Auf der Suche nach Rat als indirekt Betroffener

  • Hallo,

    ich wende mich an Euch als "nur" indirekt Betroffener.

    Zu meiner/unserer Situation:
    Mit meiner Frau bin ich bereits mein halbes Leben lang zusammen, eigentlich auch glücklich. Wir haben Kinder, für die wir uns bewusst entschieden haben. Wir haben alles erreicht, was wir jemals erreichen wollten, wir sind ein gutes Team, das schon vieles bewältigt hat, an dem andere vielleicht zerbrochen wären. Es mangelt uns eigentlich an nichts, wir könnten ein wirklich gutes, angenehmes Leben haben. In den letzten Jahren - unmöglich einen genauen Beginn festzumachen - ist meine Frau jedoch immer mehr in eine Alkoholabhängigkeit abgedriftet, die aus der einstmals glücklichen Beziehung eine tagtägliche Qual gemacht hat. Ob es gelingt, dort wieder herauszukommen, entscheidet, ob diese Familie weiter Bestand hat, oder auseinander brechen wird. Es hat keinen Sinn, sich hier irgend eine Illusion vorzumachen. Wie es dann weiter gehen sollte, weiß ich nicht - ich bin zum ersten mal in meinem Leben völlig ratlos.

    Ich selbst, ebenso meine Frau, habe eine gewisse Erfahrung mit medizinischen/psychologischen Themen (mehr dazu ggf. später), kann zwischen dem "freien Willen" und dem, wie die "Hardware" in unseren Köpfen tickt, gut differenzieren, und vermeide Vorurteile und Schuldzuweisungen - denn das ist weder sinnvoll, noch zielführend. Der Wille, die Sache anzugehen, ist da - sowohl von meiner Seite, als auch seitens meiner Frau. Aber der Wille ist eben nur ein Teil, wenn auch aus meiner Sicht ein wesentlicher, der andere Teil ist die Sucht, und die schert sich im Zweifelsfall nicht um den Verstand. Sucht wäre keine Sucht, wenn sie nicht in der Lage wäre, das Bisschen Verstand des schlauen Affen auszuhebeln.

    Ich wünsche Euch allen ein gutes neues Jahr 2020, in dem sich vor allem Lösungen statt Problemen ergeben, und hoffe, bei Euch etwas Austausch zu finden. Suchterkrankungen, bzw. ganz allgemein psychologische Erkrankungen - die körperliche Abhängigkeit sollte eher das kleinere Problem darstellen - sind als Betroffener als Gesprächsthema in der Gesellschaft ein Tabu, über das man kaum produktiv reden kann, ohne Gefahr zu laufen, in eine Schublade gesteckt zu werden. Menschen scheinen es zu lieben, gerade auf denen herumzutrampeln, die ohnehin schon am Boden liegen, begegnen ihnen mit Selbstgefälligkeit und Verachtung, im besten Fall oft noch mit "schlauen" schlechten Ratschlägen. Das sollte unter selbst betroffenen anders sein, und man kann durch so einen Austausch eigentlich nur gewinnen. Und da bin ich nun.

    LG
    P.

  • Moin P.

    :welcome: und meine allerbesten Wünsche für ein neues Jahr. Du kannst es sicher gebrauchen. Was sind denn bei dir gewisse Erfahrungen. Beruflicher Natur? Wenn ja, dann wäre mein Rat jetzt eher zu simpel, aber ich denke immer noch der richtige Weg. Wenn denn der Wille da ist, dann solltet ihr euch Hilfe holen. Arzt, Suchtberatung und dann auch eine reale SHG.

    Ich habe mich nach Jahren der Eigenversuche meiner Ärztin anvertraut. Es hat mich erlöst. Allein schon der Gang dorthin... Ich hatte endlich jemanden gefunden, der mich verstand. Ich habe es auf diesem Wege geschafft. Ich bin seit März 2014 alkoholfrei.

    Komm erst einmal hier an, lies dich ein wenig durch die Profile. Vielleicht bei den Angehörigen...

    Und dann hoffe ich, dass es auch für euch eine Lösung gibt und du hier einen guten Austausch haben wirst.

    LG von Betty

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

  • Liebe Betty,

    danke für Deinen netten Empfang, und sehr cool, dass Du nun seit fast fünf Jahren "trocken" bist 44.

    Mein Wissen und meine Erfahrungen in diesem Bereich beruhen auf dem, was ich mir aufgrund unserer Kinder aneignen musste, die von ADS (eine Variante von ADHS, aber ohne das 'H' - den Zappelphilipp) bzw. Asperger betroffen sind. Beides ist nicht alkoholinduziert - der Alkohol kam später, sicher begünstigt durch die Hölle, durch die wir damit gehen mussten - das war wirklich hart. Im Zuge dessen habe ich viel darüber gelernt, wie die Psyche "funktioniert". Natürlich mit Schwerpunkt auf dem, was meine Kinder betrifft, und sicher nicht in der Tiefe eines darauf spezialisierten Mediziners oder Psychologen. Aber für einen Amateur möchte ich behaupten: ganz ordentlich. Auch über mich habe ich vieles gelernt - ADS/Asperger ist erblich (und ich bin vermutlich ebenfalls betroffen).

    Mit diesen Erkrankungen - falls man das darunter kategorisieren möchte - stößt man ebenfalls häufig auf Unverständnis (von: erfundene Krankheit bis: Erziehungsfehler, mit Ratschlägen wie: die Kinder mal ordentlich durchprügeln).
    Unsere Kinder werden seit einigen Jahren therapiert. Sie sind und werden damit nicht "geheilt", aber zum Glück auf dem besten Weg in ein ganz normales Leben. Doch bis wir damals verstanden hatten, was überhaupt Sache ist, in der Lage waren, das auch zu akzeptieren, und dann endlich Hilfe in Anspruch nehmen konnten, ging einiges Wasser den Bach hinunter, und unser Nervenkostüm hat dabei stark gelitten. Bei mir führte das in eine Depression, die ich ohne Hilfe durchstehen musste (Wartezeit auf eine Vater/Kind Reha lag bei > 1 Jahr, meine Frau mit den Kindern allein lassen konnte und wollte ich nicht), bei meiner Frau in den Alkohol.

