast.
    Das kommt mir sehr bekannt vor, ebenso die Rollenumkehr, der Drang Verantwortung übernehmen und das Gefühl haben alles regeln zu müssen.

    Ich hab das bis zuletzt, bis zum Tod meiner Mutter, nie wirklich ganz abstreifen können. Was mir aber geholfen hat, war, mich immer wieder auf mich zu besinnen und auf meine Bedürfnisse. Bei mir zu sein, wie man so sagt.

    Ich habe immer wieder daran gearbeitet, mir bewusst zu werden, ob ich mich wieder wo hinein drängen lasse bzw. lies. Gegebenenfalls entschied ich mich dagegen, die Rolle zu übernehmen, oder aber bewusst dafür, wenn das denn vernünftig oder tatsächlich angebracht war.

    Mein Therapeut hat mir dabei sehr geholfen und interessanterweise auch meine Erkrankungen.

    Solange meine Mutter noch allein lebte und für sich selbst sorgen konnte, versuchte ich mich ggf. abzugrenzen, indem ich mir klar machte, dass sie sich selbst für dieses Leben entschieden hatte und dass sie für sich selbst verantwortlich ist. Sie war erwachsen und mündig. Ihre Wahl, ihr Leben.

    Natürlich hat es mich nicht selten geärgert, wenn ich aufgrund ihrer Wahl etwas für sie tun (korrigieren) musste, was ich nicht hätte tun müssen, wenn sie sich „vernünftig“ verhalten hätte.

    Oft strengten mich Telefonate mit ihr fürchterlich an und ich fühlte mich anschließend ausgelaugt. Am liebsten hätte ich nicht telefoniert. Mein Therapeut fragte mich: „Warum telefonieren Sie mit Ihrer Mutter?“ Ich antwortete: „Weil sie meine Mutter ist, weil man das eben so macht.“

    Ich lernte, weniger zu telefonieren. Und ich lernte, mehr auf mich zu achten und meine Bedürfnisse zu kommunizieren.

    Meine chronischen Erkrankungen „unterstützten“ mich bei diesem Erkenntnisprozess, denn mein Körper ließ Überforderung immer weniger zu, gewisse Dinge konnte ich irgendwann nicht mehr. Um nicht in diesem Zustand bleiben zu müssen, bemühte ich mich, mehr auf meinen Körper zu hören und meine Grenzen wahrzunehmen. Die Grenzen wurden wieder weiter, je mehr ich Rücksicht auf mich selbst nahm.

    Die letzten vier Jahre, die sie im Heim verbrachte, war ich von manchen Sorgen entlastet, weil sie unter Aufsicht des Personals war.
    Die Besuche bei ihr waren für mich trotzdem immer wieder ein Kraftakt, weil mindestens zwei Gefühle in mir miteinander kämpften, deren Handlungsimpuls ich nicht gleichzeitig nachgehen konnte. So übte ich mich immer wieder in Gefühlsregulation. Ich habe da Arbeitsblätter aus dem DBT-Programm der Borderliner, nach deren Empfehlungen ich vorgehe.

    Ich weiß nicht, ob dir mein Erfahrungsbericht eine Hilfe ist, aber ich lass dir das mal hier, weil du nach so etwas gefragt hast.

    Ich wünsche dir viel Kraft und gutes Gelingen.

    Viele Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo AmSee,

    vielen Dank für deinen Beitrag. Mir kommt vieles sehr bekannt vor, was du beschreibst, vor allem das Gefühl, sich nicht wirklich frei von Verantwortung fühlen zu können. Die Automatismen zu sehen und sich anders zu entscheiden ist finde ich wirklich sehr schwer.
    Das andauernde Überlegen und Abwägen, ob man eingreift - das macht ja auch müde. Zumal man mit dysfunktionalen Menschen immer wieder in diese Situationen kommt.

    Ich habe inzwischen teilweise auch oft körperliche und psychische Einbrüche (auch durch chronische Erkrankungen), also Anzeichen, dass ich nicht mehr kann. Das hilft schon teilweise, dann eine Grenze zu ziehen, ist natürlich an sich keine tolle Methode, weil man dann schon im Notmodus ist. Mir hilft auch sehr der räumliche Abstand. Aber emotional geht trotzdem innerlich die Achterbahnfahrt los. Auch am Telefon - wie schnell grenze ich mich ab und lege auf? Meist spüre ich die Überforderung erst hinterher, wenn es schon zu spät ist.

    Die Kombination aus Ärger und Verantwortung kenne ich. Und ich ahne auch, dass es erst wirklich vorbei ist, wenn meine Eltern nicht mehr leben. Was mich so fertig macht, ist dass sie wirklich gar nicht sehen, was ihr Verhalten für mein Leben damals bedeutet hat, und was heute auch noch die Folgen davon sind. Sie sind da völlig gleichgültig bzw. weisen die Schuld von sich. Wenn ich so von außen drauf schaue, könnte man fragen, warum tu ich mir das an? Aber es sind die Eltern. Es ist so schwer sich zu lösen von diesen Menschen.


    Oft strengten mich Telefonate mit ihr fürchterlich an und ich fühlte mich anschließend ausgelaugt. Am liebsten hätte ich nicht telefoniert. Mein Therapeut fragte mich: „Warum telefonieren Sie mit Ihrer Mutter?“ Ich antwortete: „Weil sie meine Mutter ist, weil man das eben so macht.“


    Das kann ich vollkommen nachempfinden, genauso geht es mir oft. Was hat dein Therapeut geantwortet?
    Ich lerne auch, den Kontakt zu meinen Eltern wirklich sehr einzuschränken, sie klagen darüber oft (man hört nichts von dir) und ich bekomme wieder ein schlechtes Gewissen. Und insgeheim...möchte ich sie vielleicht auch nicht aufgeben, möchte ich sie irgendwie noch mögen können? Keine Ahnung ob das Sinn ergibt.


