Liebe Nina,
ich habe ein bisschen gebraucht um Dir zu antworten, da sehr vieles mich an meine Situation erinnert hat, in der ich mich für viele Jahre befand. Meine Mutter (78J) trinkt seitdem ich Kind bin, mein Vater war ein typischer coabhängiger Angehöriger (vertuschen, so tun als gäbe es das Problem nicht, verheimlichen, kontrollieren), so lange es ihm möglich war. Allerdings verschlimmerte sich das Trinken und die damit zusammenhängenden Ausfälle in den letzten Jahren immer mehr, je mehr mein Vater körperlich krank wurde und nicht mehr die "Kontrolle" über meine Mutter hatte, da er oft im Krankenhaus war.
Ich habe hier im Forum vor einer Weile über meinen Vater geschrieben, als er eine Nierentransplantation hatte, das gibt Dir ein ganz gutes Bild: http://alkoholforum.de//index.php?topic=2340.0
So kam es, dass sie betrunken Auto fuhr, Unfälle verursachte, einmal drei Tage komplett verschwunden war und von der Polizei gesucht wurde, immer wieder Trinken bis zum Koma, dann wurde sie von Nachbarn gefunden. Immer wieder Rettungswagen, Polizeieinsätze etc. ich hatte mich über Grossteile meines Lebens von meinen Eltern sehr abgegrenzt, oft mit Kontaktabbrüchen, oder nur wenige Begegnungen, aber je älter meine Eltern wurden, desto kränker mein Vater wurde, umso mehr Kontakt hatte ich vor allem zu meinem Vater, der nicht mehr konnte. Plötzlich war ich in den letzten vier Jahren Koordinatorin, Rettungsstelle etc. um meinem Vater das Leben erträglicher zu machen. Täglich machte ich mir Sorgen, telefonierte mit meinem Vater, unterstützte ihn soweit möglich. ich fühlte mich 100% verantwortlich für deren Leben und schuldig, dass ich meinem Vater kein schöneres Ende ermöglichen konnte. Im September letzten Jahres verstarb mein Vater dann und es trat das ein, wovor ich mich immer gefürchtet hatte, dass meine Mutter übrig blieb und ich für sie verantwortlich bin.
In den Tagen nach dem Tod meines Vaters gab es ein kleines Fenster der Nüchternheit und auch des Schockes meiner Mutter, und in dieser Zeit organisierte ich alles, was möglich war: Betreuungsvollmacht, Arztbesuch und täglicher Besuch von Sozialdienst ("für die Tabletten"), Bankvollmacht, Kontakt zur Krankenkasse, Auto verkauft etc. Sie unterschrieb alles und stimmte allem zu, das war ein grosser Segen im Nachhinein. Ich würde Dir auch auf jedenfalls sehr empfehlen irgendwie diese Dokumente von Deinen Eltern zu bekommen. Manchmal tun sich kleine Fenster der Vernunft auf, dann muss man sofort handeln.
Der Nüchternheitszustand hielt nicht lange an. Noch auf der Trauerfeier meines Vaters bestellte sie von einem Freund eine Kiste Wein, der einen Weinhandel hatte. Der lieferte den Wein 5 Tage später und sechs Tage später stürzte meine Mutter volltrunken, zog sich einen schweren Oberschenkelhalsbruch zu und wurde abends vom Sozialdienst gefunden. Ja, dann lag sie in der gleichen Uniklinik, in der mein Vater kurz vorher gestorben war.
Kann man sagen Glück im Unglück? Durch den Sturz ging dann alles sehr schnell, sie kam nicht mehr nach Hause, nach der Klinik direkt in die Reha, dann Kurzzeitpflege und ist nun ganz in einer Pflegeeinrichtung. Durch Corona und die Gehbehinderung konnte sie kaum raus und ist seitdem "trocken", wenngleich ich täglich damit rechne, dass sie den Weg zum nächsten Laden auch bald schafft. Dennoch ist seitdem erstmals seit Jahrzehnten eine normale Beziehung mit normalen Gesprächen möglich. Ich kann das "Kontrollieren" an das Pflegeheim abgeben, die sind nun verantwortlich, dass nichts passiert und ich bin sehr viel ruhiger. So gesehen kann ich "loslassen", was mir vorher nicht möglich war. Jetzt denke ich, dass sie verantwortlich dafür ist, wie sie ihr neues Leben gestaltet, wie der Kontakt zu mir ist oder auch nicht. Zumindest muss ich keine Ängste mehr haben, dass bei jedem Telefonklingeln die Katastrophe über mich einbricht.
Also, was würde ich Dir raten? Sorge für alle wichtigen Dokumente und Vollmachten, denn nur damit kannst Du im worst case etwas beantragen.
Ich hoffe, dass es Dir vielleicht weiterhilft,
P.