    Von daher haben wir keine Berührungsängste mit Psychologen, Psychiatern und entsprechenden Einrichtungen. Zum Glück leben wir in einer Zeit, in der es all das gibt! Einen Versuch hatte ich vor ein paar Monaten bereits angeleiert, aber damals wollte sich meine Frau das Problem noch nicht eingestehen, und sich eigenständig ihren Weg aus der Misere suchen. Das hat nicht funktioniert. Die Folge waren Beschwichtigungen, heimliches trinken, und Vorwürfe an mich, um das zu kaschieren. Das hat mir sehr weh getan. Vor wenigen Wochen bin ich dann auf diverse Alkoholverstecke gestoßen; vor einigen Tagen hat sie bemerkt, dass ich das bemerkt habe, entsprechend schief hing der Haussegen, zwischen Peinlichkeit und Wut. An diesem Tag hat sie so viel getrunken, dass sie auch Nachmittags darauf noch nicht fahrtüchtig war. Das wäre allein noch nicht das Problem - aber sie trinkt abends täglich, schätzungsweise 1 Flasche Wein zzgl. diverser Flaschen Bier, ohne dass man ihr dabei oberflächlich viel anmerkt. Tatsächlich funktioniert im Detail aber vieles bei ihr einfach nicht mehr, angefangen vom Erinnerungsvermögen.

    Womit wir zum Glück nichts am Hut haben, ist häusliche Gewalt oder auch "nur" wüste Beschimpfungen. Dennoch ging schon des Öfteren im Streit die Sachlichkeit verloren, bei ihr - im Nachhinein erklärbar - um vom Problem abzulenken, und ich bin laut geworden, weil der Frust einfach überhand nimmt. Das ist eigentlich überhaupt nicht unsere Art, und soll es auch nicht werden.

    Meine Frau war von dem Pegel am nächsten Tag schockiert. Sie hat Stand heute seit vier Tagen keinerlei Alkohol mehr konsumiert, sucht bereits Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe, und hat auch schon bei ihrem Hausarzt angerufen (über die Feiertage nicht erreichbar - war fast klar, aber immerhin). Die Sache angehen und durchziehen kann letztendlich nur sie allein, und sie ist jetzt bereit dazu. Aber der Wille allein ist eben trügerisch, und der Alkoholismus damit noch lange nicht besiegt. Meine Aufgabe sehe ich darin, sie zu unterstützen, wo immer ich nur kann. Ich möchte meine Frau zurück. Und eine intakte Familie - das schulde ich den Kindern.

    LG
    P.

  • Hallo P.

    ich schicke dir mal einen Eimer Kraft...

    Bin selbst trockene Alkoholikerin (seit 2007) und entzogen von anderen Süchten. Aber auch Angehörige (Vater Alkoholiker, Mutter tablettenabhängig). Auch meine Tochter hat eine Diagnose.

    Ich lernte: Überforderung, psychische Erkrankungen und Sucht sind oft "Schwestern". Es war ein langer Weg vom Wissen zum Leben. Und Teile meiner Familie habe ich tatsächlich unterwegs verloren - nicht durch Tod, sondern durch meinen Rückzug von ihnen.

    Aber das Kämpfen und Wollen und ja, auch das Loslassen, hat sich gelohnt.

    Ich wünsche dir und deiner Familie von Herzen, dass ihr einen guten Weg findet.

    Netten Gruß,

    ichso

  • Hallo ichso,

    auch Dir vielen Dank für den herzlichen Empfang!

    In unserer Verwandschaft gibt bzw. gab es in beiden Linien Menschen, die es nicht geschafft haben.
    13 Jahre aus der Sucht heraus - Respekt. Ihr beide macht mir Hoffnung, dass das nicht so laufen muss!

    Du sagst, Du hast Dich von Teilen Deiner Familie zurückgezogen. Wussten/wissen die, was damals bei Dir los war? Wie wurde damit umgegangen?

    In unseren Familien über den Alkohol zu reden ist bzw. wird schwierig.
    Meinen Eltern erschließt sich das Konzept nicht, dass der Verstand nicht das einzige ist, was einen Menschen ausmacht. Sie neigen dazu, jemandem ins Gewissen reden zu wollen (selbst bei den Kindern, die ja hoffentlich irgendwann mal "vernünftig" werden wollen. Am Verstand scheitert es aber nicht, beide sind sogar ziemlich schlau - sie sind nur etwas anders "verdrahtet"). Das hilft bestenfalls nicht weiter, macht es höchstens schlimmer, auch wenn sie es nicht böse meinen.
    Die Schwiegereltern sind grundlegend konfliktscheu, man redet nicht über Unangenehmes, da wird sofort auf ein beliebiges, belangloses Allerweltsthema gewechselt. Als wir denen damals versucht haben, die Situation unserer Kinder zu erklären, gab es nur betretene Gesichter, und bis heute keinerlei Rückfrage mehr dazu; das wurde einfach unter den Teppich gekehrt. Immer noch besser als Vorwürfe - aber letztendlich fühlen wir uns so allein gelassen. Hilfe ist nicht zu erwarten, nicht mal in der Form, dass man darüber reden könnte. Ob das anders wäre, wenn sich meine Frau ihnen anvertraut?
    Das hat bereits zu einer Distanzierung geführt. Für mich wirkt es wie eine Ohrfeige, wenn ich über etwas ernstes, sehr persönliches sprechen möchte, und das Gegenüber antwortet mit einer Story über das schöne Wetter.

    Das ist eine meiner Fragen: wie gehe ich mit der Verwandtschaft um? "Nicht" ist keine Option: die Schwiegereltern kommen in ein Alter, in dem sie vor allem die Hilfe meiner Frau benötigen werden. Das sind nochmal ein paar Zentner Last auf ihre Schultern, bei mehr als genügend eigenen Baustellen... Das macht mir Kopfzerbrechen. Und von anderer Seite kommen bereits Vorwürfe, weil wir uns so selten sehen lassen.

    LG
    P.