    Die letzten vier Jahre, die sie im Heim verbrachte, war ich von manchen Sorgen entlastet, weil sie unter Aufsicht des Personals war.
    Die Besuche bei ihr waren für mich trotzdem immer wieder ein Kraftakt, weil mindestens zwei Gefühle in mir miteinander kämpften, deren Handlungsimpuls ich nicht gleichzeitig nachgehen konnte.


    Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Sowohl die Entlastung durch das Heim, als auch die Belastung durch jeden Besuch. Bei mir gibt es auch jedesmal Zusammenbrüche nach den Treffen, egal wie kurz. Insofern ist die Pandemie für mich da auch entlastend.

    Vielen Dank noch mal für deine Beschreibung, das hat mir schon sehr geholfen.

    Viele Grüße
    Nina

  • Hallo Nina,
    wenn du wüsstest, wie gut ich mich in dem wiederfinde, was du über dich erzählst.
    Ich habe in dem Sinne keinen Rat für dich, ich kann nur ein paar Erfahrungen und Gedanken mit dir teilen. Vielleicht hilft dir das weiter...


    Mir kommt vieles sehr bekannt vor, was du beschreibst, vor allem das Gefühl, sich nicht wirklich frei von Verantwortung fühlen zu können. Die Automatismen zu sehen und sich anders zu entscheiden ist finde ich wirklich sehr schwer.


    Das empfand bzw. empfinde ich auch so. Doch für mich sah ich keine andere Alternative als mich immer wieder um mich zu bemühen. Ich konnte und wollte nicht anders.
    Nach meinem Empfinden bist du einem riesengroßen Schritt weiter, wenn du die Muster und Automatismen überhaupt erst einmal bei dir und für dich selbst aufdeckst.
    Ich hab das so empfunden, als wenn ich so über einem gewissen Umweg die Kontrolle zurückbekomme.
    Solange ich nicht wusste, „wie der Hase läuft“, empfand ich mich der Situation hoffnungslos ausgeliefert. Für mich ein fürchterliches Gefühl, vor allem weil ich spürte, wie meine Kräfte zusehends schwanden, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.

    Zitat


    Das andauernde Überlegen und Abwägen, ob man eingreift - das macht ja auch müde. Zumal man mit dysfunktionalen Menschen immer wieder in diese Situationen kommt.


    Mich hat es auch müde gemacht, nur, was hatte ich denn für eine Wahl? Nüchtern betrachtet zwei: A) Völlige Loslösung. B) Weitermachen, weil‘s doch meine Familie ist, weil ich sie nun einmal liebe.

    A) Kam für mich nicht nochmal in Frage. Den Weg war ich unmittelbar nach dem Tod meines Vaters gegangen. Damals für mich überlebensnotwenig, später aber, als wir uns einander wieder angenähert hatten und wiedergefunden hatten, keine Option mehr.

    Also B). Doch B konnte ich nicht um jeden Preis weitermachen.

    Wie ist das bei dir? - Wenn ich das richtig bei dir verstehe, hast du’s auch schon mal in Richtung A) versucht, aber eigentlich ist das auch für dich keine Option.
    Vielleicht hilft dir schon mal, wenn du dir darüber klar wirst, warum A) keine Option ist und du an B) dran bist.

    Bei jedenfalls hat das zur Klärung eines Teils meines inneren Konflikts geführt.

    Zitat


    Ich habe inzwischen teilweise auch oft körperliche und psychische Einbrüche (auch durch chronische Erkrankungen), also Anzeichen, dass ich nicht mehr kann. Das hilft schon teilweise, dann eine Grenze zu ziehen, ist natürlich an sich keine tolle Methode, weil man dann schon im Notmodus ist.


    Oh, das kenne ich selbst ziemlich gut. Nein, natürlich ist das keine tolle Methode, aber ich habe versucht, das Positive dabei zu sehen. Eine ganze Weile habe ich meinen Körper als meinen Feind betrachtet. Mein Verstand/Geist wollte, aber mein verflxxxxxxx Körper hat mir einen Strich durch gemacht.
    Dieses Denken änderte sich im Lauf der Therapie. Ich erkannte, dass mein Körper eigentlich mein Freund ist, dass er‘s gut mit mir meint. Da waren nämlich jede Menge Empfindungen, eine ganze Reihe Stimmen oder Rollen in mir (Stichwort: Inneres Team), die der Verstand bzw. eine gewisse lautstarke, anführende Rolle in mir beständig übersah oder missachtete.

    Von meinem Körper bzw. meiner Psyche gebremst zu werden, war und ist keine tolle Lösung, mein Ziel war und ist natürlich, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.

    Zitat


    Mir hilft auch sehr der räumliche Abstand. Aber emotional geht trotzdem innerlich die Achterbahnfahrt los. Auch am Telefon - wie schnell grenze ich mich ab und lege auf? Meist spüre ich die Überforderung erst hinterher, wenn es schon zu spät ist.


    Kenne ich, habe ich auch erlebt.
    Was hast du diesbezüglich in deinen Therapien gelernt?

    Hast du dich schon mal mit dem „Inneren Team“ beschäftigt?
    Kennst du dich ein bisschen in Gefühlsregulation aus?

    Wann nimmst du dir Zeit für deine Eltern? Wenn’s nach ihnen geht oder dann, wenn du gerade stark genug bist?

