Gesunder Egoismus – was heißt das für mich?

  • In meiner Gruppe reden wir immer wieder über „gesunden Egoismus“ und darüber, „Nein“ sagen zu können/zu lernen.

    Der Begriff „Egoismus“ ist – ähnlich wie der „Alkoholiker“ – negativ belegt und verursacht, auf jemanden angewandt, bei diesem meist Schuldgefühle.
    Bekomme ich zu hören „Du bist egoistisch“, so hat dies doch meist den Zweck, mich zu manipulieren und meinem Gegenüber doch zu Willen zu sein. Meist, weil ich diesem eine Bitte abgeschlagen habe oder anderweitig widersprochen habe mit der Begründung, das ich nicht kann/will/mag.
    Derjenige will also mit dieser Bemerkung bei mir Schuldgefühle erwecken und so erreichen, dass ich meine Meinung ändere, meine Interessen zurückstecke – und daraus Vorteile ziehen.
    Also bin doch nicht ICH egoistisch, sondern mein Gegenüber!

    Was also ist „gesunder“ Egoismus für mich, was bedeutet es für mich?
    Natürlich kann ich sowohl an mich als auch an andere denken. Einerseits klingt dies wie ein Widerspruch, aber dem ist – wenn man mal darüber nachdenkt - nicht so.
    Nur wer auch an sich und seine Bedürfnisse denkt, diese nicht vernachlässigt, lebt nicht mehr in einem Zustand des Mangels und kann so auch an andere denken.
    Wer ständig das Gefühl hat, ihm fehle etwas (zum Beispiel Erholung, Ruhe, Entspannung), der hat das Gefühl zu kurz zu kommen und ist immer auf der Suche nach dem fehlenden Teil.
    Wenn man nie an sich und seine Bedürfnisse denkt, nicht auf sich achtet, ist dies genauso schädlich, wie wenn man nur an sich und die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse denkt.

    Die Menschen nennen diejenigen Egoisten, die sich nicht rücksichtslos von ihnen ausbeuten lassen.“ (Willy Reichert)

    Es gibt also keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, wenn einem jemand Egoismus vorwirft.

    Für Jedermann ist es selbstverständlich, seiner körperlichen Hygiene nachzugehen, Wohnung und Auto auf das Feinste, Beste zu pflegen. Dazu ist kein Mittel zu teuer, kein Aufwand zu groß.
    Aber: Wie sieht es mit der seelischen Hygiene aus?

    In unserer heutigen, schnelllebigen Zeit wird die Seele oft völlig vernachlässigt. Alles bezieht sich auf die äußeren Eindrücke – schneller, höher, weiter …
    Genauso, wie wir es von der Ernährung für den Körper her kennen, leben die Menschen in seelischer Hinsicht auch nur mit halber oder dreiviertel Kraft, weil sie die Situation bei optimaler Versorgung durch die richtige Nahrung gar nicht kennen. Unzureichend ernährte Menschen wissen nicht, wie powervoll ein Mensch den Tag genießen kann. Genauso sieht es auch mit den seelischen Verkümmerungen aus. Wir konsumieren eine Unmenge an äußeren Reizen, die für unsere Seele keine wirkliche Nahrung sind.
    Oft bezieht sich alles auf die äußeren Eindrücke: Welchen Eindruck hinterlasse ich bei anderen?
    Doch oft sind "meine Erwartungen" an die "Erwartungen der Anderen an mich" wesentlich höher als sie es tatsächlich sind.
    Nur weil dem so ist und ich möglicherweise diese (eingebildeten) Erwartungen erfüllen will und NICHT auf meine Bedürfnisse achte, verausgabe ich mich völlig.

    Hier mal ein stark überspitztes Beispiel – ich hoffe, es wird trotzdem klar, was ich meine:
    Nur weil ich allen zeigen will, dass ich der Größte und Beste bin, fahre ich mit meinem Auto permanent 200 km/h. Und nach ca. 2,5 Stunden muss ich einen Zwangshalt einlegen – weil der 50-Liter-Tank bei einem Verbrauch von 10 l/100km leer ist.
    Wenn ich aber diese Äußerlichkeiten außer Acht lasse und ganz entspannt nicht ständig unter Vollgas fahre, komme ich bei „nur“ 120 km/h doppelt so weit – bei halbem Verbrauch.

    Eine gute Portion Egoismus ist wichtig. Für das „Warum?“ habe ich letztens ein gutes Beispiel gelesen:
    Die Meisten von uns sind schon einmal geflogen. Vor dem Flug erklären die Stewardessen die Sicherheitsregeln. Und eine besagt: Bei Druckabfall solle man sich zuerst (!) die aus der Decke fallende Sauerstoffmaske überstülpen und erst dann schauen, ob die Nachbarn Hilfe brauchen.
    Warum egoistisch sein und zuerst an sich denken? Nun, wer am Ersticken ist, hat keine Kraft, anderen zu helfen. Erst wenn es uns gut geht, haben wir die Kraft, für andere da zu sein.

    Also: Geht aus den Köpfen der Anderen!

    Wer sich selbst kaputt macht, nur weil er denkt, sonst nicht gemocht zu werden, kann ziemlich schnell niemandem mehr helfen. Und nur weil Jemand NEIN sagt, nicht kann, geht die Welt nicht unter. Wie oft habe ich gehört, wenn ich Jemandem auf eine Frage/Bitte eine abschlägige Antwort gegeben habe/geben musste: „Okay, kein Problem. Dann frage ich eben jemand anderen.“
    Man sollte nur ein paar Dinge beherzigen/bedenken:

    1. Nein-sagen-lernen heißt NICHT Ja-sagen-verlernen!
    2. Jeder darf NEIN sagen – also auch mein Gegenüber!
    3. Ich muss nicht mit Allem und Jedem einverstanden sein – aber auch mit mir muss nicht Jeder einer Meinung sein!