  • Moin P.,

    seit Tagen denke ich über deine Worte nach. Es macht mich einerseits sehr betroffen und andererseits sehr unsicher. Voraus, damit keine Unklarheiten entstehen, ich habe von dem Thema ADHS etc. keine Erfahrungen im besonderen. Es gab lediglich in meinem früheren Bekanntenkreis einen kranken Jungen von alkoholkranken Eltern. Ich weiß, dass dort mit Medikamenten gearbeitet wurde, aber ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr. Was beschäftigt mich? Ich habe das Gefühl, dass diese Krankheiten in den letzten Jahren vermehrt auftreten und mich irritiert das sehr. Was ist passiert? Welche Hintergründe gibt es? Es kann ja auch nicht nur pure Einbildung sein. Unsere Lebensumstände sind vielleicht nicht optimal? Unser Gesundheitssystem ist es leider auch nicht. In vielen Bereichen wird ja leider nur noch für den Profit gearbeitet. Da habe ich nun einige Erfahrungen über Jahre machen müssen, da ich in der Steuerbranche mit Fachbereich Medizin tätig bin. Allerdings möchte ich nicht über diese Krankheit urteilen oder irgendwelche Statements abgeben. Ich hoffe, du verstehst mich richtig. Es fällt mir schwer, mich auszudrücken.
    Seitdem ich „clean“ bin, hat sich mein Leben sehr verändert. Ich bin jetzt 63 Jahre, 158 cm mit 52 – 53 kg, sportlich aktiv und kerngesund. Ich benötige keine Medikamente. Ich schlafe und lebe sehr gut. Ich bin froh gelaunt und denke positiv. Ich bin sehr naturverbunden und achte ausgesprochen gut auf meine Ernährung. Seit ganz vielen Jahren habe ich sämtliche Zusatzstoffe aus meiner Küche verbannt. Ich koche und esse wie in alten Zeiten. Viel Gemüse und Obst, frisch zubereitete Speisen, so gut wie nie Fleisch und wenn, dann ganz ausgesucht. Ich kaufe dort, wo Tiere noch friedlich leben und gutes Futter bekommen. Das leiste ich mir selten, aber ich merke, dass es mir gut tut und es schmeckt auch viel besser. Zucker in raffinierter Form gibt es bei mir auch nicht mehr.  Ich esse sehr gern und sehr gut. Nicht, das hier ein falscher Eindruck entsteht. Ich habe auch vor mit einer vernünftigen Lebensart, alt zu werden. Meine Eltern wurden beide über 90 Jahre alt und bedurften keiner Pflege. Meine Mutti ganz zum Schluss. Mein Vater war immer fit und hat mit 92 immer noch seine Arbeiten erledigt und seine Hunde gezüchtet. Er war immer neugierig auf das Leben und immer in Bewegung. Jetzt komme ich zu dem Punkt, dass du schreibst, dass deine Schwiegereltern in ein Alter der Betreuung kommen. Wann kommt man in dieses Alter? Ich erkenne es nicht so wirklich. Es gibt mittlerweile doch ganz viele „alte“ Menschen, die nicht auf Hilfe angewiesen sind. Es gibt auch Hilfsbedürftige, aber ich habe so das Gefühl, dass auch eine Menge Menschen zu Hilfsbedürftigen gemacht werden und sich dazu machen lassen. Ist es denn nicht so, dass wir selbst einen großen, wenn nicht sogar den größten Teil dazu beitragen müssen und können, um gesund und fit ins Alter zu gehen? Ernährung, Bewegung, Neugier usw. ??? Vielleicht bin ich auch einfach nur ein Klugschnacker. Das Thema Kommunikation in deiner Familie ist leider nicht selten. Das war bei uns auch nicht anders. Eine Lösung habe ich da auch nie gefunden. Mein Vater war der Meinung, dass es Alkoholkrankheit nicht gibt. Wenn man nicht trinken will, dann lässt man es eben. Er hat seitdem er so ca. 40 war, weder getrunken noch geraucht. Einfach aufgehört. Basta. Das kann jeder. Ok, da konnte man auch nicht mit ihm reden. Ich habe es gelassen. Oft war ich mit meinen Sorgen und meinem Schicksal alleine und sehr traurig. Heute sehe ich das anders.

    Für euch wäre eine Änderung ja tatsächlich wichtig. Für alle Beteiligten. Irgendwie leidet ihr ja alle. Deine Frau, eure Kinder, du und eure Eltern reden vielleicht nicht gerne über die Situation, aber das irgendetwas nicht stimmt, spüren sie doch sicher auch.

    Ich hoffe sehr, ich bin dir jetzt nicht auf die Nerven gegangen. Und - manchmal verletzt meine trockene Art. Ich versuche, sehr sachlich und freundlich zu sein, aber es gelingt mir nicht immer. Auf jeden Fall will ich niemals verletzten oder ungerecht sein. Das meine ich ganz ehrlich.

    Ich hoffe, ihr findet wirklich eine Lösung. Dauert manchmal eben etwas länger im Leben.

    Liebe Grüße von Betty

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

  • Hallo,

    ich war mit meinem Partner 13 Jahre zusammen, bis er von meiner Sauferei soweit zu viel hatte, dass die Trennung bereits beschlossene Sache war. Ich geb zu, ich war eher erleichtert, als er sich trennen wollte, hatte ich endlich meine Ruhe und war froh dass er selbst endlich die Konsequenzen zog, die er lange angedroht hatte. Ich war zu dem Zeitpunkt noch davon überzeugt, dass ich nie aufhören würde (und auch nicht wollte) und für mich war das erst mal ein Freifahrtschein zum noch hemmungsloseren Trinken. Allerdings der Freifahrschein, der dann auch dazu führte, das ich selbst eines Tages einfach genug hatte.
    Getrunken habe ich allerdings bereits vor der Partnerschaft und mein Partner wusste zumindest von Anfang an, dass ich kein Kind von Traurigkeit war.
    Insgesamt gibt es sicherlich sowieso einige Unterschiede zwischen Deiner Frau und mir, also wie weit das nun auf Deine Frau übertragbar ist, was ich schreibe, weiss ich natürlich nicht, ich kenne sie ja auch nicht.

    Ich hab aufgehört, als wir praktisch getrennt waren, von einem Tag auf den anderen hatte ich praktisch die Schnauze voll (deswegen brauche ich dafür auch keinen Respekt, ich hatte wirklich so genug, dass zumindest das Aufhören und auch das dabei bleiben ziemlich einfach war. Wie ich dann nüchtern mit meinem Leben klar gekommen bin, ist ein anderes Thema).

    Für mich war beim Aufhören Freiraum ganz wichtig, Zeit für mich, damit ich zu mir finden konnte. Als mein (damals Ex-)Partner merkte, dass ich es offensichtlich ernst meinte, wollte er mir natürlich auch gleich dabei helfen, aber das Wichtigste, was er lernen musste, war, los zu lassen.
    Er war dafür unter Anderem in einer Angehörigengruppe und das war für mich durchaus wichtig. Das Gegenteil von "gut" ist bekanntlich "gut gemeint" und ein Angehöriger, der darauf fixiert ist, das der Partner das schaffen muss, und deswegen innerlich "dran klebt" ist keine große Hilfe, jedenfalls nicht für mich.