    Zitat


    Was mich so fertig macht, ist dass sie wirklich gar nicht sehen, was ihr Verhalten für mein Leben damals bedeutet hat, und was heute auch noch die Folgen davon sind. Sie sind da völlig gleichgültig bzw. weisen die Schuld von sich.


    Ich möchte dir hierzu eine Frage stellen:
    Was hast du davon, was versprichst du dir davon, dass sie es einsehen und dir sagen?

    Ich habe diesbezüglich mal bei meiner Mutter nachgetastet. Vorsichtig. Hab ihr zu erklären versucht, warum ich damals nach Papas Tod von zuhause weggehen musste. - Ich muss dazu sagen, dass sie es hätte verhindern können, aber mich hat ziehen lassen, weil sie spürte, dass das wichtig für mich ist, und aus tiefstem Herzen hoffte, dass ich irgendwann zurückkehre. -
    Sie hat nie verstanden, warum ich gehen musste. Ich glaube, das konnte sie nicht, weil sie vor sich selbst noch mehr hätte eingestehen müssen, dass sie als Mutter versagt hatte. Es war so schon schwer genug für sie. Sie hat diese Zeit definitiv nicht unbeschadet überstanden und ist wahrscheinlich auch deswegen schwer depressiv geworden.
    Ich hab, als mir klar wurde, dass sie das überfordert, nicht mehr weiter insistiert.
    Auch meine Schwester hat nie verstanden und mir bis heute nicht verziehen, dass ich damals gegangen bin.
    Und so weiß ich für mich, was damals geschehen ist und wie es mich für mein Leben geprägt hat. Und ich habe für mich für mein Leben die Verantwortung übernommen.

    Du fragst, was mein Therapeut wegen des Telefonierens geantwortet hat. Ich weiß es nicht mehr so genau. Vom Prinzip lag die Lösung darin, nicht zu telefonieren, wenn’s mir grad nicht so gut geht. Und mir meiner eigenen Befindlichkeiten mehr bewusst zu werden. Er sagte auch noch etwas darüber, dass die Vorstellung von Familie, die wir jetzt haben, auf die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts unter Bismarck zurückgeht, aber was das alles jetzt im Detail bedeutet, kann ich dir so nicht wiedergeben. Es hat nur während des Therapiegesprächs etwas in meiner Einstellung verändert.

    Dieses Jammern, dass ich/ wir so selten kommen, ist mir vertraut. Besonders allerdings von meinen Großeltern und meinen Schwiegereltern. Letztere sehe ich nach meinem eigenen Gefühl ziemlich oft. Die anderen sind inzwischen nicht mehr. Ich sage dazu nicht viel, was könnte ich auch sagen? Verstehen würden sie‘s eh nicht, es gäbe nur Stress, wenn ich wahrheitsgemäß antwortete, also schweige ich und denke mir meinen Teil.

    Zitat


    Wenn ich so von außen drauf schaue, könnte man fragen, warum tu ich mir das an? Aber es sind die Eltern. Es ist so schwer sich zu lösen von diesen Menschen.


    Das ist die Frage, die du für dich selbst klären musst.
    Gewiss ist das schwer, sich zu lösen. Es hat etwas mit den eigenen Wurzeln zu tun, mit der eigenen Geschichte, mit Gefühlen und Bedürfnissen und schließlich mit gesellschaftlichen Konventionen.
    Ich kenne das von mir so: Vom Verstand her ist mir so manches klar, aber das, was es so knifflig macht, sind die Gefühle und die verschiedenen Rollen/Stimmen in mir. Mir selbst hilft zur Klärung gelegentlich das Modell vom „Inneren Team“.

    Wenn du magst, darfst du gerne weiterhin teilen, was dich bei diesem Thema gedanklich und gefühlsmäßig beschäftigt.

    Natürlich freut es mich, wenn ich dir mit meinen Gedanken ein wenig weiterhelfen konnte.

    Herzliche Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo AmSee,

    vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Wir scheinen da wirklich ähnliche Gefühle zu erleben.

    Zitat

    Nach meinem Empfinden bist du einem riesengroßen Schritt weiter, wenn du die Muster und Automatismen überhaupt erst einmal bei dir und für dich selbst aufdeckst.


    Ich habe ehrlich gesagt oft das Gefühl, ich trete auf der Stelle. Ich tappe so oft wieder in die alten Muster. Mir hilft es schon, das dann hinterher zu reflektieren, auch mit Anderen (Therapeutin, Partner), aber das verändert die Gefühle in der Situation nur sehr langsam. Es ist wirklich kein Scherz, wenn Therapeuten einem sagen, dass sowas Jahre dauert.

    Zitat

    Mich hat es auch müde gemacht, nur, was hatte ich denn für eine Wahl? Nüchtern betrachtet zwei: A) Völlige Loslösung. B) Weitermachen, weil‘s doch meine Familie ist, weil ich sie nun einmal liebe.


    Das ist auch die große Zerrissenheit, die ich immer wieder spüre.
    Ich habe schon ab und an mal an Kontaktabbruch gedacht (hatte ich schon mal durchgezogen für ein paar Jahre), aber ich denke, es würde auch nichts lösen für mich, weil es den Konflikt einfach nur stilllegt. Und ich hätte auch wirklich Bedenken, dass sie dann noch schneller völlig in die Katastrophe steuern. Da ich meine Eltern im Grunde als Menschen auch mag und bei aller Sauferei und "Fehlerhaftigkeit" auch irgendwie Sympathie für sie habe, möchte ich es auch nicht. Gerade meine Mutter ist über die Jahre versöhnlicher geworden. In guten Momenten kann ich recht offen mit ihr reden. In schlechten Momenten triggert ihr Verhalten mich extrem und löst heftige Depressionen aus. Es ist also ein zweischneidiges Schwert, und ich muss dauernd auf meine Grenzen achten.
    Doch im Grunde haben sie auch nur noch mich. Vielleicht sehe ich es momentan auch anders, weil es einen Trauerfall in der Familie gab. Da reflektiert man viel und rückt wohl auch ein wenig mehr zusammen.


