Erinnerungen

  • Hallo,

    ich besuche ja regelmäßig meine Motivationsgruppe und da hatten wir letztens eine kleine Diskussion.
    Die Leitung hatte eine Sozialpädagogin mit viel Erfahrung und es ging übergeordnet um das Thema „Rückfall“.
    Grund war die Geschichte eines Teilnehmers, der nach über 10 Jahren Abstinenz sich eines Tages beim Zeitungholen aus für ihn unerfindlichen Gründen zwei Chantre mitgenommen hat und dadurch wieder tief in die Sucht gerutscht ist.
    Dabei stellte sie die These auf, dass sich ein Alkoholiker mit zunehmender Dauer seiner Abstinenz immer mehr an die „guten“ Zeiten mit Alkohol erinnert weil das Gehirn dazu neigt negative Dinge mit der Zeit zu verdrängen.
    Deshalb sei es auch mit zunehmender Dauer der Abstinenz weiterhin ein gefährliches Terrain wenn man überall ungehindert an Alkohol kommt.

    Jetzt würde mich mal interessieren wie das bei Euch ist.
    Bei mir ist es nämlich so, dass mit ich mir mit zunehmender Abstinenz (zugegebenermaßen mit eineinhalb Jahre noch nicht wirklich lange) eher immer besser an die negativen Erlebnisse, bzw. Gefühle erinnere.
    Ich hatte auch viele „schöne“ Momente und meine negativen Erlebnisse waren nie wirklich gravierend. Kein absoluter Kontrollverlust, keine einschneidenden Ereignisse (Führerscheinverlust, Arbeitsplatz usw.).
    Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern weshalb ich diese "schönen"Momente „schön“ fand. Ich hab da keine emotionale Erinnerung mehr daran, so als hätte eine andere Person das Ganze erlebt. Ich weiß nicht wie ich es besser ausdrücken soll aber ich hoffe Ihr wisst was ich meine.

    Im Gegensatz kann ich mich aber noch sehr gut an die Momente erinnern in denen ich vor meinem Weißbier saß und übelster Stimmung war trotz schönstem Wetter, Urlaub und um mich herum glückliche Gesichter.
    Ich kann mich daran erinnern, dass es mir in diesen Momenten auf der einen Seite sehr bewusst war,dass ich ein gewaltiges Problem hatte und auf der anderen Seite habe ich es trotzdem getrunken um einfach irgendwie diesem Trübsal zu entkommen.
    Das kann ich emotional noch sehr gut nachempfinden.
    Jedenfalls scheint es bei mir eigentlich genau anders herum als es die Dame aus ihrer Erfahrung mit ihren Gruppen geschildert hat.

    Bei mir verblassen die „guten“ Momente.
    Geht das nur mir so oder habt ihr da ähnliche Erfahrungen.

    Gruß und schönes Wochenende

    changemaker

  • Hallo!

    Es fällt mir schwer zu glauben, dass der geschilderte Rückfall wie ein Blitz aus heiterem Himmel in den Herrn einschlug, so dass er den Fusel mitgenommen hat.

    Hatte der Rückfall sich nicht irgendwie schon vorher aufgebaut? Stand er immer rückhaltlos zu seiner Abstinenz?

    Hatte er schon vorher Trinkgelüste, die er unterdrücken konnte?

    Spukte in seinem Hirn noch der Gedanke herum, irgendwann gehe doch noch mal was mit dem Stoff?

    Klar denke ich ab- und an, die Abstände werden immer größer, mal daran, wie es war, als ich noch moderat was trinken konnte. Nur ist diese Phase seit 20 Jahren vorbei und sie kommt nie wieder zurück.

    Ich bin jetzt knapp 5 Jahre abstinent und meine, dass solche Gedanken an den "schönen" Genuß von Alk bei mir eher in den ersten Jahren vorkamen, in den letzten beiden immer seltener. Aber vielleicht flackert da ja mal wieder was auf.

    Danke für den Gedankenanstoß. Auch deshalb bin ich hier.

    Gruß
    Rekonvaleszent

  • Ich denke auch, dass sich so ein Rückfall langsam "aufbaut". Es sind oft kleine Sachen, die eine Unzufriedenheit, Stress o.ä. aufbauen, wo man früher zur Flasche gegriffen hat. Und wenn man diese nicht rechtzeitig erkennt/beachtet, können die sich kumulieren und irgendwann dazu führen, dass man "urplötzlich" übermannt wird und zugreift.

    Ich bin jetzt seit über 11 Jahren glücklich und zufrieden trocken, habe demnächst meinen 12. Jahrestag. Mir ging es vor einiger Zeit nicht so prickelnd und drohte, in ein psychisches Loch zu rutschen. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass die Flasche wieder am Horizont auftauchte. Also habe ich mir einen Therapeuten gesucht (war gar nicht so einfach :-\ ) und wir haben das "Problem" beseitigt.
    Ich war schonmal eine Zeit trocken und hatte da ein kleines psychisches Problem. Aber das meinte ich alleine lösen zu können. Es wuchs mir leider über den Kopf und ich habe wieder 4 Jahre gesoffen …

    Einfach nur in sich reinhorchen - Wie geht es mir? Gibt es (psychische) Probleme? - und auf sich selbst achten.
    Einfach - und doch so schwierig.

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Hallo changemaker,

    bei mir wächst mit zunehmender Dauer der Abstinenz (und zunehmendem Lebensalter ;)) mein Erkennen meiner Muster, die (unter anderem) dazu geführt haben, dass ich (unter anderem) Alkoholikerin geworden bin. Kürzer gesagt, ich verstehe mich immer besser. Das liegt natürlich auch daran, dass ich mich mit mir und meiner Psyche (und der anderer Menschen) auseinandersetze (und dabei trocken bin. Das ist die Voraussetzung.).