    Es ist nicht so viel anders wie bei Arzt: wenn ich Hilfe suche, möchte ich ernst genommen werden, aber ich möchte mir nichts aufdrängen lassen. Hilfe möchte ich vor allem nur dann, wenn ich darum bitte und ich möchte auch genau die Hilfe, um die ich bitte, und nichts anderes. Überhaupt denke ich, dass Trinken bei vielen Leuten, die das in der Partnerschaft tun, unter Anderem die Funktion hat, das man betrunken aus allen sozialen Rollen fallen und "man selbst" sein kann, ohne die Erwartungen der Umwelt zu erfüllen. Mehr oder weniger hilflos, weil man sich anders nicht abgrenzen und inneren Freiraum und Abstand schaffen kann. Alkohol ist dazu zwar ein ungeeignetes Mittel, aber genau das, ich selbst zu sein, musste ich nüchtern auch lernen. Das kann für den Partner mühsam sein, und es kann überhaupt ziemlich anstrengend sein, die Rollenverteilung in der Partnerschaft neu auszurichten, wenn ein Teil mit dem trinken aufhört.

    Wir habens aber geschafft und ich bin jetzt fast 19 Jahre nüchtern, aber es gehört auch zu den Stürmen, die wir überstehen mussten. Insofern, es gibt Hoffnung, aber ich kann Dir nicht versprechen dass es einfach wird - auch für Dich nicht. Wobei ich natürlich von mir ausgehe und es bei euch trotzdem ganz anders laufen könnte. Ist ja nur Erfahrungsaustausch.

    Ich weiss nicht genau, was Du selbst an Infos oder Unterstützung brauchst, ich schicke das jetzt einfach mal ab.

    Gruß Susanne

  • Hallo P.,

    herzlich Willkommen bei uns im Forum.

    Ich stelle mich mal kurz vor, damit Du einen kleinen Eindruck davon bekommst, wer Dir hier schreibt:

    Ich bin 50 Jahre alt, Alkoholiker und lebe jetzt schon lange ohne Alkohol. Davor trank ich weit über 10 Jahre abhängig. Die meiste Zeit davon trank ich heimlich und ich habe bis zum Ende funktioniert. Irgendwann war dann der Tag X erreicht und ich wusste plötzlich: Ich will nicht mehr. Ich outete mich meiner Frau und Familie gegenüber und habe seit diesem Moment keinen Tropfen Alkohol mehr zu mir genommen. Nebenbei erwähnt trennte ich mich kurz nach meinem Ausstieg von meiner Frau. Das war eine der schwersten, wohl aber auch wichtigsten Entscheidungen in meinem Leben und es dauerte für mich sehr lange, bis ich meine Suchtgeschichte und vor allem auch die viele Schuld die ich in dieser Zeit auf mich geladen hatte, einigermaßen verbeitet hatte. Bleibt noch zu erwähnen, dass ich (damals) 2 Kinder hatte, was diese Trennung und die Folgen noch schwieriger für mich machte. Abrundend möchte ich Dir noch sagen, dass ich heute wieder verheiratet bin, ein weiteres wunderbares Kind habe (jetzt sind es also 3) und ein sehr glücklicher Mensch bin. Was ich damals eigentlich für absolut unmöglich gehalten habe (also jemals wieder ein glücklicher Mensch zu werden).

    So, das nur mal so als ganz grober Überblick für Dich.

    Meine Gedanken zu dem was Du geschrieben hast:

    Ich lese Dich als sehr reflektiert. Und als jemanden, der eine gute Erfahrung mit der menschlichen Psyche hat. Deine Einschätzung bezüglich der Sucht, also deren Macht, teile ich voll und ganz. Ein starker Wille ist gut und auch ein gute Voraussetzung zum Überwinden dieser Sucht, er reicht aber allein leider bei weitem nicht aus. Im Umkehrschluss wären ja dann all die vielen Süchtigen alles nur "willensschwache" Charaktere, die sich einfach hängen lassen. Wobei ich weiß, dass das in Teilen der Gesellschaft durchaus so gesehen wird. Diese Menschen haben aber keine Ahnung was diese psychische Erkrankung, eine Suchterkrankung, überhaupt bedeutet.

    Auf Deine Geschichte bezogen möchte ich sagen, dass ich denke, Du (ihr) habt gute Voraussetzungen es da heraus zu schaffen. Ich denke mal, Deine Frau ist ähnlich weit in ihrer Denkweise wie Du, denn sie teilt ja die Erfahrungen die Du hast mit Dir, also eben auch bezogen auf Eure Kinder. Auch sie wird wissen, dass sie ihre Sucht nicht einfach nur mit dem Willen besiegen kann. Damit weiß sie dann auch, dass "einfach nur nichts mehr trinken" auf Dauer nicht aussreichen wird.

    Erst mal nicht mehr trinken und hierfür vielleicht auch kämpfen zu müssen ist absolut ok, es ist der Beginn, den jeder Süchtige machen muss. Wenn die körperliche Abhängigkeit noch keine Rolle spielt, umso besser, wobei Du ja schon ganz richtig geschrieben hast, dass diese dann am Ende eher das kleinere Problem darstellt.

    Bleibt also die Psyche. Und da bin ich dann wieder bei meinem "Lieblingsthema", nämlich das Finden des Grundes weshalb man trinkt. Für mich war es damals von elementarer Bedeutung heraus zu finden, warum ich so in diese Sucht hinein rutschen konnte. Ich hatte nämlich objektiv gesehen absolut überhaupt keinen Grund mit dem Trinken zu beginnen. Ich meine, Du schreibst es von Deiner Seite her ja auch. Ihr habt ein gutes Leben, auch wenn ihr gemeinsm viel durchmachen musstet, was auch aber auch zusammen geschweißt hat. Wichtig ist, dass Eure Kinder ein normales Leben führen können, ihr seid ein gutes Team, ihr könntet also durchaus glücklich sein.

    Nun, bei mir war das so: Kindheit, Jugend, Schule, Ausbildung, Job, Karriere, alles bestens. Familie, alles bestens. Eine wunderbare Frau und wunderbare Kinder. Keine Krankheiten, keine Schicksalsschläge, kein finanziellen Probleme, weit und breit nichts wo man sagen könnte: "er wusste sich nicht anders zu helfen als zur Flasche zu greifen". Noch nicht mal ein saufendes Umfeld, das mich da schleichend mit hinein gezogen haben könnte, kann ich vorweisen. Trotzdem trank ich am Schluss die letzten 2 Jahre 10 - 12 Bier + ne Flasche Wein täglich, oder sogar manchmal noch mehr.