    Thema Abgrenzung, Überforderung + erst hinterher merken

    Zitat

    Was hast du diesbezüglich in deinen Therapien gelernt?


    Dass es ok ist, wenn ich mich zurückziehe und auf meine Grenzen achte, dass ich ihnen nichts schuldig bin in der Hinsicht. Dass es erstmal um mich geht und ich für mich selbst sorgen darf + muss.
    Ich habe auch gelernt, dass die Überforderung oft sehr verzögert bei mir ankommt und ich dementsprechend viel zu spät für mich handle. Das hat etwas mit meinen Bewältigungsstrategien zu tun: ich friere quasi ein und versuche möglichst unauffällig zu sein. Dadurch sind die Gefühle erstmal komplett weg, und ich merke erst später, wenn ich wieder über meine Grenzen gegangen bin (oder das meinen Eltern erlaubt habe). Das passiert wirklich immer wieder, ich kann höchstens versuchen, vorher aktiv zu planen und zu erahnen, ab wann es zu viel wird.


    Zitat


    Hast du dich schon mal mit dem „Inneren Team“ beschäftigt?
    Kennst du dich ein bisschen in Gefühlsregulation aus?


    Ja, habe ich beides schon kennengelernt, ich habe eine komplette DBT durchlaufen und auch ein bisschen Schematherapie gemacht. Die DBT fand ich als Grundlage sehr hilfreich, auch wenn sie nicht auf Ursachen schaut, aber um überhaupt erstmal mit seinen Emotionen klarzukommen.

    Zitat


    Wann nimmst du dir Zeit für deine Eltern? Wenn’s nach ihnen geht oder dann, wenn du gerade stark genug bist?


    Ich versuche, nur dann mit ihnen zu sprechen, wenn ich mich dazu bereit fühle. Ich gehe zB seit Jahren abends nicht mehr ans Telefon, weil sie dann aller Wahrscheinlichkeit nach getrunken haben. Ich lege auch (meist) sofort auf, wenn ich es mitbekomme. Natürlich gibt es auch immer Ausnahmen, aber das sind so meine Standardregeln. Mittlerweile bin ich auch etwas besser geworden, was das Beenden von Gesprächen angeht, und kann auch besser Bedürfnisse formulieren.
    Aber ich habe schon immer Angst vor jedem Kontakt. Vor allem vor Ort.

    Zitat

    Was hast du davon, was versprichst du dir davon, dass sie es einsehen und dir sagen?


    Hm, vielleicht ist es auch nicht wichtig. Es wäre für mich glaube ich ein kleines Zeichen, wie eine Handreichung - sich eingestehen, ja, wir haben auch einen Anteil daran. Ohne Schuldzuweisung, einfach nur die eigene Lebensgeschichte reflektieren. Es wäre auf jeden Fall einfacher für den gemeinsamen Dialog. Nicht einfach nur wegsehen und weiter machen wie bisher.
    Aber vielleicht können sie das gar nicht in dem Umfang. Und vielleicht ist es auch wirklich nicht wichtig. Wie du in deinem Beispiel schreibst, ist es eventuell wichtiger, die Dinge für sich selbst klar zu sehen.

    Zitat

    Gewiss ist das schwer, sich zu lösen. Es hat etwas mit den eigenen Wurzeln zu tun, mit der eigenen Geschichte, mit Gefühlen und Bedürfnissen und schließlich mit gesellschaftlichen Konventionen.
    Ich kenne das von mir so: Vom Verstand her ist mir so manches klar, aber das, was es so knifflig macht, sind die Gefühle und die verschiedenen Rollen/Stimmen in mir.


    Ich frage mich gelegentlich, wieso ich seit Jahren an dem scheinbar immer gleichen Punkt weiter festhänge. Es sind wohl wirklich die Gefühle. Und ich rutsche bei diesen Fragen auch sehr schnell in so einen diffusen Zustand, in dem gar nichts mehr klar ist (s.o., das gehört zum Einfrieren). Und dann lässt sich das Ganze nicht mehr so gut analysieren.
    
Vielleicht ist es auch einfach so, dass ich nicht möchte, das dieses innerliche Bild, was ich habe, endgültig zerbricht. Das Bild von früher, in dem meine Eltern immer noch liebevoll und verantwortungsbewusst sind, sich um mich kümmern und wo „alles gut“ ist. Ich habe mir früher immer eingebildet dass das mal so war. Aber da haben sie auch schon getrunken. Nur haben sie besser funktioniert damals. Es gab auch viele schöne Momente. Ich muss irgendwie verstehen, dass das nie zurückkommt, oder nie richtig da war, und mich davon lösen. Das kriege ich jetzt ganz teils sehr direkt dadurch mit, wenn ich ihre Lebensrealität sehe, wo immer weniger klappt. Und egal wie ich mich gedanklich daran gewöhnen möchte, es tut immer wieder weh. Sie sind halt immer meine Eltern, um die ich mir Sorgen machen muss. Egal ob ich Kontakt habe oder nicht, egal ob ich mich viel kümmere oder sie sich selbst überlasse. Der Schmerz darüber geht nie so richtig weg.

    Nun ist mein Text sehr lang geworden, das hatte ich gar nicht geplant. Danke, dass du diese Themen für mich angestoßen hast.