    Nun bin ich aber auch erst ein paar Jahre trocken, daher weiß ich nicht, wie es mir in einigen Jahren gehen wird. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich mir nicht vorstellen, dass ich mein Süchtigsein nochmal soweit verdränge, dass mir die Erinnerung ans Alkoholtrinken positiv erscheint. Aber eins habe ich auch in den letzten Jahren, seit ich trocken bin, gelernt: dass ich mich immer weiter verändere, und daher - wenn nicht alles, so doch ne ganze Menge offen ist.

    Danke für die Frage, dir viele Grüße
    Camina

  • Hallo Changemaker,

    Am dichtesten an einem Rückfall dran war ich vielleicht, als ich ca. 12 Jahre trocken war und mich dabei schon mehrere Jahre überhaupt nicht mehr mit dem Thema beschäftigt hatte. Ich hatte fast ganz vergessen, dass ich schon mal gesoffen hatte. Das hatte weder mit guten noch mit schlechten Erinnerungen zu tun, sondern höchstens mit fehlenden, und mit dem dann sehr normalen sozialen Umfeld, das ich damit hatte.

    Ich lebte sehr normal und mit ziemlich normalen Leuten um mich herum, die ganz gerne mal ein Glas getrunken haben, aber damit eben keine Probleme hatten. Ich merkte dann mit der Zeit, dass mich das irgendwie tangiert und anfängt zu nerven, da ich mit diesen Leuten aber ansonsten einige gemeinsame Interessen hatte und habe, wollte ich das nicht so einfach lassen.
    Ich hatte dann das Bedürfnis, mich von diesem gewöhnlichen Alkoholkonsum der anderen irgendwie innerlich abzusetzen und habe mir deswegen dann eine Gruppe gesucht, um darüber zu reden, damit war das Thema dann aber auch erledigt. Trotzdem glaube ich nicht, dass ich da ernsthaft rückfallgefährdet war, jedenfalls wäre ich wohl kaum ferngesteuert in einen Laden gegangen.

    Dann war ich nochmal relativ dicht dran, als ich meinen ebenfalls trinkenden Vater betreut habe und dabei als Bevollmächtigte drüber entscheiden musste/durfte, wie nun mit seinem Alkoholbedarf umgegangen werden sollte, denn er selbst war ja dann hilflos und konnte sich nicht mehr selbst versorgen. Da war mir das auch bewusst, und für mich war das teilweise "back to the roots", denn ich hatte ja zu Hause mit dem Trinken angefangen, und seine Sprüche waren auch manchmal entsprechend, aber mehr als dass mir das bewusst war, war es auch nicht.

    Wenn ich hier schreibe, um das irgendwie zu verdeutlichen, wie das bei mir mal war, kann ich mich an gute wie schlechte Seiten der Sauferei gleichermaßen erinnern. Ich glaube aber, dass ich insgesamt sowieso viel vergessen habe, das meiste, was ich damals erlebt habe, war ja auch nicht so dermassen bedeutsam, dass ich dauernd drüber nachdenken würde, und Filmrisse hatte ich auch einige, konnte mich ja zum Teil am nächsten Morgen schon kaum dran erinnern.
    Jedenfalls sind das nach meiner Einschätzung immer nur so Schlaglichter, die die Erinnerung auf das Vergangene wirft. Und vor allem ist es weit weg, mein früheres Leben, und meistens habe ich sehr viel inneren Abstand dazu, selbst wenn ich es detailliert erzähle. Ich meine, wenn ich das mit Erzählungen meiner Schulzeit oder meiner Kindheit vergleiche, da fallen mir ja auch gute und schlechte Zeiten ein, ohne das ich deswegen zurück will oder mich das irgendwie noch aus der Bahn werfen würde. Es war einmal, und heute ist heute.

    Ich meditiere ab und an, hab ich mal zur Stressbewältigung und zum Runterkommen angefangen, statt Saufen sozusagen, und ich glaube, wenn es da noch tiefsitzende Wünsche in mir gäbe, wieder mal was zu trinken, dann wäre mir das wohl bereits aufgefallen.

    Gruß Susanne

  • Huhu, die frage ist fuer mich sehr einfach zu beantworten, bei mir gab es glücklicherweise viel mehr schlechte als gute errinerungen.

    Ich muss mich schon echt anstrengen und das erste was mir in den Sinn kommt sind Partys aus den jugendjahren, 15-20 Jahre her.
    Und schon drehen sich die guten errinerungen in schlechte weil zu der Zeit war ich noch nich süchtig aber es war der Anfang vom Ende...

    Meine schlechten errinerungen sind einfach viel präsenter als die guten.
    Ob sich das irgendwann noch ändert Weiss ich nich(8 Jahre trocken)
    Als ich zuletzt den Gedanken hatte, ach ein Bier geht, Guck mal du hast es so lange geschafft da macht ein Bierchen doch nix. Habe ich mir schnell bewusst gemacht, ja kannst du machen aber dann dauert es nicht lange und du liegst unter der Erde. So kann ich mich selber immer schnell selbst überzeugen.

    Das man nach jahrelanger abstinenz doch wieder rückfällig wird gehört einfach zur Krankheit dazu.
    Das kann jedem Alkoholiker passieren.
    Das wichtige dabei ist es zu erkennen und zu handeln... Wieder in die Entgiftung oder sich anderweitig Hilfe holen.

    Gruß veneye

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