    Warum? Sicher war es am Ende dann die Sucht, die den Alkohol und auch immer mehr davon verlangte. Irgendwann war der eigentliche Grund dann nicht mehr entscheidend, denn ich hatte mir durch meine Sauferei so viele Probleme ans Bein getrunken, dass ich diese ohne Alkohol gar nicht mehr ertragen hätte. Aber hinein gerutscht bin ich eben ohne sichtbare Probleme. Warum?

    Darum ging es mir dann und ich fand diese Gründe dann auch. Dauerte ein Weilchen, also etwas ein Jahr bis ich so mit dem Gröbsten durch war. Auch weil ich anfangs immer nur "oberflächliche" Gründe finden konnte oder vielleicht sogar vorschob. Also die vielen Probleme, mein Doppelleben, der Stress der mir das alles bereitete etc. Was ich nicht sofort verstand, war, dass diese Dinge ja "nur" durch die Sucht selbst entstanden waren, es jedoch eben auch Gründe geben musste, warum ich ursprünglich überhaupt den Alkohol missbrauchte. Diese Gründe lagen dann viel tiefer, in meiner Kindheit. Die zu finden dauerte dann schon etwas aber hier entdeckte ich dann eben Verhaltensmuster, die ich schon immer hatte. Und die mich letztlich auch trinken ließen. Ich hatte übrigens immer Hilfe. Ganz am Anfang eine SHG, die ersten Monate. Dann ein Psychologe und am meisten half mir ein Mönch, eine Zufallsbekanntschaft, der sich bereit erklärt hatte, mich auf meinem Weg heraus aus der Sucht zu begleiten. Was im Übrigen nicht mit dem Glauben zu tun hatte, denn ich war zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich gläubig.

    Du merkst vielleicht, das war dann eher ein nicht so ganz konventioneller Weg, den ich da gegangen bin. Aber das war mir egal, denn ich wollte es schaffen und ich war bereit jedwede Hilfe anzunehmen. Und dieser Mönch z. B. erreichte mich (im Gegensatz zum Psychologen) menschlich voll und ganz und ich konnte ihm vertrauen und mit ihm zusammen meine ganzen "Baustellen" abarbeiten.

    Ich denke also, manchmal ist es auch ein wenig Glück ob man die richtigen Hilfsangebote, die richtigen Menschen findet und damit dann heraus kommt. Ich denke nämlich nicht, dass die vielen Alkoholiker die Scheitern und dann weiter trinken, weniger Willen gehabt haben als z. B. ich. Vielleicht hatten sie einfach nur weniger Glück, ich weiß es nicht.

    Insofern denke ich, dass es auch bei Deiner Frau irgendetwas geben muss, was sie in den Alkohol flüchten lässt. Vielleicht ist es jetzt die Sucht, weil diese sich längst manifestiert hat und eben ihren Tribut verlangt. Aber es müsste Gründe geben, weshalb sie sich ursprünglich der Wirkung des Alkohols bedient hat. Wenn sie diese finden kann, die wahren Gründe, nicht die oberflächlichen, dann kann sie Strategien entwickeln, die den Alkohol langfristig für sie absolut überflüssig machen. Ohne dass sie dann noch kämpfen muss sondern aus tiefer eigener Überzeugung heraus. So war es jedenfalls bei mir.

    Ich weiß nicht ob Dir mein Geschreibsel hier jetzt irgendwelche Denkanstösse liefert. Ich kann und will hier nur von meinen eigenen Erfahrungen schreiben und kann auch keine "so klappts bestimmt"-Tipps geben.

    Ich wünsche Dir einen guten Austausch hier um Forum und Deiner Frau, dass sie ihre Sucht überwinden kann. Alles alles Gute für Euch.

    LG
    gerchla

  • Mir fällt da noch was ein:

    "Nein" sagen können ist eine der zentralen Fähigkeiten eines trockenen Alkoholikers, und diese Fähigkeit lässt sich auch auf verwandtschaftliche Zumutungen anwenden.
    Und genau so wenig, wie ich mir jedes Problem der Verwandschaft zu meinem eigenen mache, erwarte ich von anderen, das die sich meine Probleme zu ihrem machen. Will sagen, wenn mich einer nicht versteht, dann ist das kein wirkliches Problem. Vielleicht ein bisschen lästig, aber ansonsten ein Luxusproblem.

  • Hallo ihr Lieben,

    ich bin echt überwältigt von der Resonanz, und versuche, der Reihe nach zu antworten.

    Liebe Betty,

    den Themen meiner Kinder möchte ich hier keinen zu großen Raum geben, denn ADS uns Asperger sind hier einfach fachfremd.

    So kurz wie möglich (und dennoch länglich): ich verstehe sehr gut, warum Außenstehende diese beiden Krankheiten kaum oder gar nicht verstehen können. Ich habe selbst etwa zwei Jahre gebraucht, Erfahrungen mit anderen Eltern ausgetauscht, mit Ärzten und Psychologen gesprochen, Literatur (und darunter findet sich so mancher hanebüchener, populärwissenschaftlicher Schund, mit dem man am besten den Kaminofen anheizt) und bergeweise Fachliteratur gewälzt, bis ich verstanden habe, wie diese Syndrome funktionieren, so weit das möglich ist. In den Geist rein sehen, kann man je letztendlich nicht - es existieren nur Modelle, die sich daran messen lassen müssen, wie gut sie die Wirklichkeit abbilden, anhand ihrer Unzulänglichkeiten; letztendlich basiert jegliche Wissenschaft auf diesem Prinzip. Und die heute existierenden Modelle beschreiben in diesem Fall die Wirklichkeit sogar außerordentlich gut. Sie sind lediglich ohne fachlichen Hintergrund nicht ganz einfach zu verstehen.

    Ich könnte hier ganze Seiten nur mit dem Thema füllen, das möchte ich Euch ersparen. "Nur" so viel:

    Das, was man als ADHS vom Hörensagen kennt (herumwütende Kinder, die sich aufführen wie der Rotz am Stecken), hat wenig bis nichts mit der Realität zu tun. Hyperaktivität ist das, was ggf. am störendsten ins Auge fällt - aber die ist lediglich ein Symptom, das auftreten kann, aber nicht muss, und dabei eher eines der harmlosesten darstellt. Bereits da ist man sicher geneigt zu sagen: was für ein hanebüchener Unsinn. Ist aber so, und mit entsprechendem Wissen einfach nachvollziehbar. Auch ein Asperger-Syndrom, das zum Autismus-Spektrum zählt darf man nicht mit Rainman verwechseln (toller Film - hat aber mit Asperger nicht das geringste zu tun, und zeigt auch nicht den "typischen" Autisten, denn den gibt es so nicht).