    Liebe Grüße an dich,
    
Nina

  • Hallo Nina,
    wieder erkenne ich mich in Vielem, was du von dir erzählst, wieder.


    Ich habe ehrlich gesagt oft das Gefühl, ich trete auf der Stelle. Ich tappe so oft wieder in die alten Muster. Mir hilft es schon, das dann hinterher zu reflektieren, auch mit Anderen (Therapeutin, Partner), aber das verändert die Gefühle in der Situation nur sehr langsam. Es ist wirklich kein Scherz, wenn Therapeuten einem sagen, dass sowas Jahre dauert.


    Ich kenne dieses Gefühl....
    Auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich häufig erst durch die anschließende Reflexion ein Stück weiter kam.

    Wenn an der wissenschaftlichen Theorie der menschlichen Psyche wirklich was dran ist - und meine eigenen Erfahrungen widerlegen die Theorie nicht -, dann ist es auch kein Wunder, warum die Veränderung so schwer ist und Jahre dauert. Die gute Nachricht ist aber, es tut sich was!

    Du sprichst von „Einfrieren“. Ich hab das anders kennengelernt. Bei mir war in bestimmten Situationen mein Verstand glasklar und der hat übernommen, Emotionen waren da herzlich wenig in mir zu spüren. Ich war nicht völlig emotionslos, aber aus der Rückschau kann das nur so ein Oberflächenprogramm gewesen sein. Die eigentlichen Emotionen kamen immer verspätet und zwar mit ungefähr drei Tagen Verspätung. Dann aber zuhause, alleine in der Stille, brachen die unvermittelt wie bei einem Vulkanausbruch aus mir heraus und überschwemmten und überforderten mich regelmäßig.

    Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um daran etwas zu ändern. Mittlerweile ist es deutlich besser geworden und in der Regel bin ich auch gefühlsmäßig bei mir. Letztens hatte ich nochmals eine Situation (Trigger waren nicht meine Eltern), da kamen die Emotionen mit zwei Stunden Verspätung. Da hatte ich mich unabsichtlich überfordert. - Inzwischen weiß ich, was mich da getriggert hat, und habe neue Maßnahmen ergriffen, damit mir das nicht mehr passiert.


    Ich kann deine Zerrissenheit gut nachvollziehen. Ich lese bei dir auch die Hoffnung heraus, dass deine Eltern doch nochmals so werden, wie du sie dir wünschst. Und jedes noch so kleine Zeichen nährt diese Hoffnung....

    Alles, was du über dich erzählst, ist mir auch irgendwie so vertraut und es wird sehr wahrscheinlich noch mehr EKAs geben, denen es ähnlich geht.
    Hast du dich schon mal umgesehen, ob es in deiner Gegend SHGs für EKAs gibt? Vielleicht wäre das was für dich?


    Ich kann dir nur Mut machen, dich weiterhin auf dich zu besinnen, dich darin zu üben, „bei dir zu sein.“, dir deiner Grenzen bewusst zu werden und sie zu achten.
    Was du bislang für dich tust, habe ich in ähnlicher Weise für mich getan. Nach meiner persönlichen Erfahrung waren das Schritte in die richtige Richtung.

    Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Eltern sich ändern und vom Alkohol Abstand nehmen, ist bei Allem, was du über sie erzählt hast, leider sehr gering. Es müsste sich in ihrem Denken bezüglich ihres Alkoholkonsums etwas verändern, es müsste ein Einsehen geschehen.
    Ich selbst hab das bei mir nicht sehen wollen, hab das verharmlost, wurde ungehalten, wenn mein Mann mich auf meinen Konsum ansprach. ICH hatte das im Griff, glaubte ich.
    Heute sehe ich das anders und meine Einstellung hat sich völlig geändert. Das lag aber daran, dass mir klar wurde, dass an meinem Konsum etwas nicht stimmte, und dass ich selbst mich ernsthaft mit meinem Problem auseinandersetzte.
    DAS hätte mir niemand abnehmen können und ich hätte es als Bevormundung empfunden und abgelehnt, wenn sich da jemand - und hätte ich den noch so gern - eingemischt hätte.


    Dass du Angst hast vor jedem Kontakt, kann ich nachvollziehen. Das ginge mir ähnlich. Ich habe das übrigens im Kontakt mit meiner Schwester noch immer, weil es mit ihr immer anders ist/war und ich häufig verletzt wurde. Ich wusste/weiß nie vorher, wie ich sie antreffe, und egal, was ich versuchte, wie viel Empathie und Entgegenkommen ich einsetzte, wenn sie wieder irgendwie merkwürdig drauf war, wurd‘s schmerzhaft für mich.

    Du sprichst von dem Schmerz, der nie ganz weg geht.... Nein, er geht nie ganz weg. Doch du kannst lernen, damit zu leben, und lernen, das, was du für dich daraus gelernt hast, einzusetzen, du kannst lernen, ihn gewissermaßen zu einer deiner Stärken werden zu lassen. Ich habe mit meinem Therapeuten u.a. auch daran gearbeitet.

    Herzliche Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Ich frage mich gelegentlich, wieso ich seit Jahren an dem scheinbar immer gleichen Punkt weiter festhänge. Es sind wohl wirklich die Gefühle. Und ich rutsche bei diesen Fragen auch sehr schnell in so einen diffusen Zustand, in dem gar nichts mehr klar ist (s.o., das gehört zum Einfrieren). Und dann lässt sich das Ganze nicht mehr so gut analysieren.

    Das hört sich für mich ganz danach an, dass etwas in dir damit überfordert ist. Dieses „Einfrieren“ oder dieser diffuse Zustand, von dem du erzählst, tritt, soweit mir bekannt ist, auf, wenn etwas ZU VIEL wird.