    Ich hoffe, ich konnte meine Gedanken halbwegs verständlich rüberbringen. Ihr dürft auch NEIN sagen ;)

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • 44. Das ist gut. ;) :) :D ;D

    LG Betty

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

  • Mich hat ja gewundert, dass niemand etwas zum ersten Text schrieb. Ich finde den sehr, sehr gut. Ich wollte aber nicht schon wieder der erste sein, der darauf antwortet. ;)

  • Ja, ich überweise gerade an dem gesunden Egoismus. Im Herbst hatte ich einen Zusammenbruch: Depression nach Burnout. Toll.

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

  • es machen Leute Überstunden, damit sie sich ein Auto leisten können, mit dem sie Leute beeindrucken wollen, die sie gar nicht leiden können.

    Genauer: Sie kaufen von Geld, das sie gar nicht besitzen, Dinge, die sie nicht benötigen, um Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen. 8)

    Gruß
    Rekonvaleszent

  • Guten Morgen,
    naja, ich finde dieses Beispiel hat nichts mit gesundem Egoismus zu tun.
    Ich bin so erzogen worden, dass ich meine Bedürfnisse immer zurückstellte, immer für andere da war und immer meine Hilfe anbot. Ich war sozusagen ein seelischer Mülleimer.
    Ich bildete mir immer ein, nur so akzeptiert und geliebt zu werden. Ja, ich habe diesen totalen Quatsch jahrelang gelebt und es ging mir schlecht dabei, sehr schlecht...
    Erst in meiner Therapie habe ich endlich begriffen, dass ich nicht selbstsüchtig und rücksichtslos bin, wenn ich "gesunden Egoismus" (gesund, weil ich Andere dabei nicht verletze) lebe.
    Ich übe mich in radikaler Selbstfürsorge und Eigenliebe. Ich darf NEIN sagen, ohne Begründung! Das ist ein unglaublich tolles Gefühl und gibt mir die Kraft, dauerhaft und zufrieden abstinent zu bleiben.
    LG Britt

    ~ bevör ik mi nu opregen deed, is dat mi lever egaal ~


  • Guten Morgen,
    naja, ich finde dieses Beispiel hat nichts mit gesundem Egoismus zu tun.

    Ich finde, MEIN Beispiel hat schon etwas damit zu tun:

    Ich bin so erzogen worden, dass ich meine Bedürfnisse immer zurückstellte, immer für andere da war und immer meine Hilfe anbot. Ich war sozusagen ein seelischer Mülleimer.
    Ich bildete mir immer ein, nur so akzeptiert und geliebt zu werden. Ja, ich habe diesen totalen Quatsch jahrelang gelebt und es ging mir schlecht dabei, sehr schlecht...

    Hier bist Du der Typ, der mit Vollgas fährt, um anderen zu imponieren (ihnen zu gefallen) - ohne Rücksicht auf Deinen "Verbrauch". Dementsprechend geht es Dir schnell schlecht und Du bist leer.

    Ich übe mich in radikaler Selbstfürsorge und Eigenliebe. Ich darf NEIN sagen, ohne Begründung! Das ist ein unglaublich tolles Gefühl und gibt mir die Kraft, dauerhaft und zufrieden abstinent zu bleiben.

    Und indem Du nicht Vollgas fährst und auf Dich selbst achtest und Deine Kräfte schonst, kommst Du viel weiter. Und helfen kannst Du - im Rahmen Deiner Möglichkeiten - trotzdem.

    "gesunden Egoismus" (gesund, weil ich Andere dabei nicht verletze)

    Ich sehe "gesunden Egoismus" so, dass er gesund sein muss für MICH - denn nur wenn es mir gut geht, nur wenn ich lebe, kann ich auch anderen helfen (ohne dabei selbst [wieder] kaputt zu gehen).

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!


  • Ich finde auch nicht, dass es ein Beispiel für gesunden Egoismus ist. Sondern für ungesunden Egoismus.
    Und ist es nicht auch eine Form von ungesundem Egoismus, sein Bedürfnisse zurückzustellen, um akzeptiert und geliebt zu werden?

    Gibt da wohl mehrere Gegensätze
    Egoismus- Altruismus
    Gesunder Egoismus - ungesunder Egoismus


    Hallo Tyron,
    bei meinen Beiträgen versuche ich inhaltlich beim Thema des Themenstarters zu bleiben. In diesem Fall: "Gesunder Egoismus – was heißt das für mich?"
    LG Britt

    ~ bevör ik mi nu opregen deed, is dat mi lever egaal ~

  • Hallo Greenfox,

    Zitat

    Hier mal ein stark überspitztes Beispiel – ich hoffe, es wird trotzdem klar, was ich meine:
    Nur weil ich allen zeigen will, dass ich der Größte und Beste bin, fahre ich mit meinem Auto permanent 200 km/h.... Ich finde, MEIN Beispiel hat schon etwas damit zu tun....:


    Ich wollte niemanden zeigen, dass ich der (die) Größte und Beste bin. Ich wollte nur niemandem weh tun.
    In einem hast du aber sicher Recht: Beides zeugt von Selbstüberschätzung: Sich mehr zuzutrauen, als "man" tatsächlich vermag.
    LG Britt

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