    Die Verhaltensanomalien meiner Kindern sind relativ subtiler Natur (und sie unterscheiden sich in jedem Einzelfall, was das Verständnis dafür nicht leichter macht). Würdest Du sie einen Besuch lang vor Dir haben, würdest Du wahrscheinlich sagen: bei denen passt doch alles, sie sind höflich, pfiffig, kreativ, drücken sich sprachlich recht gewählt aus, manchmal regelrecht erwachsen anmutend - was möchte man da denn bitte pathologisieren? Die öffentliche Meinung über die "Pharma-Mafia" tut ihr übriges - genau das war über lange Zeit auch mein Standpunkt, und ich habe mich schlicht und ergreifend geweigert, meinen Standpunkt auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.

    Bis ich endlich angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, hatte unser Ältester größte Probleme, die bereits im Kindergarten anfingen (abweichendes Spielverhalten), und bereits in der Grundschuleschule in eine Depression mündeten. Viele seltsame Phänomene, z.B. neue, aufgenommene Informationen, die erst mal "weg" waren, und erst Tage später ins Bewusstsein durchgesickert sind. Bei hohem IQ. Manchmal konnte er nicht sagen, was am Vortag passiert war - die Erinnerung kam dann erst Tage verzögert. Das ist längst nicht alles, aber anhand dessen, wie wir für gewöhnlich uns selbst und andere Menschen wahrnehmen völlig unerklärbar. Und so verfällt man auf die noch plausibelsten Erklärungen: das Kind macht das absichtlich, wurde schlecht erzogen, etc. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit einer Lehrkraft in der 1. Klasse erinnern: "er wirkt abwesend, schaut dauernd in der Gegend herum, sein Tisch ist ein einziges Chaos, bei jedem kleinen Geräusch von draußen schaut er aus dem Fenster heraus. Und wenn ich ihn dann aufrufe, und etwas zum Unterricht frage, dann weiß er die Antwort!". Die Lehrkraft konnte das einfach nicht mit ihrem Weltbild vereinbaren. Sie hat regelrecht geschäumt vor Verunsicherung, und ihn bald darauf einzeln ganz nach hinten an die Wand gesetzt, damit sie ihn "nicht mehr sehen muss" (so hat sie uns das direkt ins Gesicht gesagt). Man glaubt nicht, wie sehr es Menschen irritiert, wenn jemand vom Standard abweicht. Für die Mitschüler war das eine Feuer frei-Signal. Sie haben auf ihm herumgehackt, und die Schule hat nichts getan, schließlich war er ja selbst schuld (so die Schule).
    Gegen das Umfeld, dem das Kind täglich ausgesetzt ist, kann man nichts tun, wenn das Umfeld nicht dazu bereit ist. Das ist sehr bitter. Tagtäglich ein Eimer Dreck, der über einem ausgeschüttet wird, während du zusehen musst, wie es deinem Kind immer schlechter geht. Irgendwann traust du dich nicht mehr unter die Leute, weil du die Blicke auf Dir fühlst, die dir die Schuld zuschreiben - natürlich ohne mal mit dir darüber zu reden.

    Man kann den zugrunde liegenden Mechanismus vielleicht (vereinfacht) so zusammen: die eingehenden Informationen werden nicht wie bei neurotypischen Menschen automatisch bewertet und vorsortiert, das alles muss das Bewusstsein übernehmen - daher z.B. der Blick aus dem Fenster beim kleinsten Geräusch, den ein Normalo gar nicht wahrnehmen/automatisch ausfiltern würde. Der Betroffene versinkt im Chaos all dieser Eindrücke, die auf ihn ungedämpft einprasseln. Bis zu einem gewissen Punkt kann der Verstand das kompensieren, früher oder später - die Schule und auch das ganz normale Leben verlangt immer mehr - kommt es dann ggf. zu einer Dekompensation. Der Betroffene kann einfach nicht mehr, er bekommt Druck und Spott von seinem Umfeld. Seine Möglichkeiten sind Flucht ohne echte Rückzugsmöglichkeit (-> Depression) oder Angriff (das sind die Kinder, die dann scheinbar grundlos herumwüten).

    Asperger hat damit ca. 70% Symptomüberdeckung. Es kommen lediglich ein paar Dinge hinzu - bei meinem anderen Kind z.B. die Eigenart, Metaphern wörtlich zu nehmen. Die Metapher "Geld zum Fenster herauswerfen" wird beispielsweise nicht intuitiv interpretiert, sondern führt zur Frage, weshalb man denn Geld (wörtlich) beim Fenster herauswerfen sollte. Solche Dinge müssen hier - soweit möglich - aktiv über den Verstand erlernt werden. Die Gutenachtgeschichte ist bei unserem Aspi immer eine Mixtur zwischen vorlesen und erklären, und das funktioniert inzwischen sehr gut. Er ist inzwischen in der Lage, das so erlernte auch sicher anzuwenden. Ohne Medikation war irgendwann nicht mal vorlesen möglich. Gleichzeitig bekommst du reingedrückt, du würdest dich offensichtlich nicht um dein Kind kümmern - während du alle Energie genau dort reinsteckst, nur eben vergebens. Das ist wahnsinnig anstrengend.
    Ich für meinen Teil habe Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen. Wenn ich jemanden längere Zeit nicht sehe, erkenne ich ihn nicht, und ich kann nichts dagegen tun. Ich habe gelernt, wie ich das kompensiere und überspiele, damit ich nicht als unhöflich wahrgenommen werde. Dafür stehen mir andere Möglichkeiten offen, die vielen Menschen verschlossen bleiben, die mir sehr abstraktes und kreatives Denken ermöglichen. Ein Deal, den ich zwar nicht selbst getätigt habe, aber mit dem ich sehr gut leben kann, gerade in meinem Job, in dem ich all das einsetzen kann und darin aufgehe.

    Einige Fachleute vermuten, dass AD(H)S/Asperger/Autismus enge Verwandte, oder gar identisch sind. Wer sich für das Thema interessiert, den möchte ich auf die Artikel unter http://www.helga-simchen.info verweisen (ich hoffe, es ist OK, wenn ich hier einen Link setze, meines Wissens wird dort nichts beworben oder verkauft), die mein Einstieg in das Thema waren. Die Medikation ist hier eine große Hilfe, keine Lösung - sie ermöglicht dem Betroffenen, Strategien fürs Leben zu entwickeln, an dem er sonst zerbricht. Und nicht die einzige, wie das gerne in der Öffentlichkeit vermutet wird. Auch geht man nicht zum Arzt, und der verschriebt dann einfach bunte Pillen. Eine seriöse Diagnostik zieht sich über Wochen und Monate.