    Eine Lösung kann ich dir da leider nicht anbieten.
    Ich selbst würde aufgrund meiner eigenen Therapie-Erfahrungen und -Erfolge mit professioneller Hilfe noch tiefer graben. Ob das richtig ist oder nicht, weiß ich nicht.

    Vielleicht hat es tatsächlich damit zu tun, dass du dieses „innerliche Bild“, das du von deiner Familie hast, (noch ?) nicht aufgeben kannst.
    Dein Therapeut wird dir möglicherweise Gründe nennen können, warum du dir ein solches Bild gemacht hast, und auch mit Dir daran arbeiten können, warum du dich bislang nicht davon lösen kannst und wie du dich nun davon lösen könntest.

    Hast du dich auch schon mal mit der Problematik der Co-Abhängigkeit beschäftigt? Da findest möglicherweise auch den einen oder anderen Schlüssel für dich.

    Wann immer du Fragen hast oder Gedanken, die du teilen möchtest, bist du natürlich auch eingeladen, hier zu schreiben.

    Liebe Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Liebe Nina,
    ich habe ein bisschen gebraucht um Dir zu antworten, da sehr vieles mich an meine Situation erinnert hat, in der ich mich für viele Jahre befand. Meine Mutter (78J) trinkt seitdem ich Kind bin, mein Vater war ein typischer coabhängiger Angehöriger (vertuschen, so tun als gäbe es das Problem nicht, verheimlichen, kontrollieren), so lange es ihm möglich war. Allerdings verschlimmerte sich das Trinken und die damit zusammenhängenden Ausfälle in den letzten Jahren immer mehr, je mehr mein Vater körperlich krank wurde und nicht mehr die "Kontrolle" über meine Mutter hatte, da er oft im Krankenhaus war.

    Ich habe hier im Forum vor einer Weile über meinen Vater geschrieben, als er eine Nierentransplantation hatte, das gibt Dir ein ganz gutes Bild: https://alkoholforum.de//index.php?topic=2340.0


    So kam es, dass sie betrunken Auto fuhr, Unfälle verursachte, einmal drei Tage komplett verschwunden war und von der Polizei gesucht wurde, immer wieder Trinken bis zum Koma, dann wurde sie von Nachbarn gefunden. Immer wieder Rettungswagen, Polizeieinsätze etc. ich hatte mich über Grossteile meines Lebens von meinen Eltern sehr abgegrenzt, oft mit Kontaktabbrüchen, oder nur wenige Begegnungen, aber je älter meine Eltern wurden, desto kränker mein Vater wurde, umso mehr Kontakt hatte ich vor allem zu meinem Vater, der nicht mehr konnte. Plötzlich war ich in den letzten vier Jahren Koordinatorin, Rettungsstelle etc. um meinem Vater das Leben erträglicher zu machen. Täglich machte ich mir Sorgen, telefonierte mit meinem Vater, unterstützte ihn soweit möglich. ich fühlte mich 100% verantwortlich für deren Leben und schuldig, dass ich meinem Vater kein schöneres Ende ermöglichen konnte. Im September letzten Jahres verstarb mein Vater dann und es trat das ein, wovor ich mich immer gefürchtet hatte, dass meine Mutter übrig blieb und ich für sie verantwortlich bin.

    In den Tagen nach dem Tod meines Vaters gab es ein kleines Fenster der Nüchternheit und auch des Schockes meiner Mutter, und in dieser Zeit organisierte ich alles, was möglich war: Betreuungsvollmacht, Arztbesuch und täglicher Besuch von Sozialdienst ("für die Tabletten"), Bankvollmacht, Kontakt zur Krankenkasse, Auto verkauft etc. Sie unterschrieb alles und stimmte allem zu, das war ein grosser Segen im Nachhinein. Ich würde Dir auch auf jedenfalls sehr empfehlen irgendwie diese Dokumente von Deinen Eltern zu bekommen. Manchmal tun sich kleine Fenster der Vernunft auf, dann muss man sofort handeln.

    Der Nüchternheitszustand hielt nicht lange an. Noch auf der Trauerfeier meines Vaters bestellte sie von einem Freund eine Kiste Wein, der einen Weinhandel hatte. Der lieferte den Wein 5 Tage später und sechs Tage später stürzte meine Mutter volltrunken, zog sich einen schweren Oberschenkelhalsbruch zu und wurde abends vom Sozialdienst gefunden. Ja, dann lag sie in der gleichen Uniklinik, in der mein Vater kurz vorher gestorben war.
    Kann man sagen Glück im Unglück? Durch den Sturz ging dann alles sehr schnell, sie kam nicht mehr nach Hause, nach der Klinik direkt in die Reha, dann Kurzzeitpflege und ist nun ganz in einer Pflegeeinrichtung. Durch Corona und die Gehbehinderung konnte sie kaum raus und ist seitdem "trocken", wenngleich ich täglich damit rechne, dass sie den Weg zum nächsten Laden auch bald schafft. Dennoch ist seitdem erstmals seit Jahrzehnten eine normale Beziehung mit normalen Gesprächen möglich. Ich kann das "Kontrollieren" an das Pflegeheim abgeben, die sind nun verantwortlich, dass nichts passiert und ich bin sehr viel ruhiger. So gesehen kann ich "loslassen", was mir vorher nicht möglich war. Jetzt denke ich, dass sie verantwortlich dafür ist, wie sie ihr neues Leben gestaltet, wie der Kontakt zu mir ist oder auch nicht. Zumindest muss ich keine Ängste mehr haben, dass bei jedem Telefonklingeln die Katastrophe über mich einbricht.