    Das ganze ist auch nichts neues, was heute vermehrt auftritt. Als Analogie: auch früher sind Menschen an Krebs erkrankt, man wusste lediglich nicht, was Krebs ist. Als die Medizin so weit war, stiegen die Krebsdiagnosen, nicht aber die Krebserkrankungen. Geändert hat sich vielleicht: früher ließ man Kindern eher noch durchgehen, dass sie etwas "anders" sind. Heute legen wir zwar großen Wert auf SchülerInnen und Schüler zur Wahrung der PC - die Akzeptanz für Abweichungen ist in meinen Augen aber eher gesunken. In meiner Laufbahn hatte ich "nur" zwei Jahre lang einen Lehrer, der mich gequält hat. Fast täglich während dieser Zeit Strafarbeiten und Bloßstellungen vor der Klasse. Ich hatte das Glück, ein sehr guter Schüler gewesen zu sein, sonst wäre ich wahrscheinlich irgendwann "aussortiert" worden. Früher wurden Betroffene in die Schublade "dumm" gesteckt, ggf. durch körperliche Gewalt konditioniert, damit war die Sache erledigt. Besser war das aber auf keinen Fall!

    Wir haben alles mögliche ausprobiert, angefangen von der Ernährung, über Vitaminpräparate, Omega-3 Fettsäuren, Thyroxin, Globuli, und Heilsteine wollte man uns auch noch aufdrängen. Geholfen hat nichts davon, nicht mal ansatzweise. Könnte ich heute die Zeit zurückdrehen, würde ich wesentlich früher wirksame Medikamente einsetzen. Das stellt definitiv ein massiver Eingriff in den Hirnstoffwechsel das - aber die Folgen, wenn man das nicht tut, sind wesentlich verheerender. Eine kaputte Kindheit kann man nicht nachholen, und auch nie wieder rückgängig machen.

    Uff, und jetzt habe ich wieder mal einen Roman produziert. Dabei möchte ich es an dieser Stelle aber auch belassen. Wer Fragen, vielleicht eigene Kinder mit entsprechendem Verdacht hat - bitte jederzeit per privater Nachricht, ich helfe gerne wo ich nur kann.

    Für mein aktuelles Thema Alkoholismus soll einfach stehen bleiben: wir waren über Jahre einer massiven Belastung ausgesetzt. Diese Belastung ist inzwischen nur noch relativ gering (der Therapie sei dank), aber wir haben Narben davongetragen, einige davon sind recht tief. Ich glaube, dass das meine Frau in ihre Misere getrieben hat, ob als Hauptursache oder eine Ursache unter mehreren. Darüber muss ich nochmal nachdenken.

    ---

    Ja, die Schwiegereltern... vielleicht habe ich mich mit dem Alter etwas missverständlich ausgedrückt. Natürlich wäre es schön, wenn die nie auf Hilfe angewiesen wären. Aber ich kann ja nichts an deren Gesundheitszustand, schon gar nichts an deren Vergangenheit ändern. Es ist kein bestimmtes Alter; doch wenn man sich aber nur noch mit Gehhilfe bewegen kann - und so ist der Ist-Stand heute - dann fällt die Hausarbeit schwer. Es wird der Tag kommen, an dem wir einspringen müssen, da beißt die Maus leider keinen Faden ab. Beide sind nicht gesund. Das ist in unserem Fall eher eine Frage von Monaten als von Jahren, und es wird an meiner Frau hängen bleiben, sie ist die einzige in Reichweite.

    Was Du bzgl. Deinem Vater schreibst: so ähnlich ist meiner auch ;D. Dinge, die man nicht mit dem Willen erledigen kann, gibt es nicht - und wenn man dazu mit dem Kopf durch die Wand muss, und in seinem Leben war das zweifelsfrei ein Erfolgsrezept. Er hatte große Probleme, die Sache mit den Kindern zu verstehen, und kann bis heute eine gewisse Skepsis nicht verbergen, obwohl er die Erfolge sieht. Er weiß vom Problem meiner Frau, es ist nicht so, dass ich nicht mit ihm reden könnte, ihm verdanke ich, dass ich heute der bin, der ich bin, er hat mich immer aufgefangen. Selten ohne heftiges Donnerwetter, das ist seine Natur - aber er hat mich aufgefangen. Ich weiß, dass ich "zuhause" einen sicheren Hafen finde, wenn alle Stricke reißen. Aber auf dem Weg aus der Misere kommen nur Ratschläge wie "das muss man doch kapieren, dass Alkohol nichts hilft!". Das hilft leider niemandem weiter, und ich kann ihn ja nicht irgendwie "umkrempeln", so dass er ein Verständnis entwickelt.

    Die Schwiegereltern spüren sogar ganz sicher, dass etwas nicht stimmt. Aber sie vermeiden unangenehme Themen, selbst wenn man selbst die Initiative ergreift. Sie schweigen so etwas tot, und speilen lieber den Clown: alles lustig, trallala. Sehr frustrierend... Die restliche noch lebende Verwandtschaft kann man hier komplett in der Pfeife rauchen; die ist gut dazu, wenn man möchte, dass sich Geschnatter möglichst schnell und weit verbreitet. Gute Freunde können wir an den Fingern abzählen, und auch da gibt es Grenzen, wie weit man jemandem seine ganz privaten Sorgen anvertraut, bzw. der andere bereit ist, sich das anzuhören. Im Laufe der letzten Jahre haben wir diverse Schönwetterfreunde eingebüßt, was ernüchternd, aber an sich kein relevanter Schaden war. Ich hätte so gerne jemandem, dem ich einfach alles erzählen könnte, am liebsten die Eltern. Aber: ist halt nicht.

    Bitte mach Dir keine Sorgen, dass Du mich irgendwie verletzen könntest - ich schätze Offenheit, und die manchmal "schnoddrige", aber ehrliche Art des Nordens (wenn ich nichts durcheinanderbringe, kommst Du ja aus der Himmelsrichtung?) ;)

    LG
    P.