    Also, was würde ich Dir raten? Sorge für alle wichtigen Dokumente und Vollmachten, denn nur damit kannst Du im worst case etwas beantragen.
    Ich hoffe, dass es Dir vielleicht weiterhilft,
    P.

  • Hallo AmSee und poepinna,

    ganz lieben Dank für Eure hilfreichen und umfangreichen Antworten. Ich möchte darauf noch eingehen, brauche allerdings etwas Zeit. Es passiert grad viel.

    In den nächsten zwei Tagen bin ich bei meinen Eltern, um zur Beisetzung meiner Großmutter zu gehen.
    Dort werde ich schon mal ein paar Dinge regeln - für meine Eltern ändert sich finanziell jetzt einiges.
    Dokumente für Vorsorge und Betreuungsverfügung nehme ich mit, für beide.
    Ich bin aber selbst da noch unsicher, was diese Betreuungsdokumente angeht. Bin ich dann nicht noch mehr involviert und für noch mehr zuständig? Oder ist es einfach notwendig, damit ich eingreifen kann, wenn sie im Chaos versinken und sich nicht selbst kümmern?
    Ich habe jetzt Vordrucke für: Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patientenverfügung. Eine Bankvollmacht wäre auch wichtig, oder?

    Es gäbe so viel zu schreiben...sowohl zu den psychologischen Themen, die du angesprochen hast, AmSee, als auch zu dem organisatorischen. Ich muss leider gleich los, und dann hoffe ich, dass die nächsten Tage aushaltbar werden, und mich die Gefühle zuhause nicht völlig überwältigen.

    Ich danke Euch noch mal von Herzen für die Beiträge. Das hat mir wirklich sehr geholfen. Ich melde mich, wenn ich wieder da bin.
    Ich habe große Angst.

    Viele Grüße,
    Nina

  • Hallo Nina,
    Danke für deine Rückmeldung.
    Was die Betreuungsdokumente betrifft, kennt sich jemand anderes wahrscheinlich noch genauer damit aus als ich, aber meiner Kenntnis und Beobachtung nach - meine Schwester hat sich um diese Dinge gekümmert - wirst du nicht noch mehr involviert. Es geht tatsächlich nur darum, das du, wenn du diese Vollmachten hast, handlungsfähig bist im Fall der Fälle. Sonst passiert erstmal gar nichts.
    Ja, Bankvollmacht wäre auch sehr wichtig.
    Ich denke, deine Eltern würden sich, solange sie es noch können, eine Einmischung deinerseits verbitten, daher geht es wirklich nur darum - und so kannst du ihnen das auch am ehesten vermitteln -, dass du im Fall der Fälle handlungsfähig bist.
    Die Sache mit der rechtlichen Betreuung, sprich Vormundschaft, ist sowieso noch mal ne ganz andere Sache. Sowas muss beantragt werden, dann kommt jemand zur Begutachtung und und und.
    Ich weiß zu wenig über eure Situation, aber da seid ihr, denke ich, noch nicht angekommen.

    Dass du Angst vor dem Besuch hast, ist verständlich. Hätte ich auch...

    Zieh dich, sofern du kannst, zwischendurch immer wieder mal raus und sorge für dich.

    Alles Gute
    AmSee

    P.S.: Das hab ich ganz vergessen:
    Mein Beileid zum Tod deiner Großmutter. Die Trauer um sie macht die Sache für dich wahrscheinlich kaum leichter.

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Liebe Nina,
    mein herzliches Beileid zum Tode Deiner Oma. Ich hoffe, dass Du für Dich Unterstützung vorort hast und es keine Dramen gibt. Es hat mir in den letzten Jahren immer sehr geholfen nicht mehr bei meinen Eltern zu wohnen, wenn wir sie besucht haben. Wir haben dann im Hotel gewohnt. Da konnten wir uns immer morgens noch bei einem netten Frühstück oder abends regenerieren und abgrenzen. Ich fühlte mich dann immer weniger dem ganzen ausgesetzt.

    Bezüglich den Betreuungs-und Bankvollmachten, die verpflichten Dich erst einmal zu nichts. Aber wenn das komplette Chaos ausbricht kannst Du eingreifen, wenn Du möchtest. Bei mir war es so, dass ich mich am Ende doch verantwortlich gefühlt habe, dass erst mal für mein Vater, der schwerkrank war und dann am Ende nun auch für meine Mutter gesorgt wird. Soweit konnte ich dann nicht mehr loslassen, was mir die Jahre vorher noch viel besser gelang.
    Es ist ein ständiges Abwägen, was kann ich selbst noch ertragen, wo kann ich sinnvoll eingreifen und Fakten schaffen, damit es mir selbst hinterher besser geht.

    Das Thema Geld ist am Ende auch doch recht wichtig. Mein Vater hatte zum Beispiel eine sehr gute Rente, von denen wir nur träumen können, wenn wir berentet sein werden. Aber es gab nur Schulden, die ich nach seinem Tod fand, und es konnte noch nicht einmal die Beerdigung bezahlt werden. Ein süchtiger Haushalt kann oft auch nicht mit Geld umgehen. Auch hier eine gute Idee, mal in den Ordnern zuhause bei Deinen Eltern nachzusehen, was da Sache ist. Und sei es dann, wenn beide am Schlafen sind……..

    Am Ende hast Du immer noch die Möglichkeit, alles an gesetzliche Betreuer abzugeben, dann bist Du befreit von allem. Ich war oft kurz davor das zu machen. Es ist die letzte Form des Loslassens.

    Viel Kraft für die Tage, Sorge für Dich gut ganz egoistisch! Denn deine Eltern werden sich nicht wegen Dir verändern, dazu ist der Sog der Sucht zu stark. Da müsste wahrscheinlich noch recht viel passieren bis es soweit kommt.

  • Hallo,

    vielen Dank noch mal für eure Nachrichten und danke für eure guten Wünsche. Ich kann leider nicht viel schreiben. Es ist zur Katastrophe geworden. Mein Vater hat Schulden bei Behörden, von denen keiner wusste. Er hat viel Geld verspielt und sinnlos ausgegeben. Er hat jahrelang Mahnungen einfach in die Schublade gesteckt. Hat gelogen, dass alles ok ist. Auf mich wirkt er, als ob ihm gar nicht richtig klar ist, was das alles bedeutet, vielleicht vergisst er es auch. Aktuell haben sie nicht mal richtigen Krankenversicherungsschutz, weil monatelang Beiträge nicht bezahlt wurden.
    Ich muss nun den Karren aus dem Dreck ziehen. Bin sprachlos, ratlos, überfordert. Aber irgendwie muss es gehen.

    Ich rede ab morgen mit den Behörden, um zu sehen, wie man den Schaden begrenzen kann. Die Schulden können erstmal beglichen werden, danach sind aber bald die Rücklagen weg. Dann muss ich mich für meine Eltern wohl ans Sozialamt wenden. Selbst bewältigen sie diese Dinge offenbar ja nicht mehr.
    Auch brauche ich eine Lösung, damit mein Vater nicht weiterhin ohne Rücksicht Geld verprasst. Bankvollmacht würden sie mir geben (muss dann organisiert werden), aber wie verhindere ich, dass er einfach alles ausgibt? Ich kann sie nicht permanent kontrollieren.

    Ich muss diese Woche auch wieder hinfahren, um Dinge vor Ort zu regeln, momentan ist das mit das Schlimmste für mich. Die Atmosphäre im Haus ist sehr belastend für mich, und das Chaos ist sehr groß. Aber ich muss es machen.

    Habt ihr irgendeine Idee, wer noch helfen oder beraten könnte? Caritas, Diakonie? Ich weiß über Themen wie gesetzliche Betreuung zu wenig, um sowas sofort zu entscheiden. Ich denke nur, meine Eltern sind an sich nicht mehr fähig, ihr Leben selbst zu bewältigen. Und ich breche bald zusammen unter der Belastung. Ich bin fast nur noch am weinen und esse kaum noch, versuche parallel dazu mir einen Überblick zu verschaffen. Es brennt an allen Enden.

    Bei all dem habe ich auch noch nicht richtig trauern können. Meine Oma dreht sich jetzt sicher im Grab. All das hätte sie nie gewollt. Ich bin froh, dass sie das alles nicht mehr mitbekommen muss.

    Es tut mir sehr leid, dass ich nicht so recht auf eure Beiträge eingehen kann. Es passiert einfach zu viel.

    Viele Grüße,
    Nina

  • Hallo Nina,
    ich lese sehr deutlich deine Not heraus, daher versuche ich dir ein paar Anregungen zu geben.

    Es entlastet dich vielleicht, zu wissen, dass du nicht „verpflichtet“ bist, dich persönlich um deine Eltern kümmern zu müssen. Ein moralische Verpflichtung besteht womöglich, jedoch keine rechtliche Verpflichtung.

    Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden, können eine gesetzliche Betreuung beantragen. Sie können das selbst tun oder aber jemand anderes für sie. Siehe:

    https://www.familienratgeber.de/rechte-leistun…e-betreuung.php

    Nun ist es aber so, dass, nur weil deine Eltern ein Alkoholproblem haben, dies nicht automatisch rechtfertigt, sie unter gesetzliche Betreuung stellen zu lassen. Wenn sie noch dazu in der Lage sind, einen eigenen freien Willen zu bilden, haben sie gewissermaßen auch das Recht auf ihren eigenen Untergang.

    Rechtliche Grundlage für Hilfe bzw. Nichthilfe bei Alkoholikern, siehe hier:

    https://www.reguvis.de/betreuung/wiki…Folgeerkrankung

    https://www.aerztezeitung.de/Politik/Einwei…ung-308033.html


    Die Sache ist die: Wollen deine Eltern deine Hilfe oder wollen Sie sie nicht?

    Wenn sie deine Hilfe nicht wollen, stellt sich die Frage, ob sie noch in der Lage sind, einen freien Willen zu bilden. Das kann nur ein entsprechender Gutachter feststellen und bei den Rechtsentscheidungen diesbezüglich erkennst du, wie uneins sich Gutachter sein können.

    Die Unfähigkeit deiner Eltern an sich bedeutet nicht, dass ihnen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, einen eigenen freien Willen zu bilden. Siehe oben.

    Wenn sie deine Hilfe wollen, musst du selbst nicht unbedingt ihre rechtliche Betreuung übernehmen, sondern das kann ein gesetzlicher Betreuer, der beim Betreuungsgericht beantragt wird, übernehmen.

    Du musst auch nicht per se für die Kosten aufkommen. Infos findest du z.B. hier:

    https://www.pflege.de/pflegegesetz-p…lternunterhalt/

    https://www.pflege-durch-angehoerige.de/kinder-muessen…nn_mich_beraten

    Ich hoffe, diese Informationen helfen dir ein wenig weiter und entlasten dich etwas.

    Ich wünsche dir viel Kraft.

    Herzliche Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo Nina,
    meine guten Gedanken und Wünsche begleiten dich heute.
    Wünsche dir ganz viel Kraft und Energie!
    Schreibst du, wie’s heute gelaufen ist?
    Liebe Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

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