  • Es wird der Tag kommen, an dem wir einspringen müssen, da beißt die Maus leider keinen Faden ab.

    nur mal zur Info: mit "Müssen" hat das nichts zu tun. Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, sich um erwachsene Angehörige zu kümmern.
    Zufälligerweise weiss ich das ganz genau, weil mein Vater lange Zeit jede Hilfe verweigert hat, als er schon nicht mehr laufen konnte und nur noch ein Häufchen Elend war, schmiss er noch immer jeden raus, der ihm helfen wollte, und ich mich erkundigt habe, wo da eigentlich unterlassene Hilfeleistung anfängt. Nirgends. Man macht es alles freiwilig und in jedem Fall aufgrund eigener Entscheidung, weil man das will, oder sich moralisch verpflichtet fühlt. Das ist aber etwas Anderes als "müssen".

  • Das war jetzt sehr nett und hat mir geholfen. Ich hab nicht gerne Vorurteile, aber ich bin dankbar für jede Erklärung. Das hilft mir.

    Ich kann jetzt nur für euch hoffen, dass ihr einen Weg findet. Deiner Frau ginge es besser und allen Beteiligten auch. Das Leben ist eben nicht immer einfach und dann macht man Dinge, die einem nicht helfen.

    Ich habe nach dem Unfalltod meines Mannes, zurück geblieben mit unserer 9jährifen Tochter, viel zu oft zu viel getrunken. Ich wusste, dass es mir nicht hilft, aber es war trotzdem so. Sie ist heute die, die ganz stolz auf mich ist. Wir hatten eine wunderbare Beziehung, dann Komplikationsphase wegen Alkohol, heute wieder wunderbar. Sehr schön. Es hat sich gelohnt, mit dem Alkohol aufzuhören. Also - alles Gute.
    Grüße aus dem kalten Norden von Betty

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

  • Hallo Susanne,

    Drohungen mit Konsequenzen habe ich mir lange verkniffen. In der Vergangenheit habe ich so etwas angedeutet, aber erst mit dem Absturz neulich sehr klar auf den Tisch gebracht. Ich bin Realist, und weiß, dass es keinen Sinn hat, so weiter zu machen. Das hat meine Frau sicherlich verletzt, aber es wäre die einzig mögliche Konsequenz, die ich auch ergreifen müsste und ggf. ergreifen werde, auch wenn ich das nicht möchte. Ich hoffe, keinen Fehler gemacht zu haben, und glaube, dass das notwendig war. Die letzten Monate gab es immer eine unausgesprochene Spannung zwischen uns, die ist jetzt weg, und der Kreis von Heimlichkeit, schlechtem Gewissen, Wut auf sich selbst und die Welt und Misstrauen ist aufgebrochen. Sie hat mir das so beschrieben. Das würde ich auch gern so beibehalten.

    Sie ist jetzt an dem Punkt, an dem sie die Schnauze vom Alkohol voll hat. Er hat ja nichts besser gemacht, sondern viele neue Probleme verursacht (und wieder verbuche ich gerade 24h mehr ohne Alkohol, und ich bin stolz auf sie). Sie steckt das wirklich gut weg, ganz einfach ist es sicher trotzdem nicht.
    Und abstinent bleiben ist eine Herausforderung, weil nicht mit einer einzelnen Handlung, sondern mit einer dauerhaften Nicht-Handlung verbunden.
    Wir sind beide Raucher, und hatten vor vielen Jahren gemeinsam damit aufgehört. Nach 1-2 Wochen schlechter Laune war das Thema vermeintlich erledigt. Jahre später saßen wir im Urlaub gemeinsam am Strand, und haben "nur" die eine Schachtel geraucht, weil das gerade so schön war. Naja, rate mal...
    Obwohl Nikotin noch nicht mal eine Wirkung hat, die Ärger auch nur im Ansatz betäuben würde.

    Klar kommen sollte inzwischen wesentlich einfacher geworden sein als noch vor ein paar Jahren. Der Jüngere hat praktisch keine relevanten Problem (kann sich ggf. ändern, je nach zukünftigen Lehrkräften, bisher hatten wir großes Glück), der Ältere ist stabil und macht sich gut (mal sehen, was die Pubertät für Blüten treibt, bisher alles im grünen Bereich). Mit dem Freiraum wird es dennoch schwierig, denn das Hamsterrad ist damit natürlich nicht weg, es dreht sich nur wesentlich erträglicher. Die Kinder brauchen weiterhin Begleitung, und unsere Erwerbsarbeit ist auch noch da, die meine Frau zwar selbstbestimmt einteilen kann, aber die trotzdem anfällt. Und ihre Arbeit ist ihr wichtig, da rede ihr auf keines Falls rein. Eine Rollenverteilung im klassischen Sinne gibt es bei uns so nicht. Es hat schon jeder seine Bereiche, aber weit weg von einem "klassischen" Frau-am-Herd/Mann-als-Ernährer Modell. Für Hausarbeit bin ich mir nicht zu schade, und mit einer Bohrmaschine kann meine Frau ebenfalls umgehen, ohne ohnmächtig zu werden ;)

    Bis auf die Sache mit den Schwiegereltern... die sitzt mir im Nacken. Du hast schon recht, eine gesetzliche Verpflichtung existiert nicht, eine moralische aber durchaus. Wir haben auch kein "schlechtes" Verhältnis, ich unterstelle auch kein wirkliches Desinteresse. Die sind eben so, und waren schon immer so konfliktscheu. Woran das liegt, kann ich mir denken, deren Kindheit muss sehr traumatisierend gewesen sein. Es ist irgendwie nicht fair, jemanden dafür fallen zu lassen oder gar zu bestrafen, weil er etwas nicht bietet, ggf. aus irgendwelchen Gründen nicht zu bieten in der Lage ist, das ich mir dringend wünschen würde. Dennoch sehe ich, was da auf uns zurollt, und mache mir Sorgen um meine Frau. Die restliche Verwandtschaft - die ist mir ziemlich egal (die kleinen Stiche, die man abbekommt, treffen dennoch, trotz inzwischen relativ dickem Fell; es tut nicht wirklich weh, aber es wäre gelogen, wenn ich mich nicht trotzdem ärgern würde).

    Ich verstehe auch gut die Schwierigkeit zwischen gut meinen und gut machen. Und ich bin der Typ, der eine fixe Idee hat, und dann muss ich ran, ich renne dann regelrecht - meine Strategie, um die Dinge erledigt zu bekommen. Das wird sogar ganz bestimmt früher oder später ein Thema werden. Wie macht man's richtig? Ich denke, der erste Anlauf hat genau mit der Beratung hat aus genau diesem Grund nicht funktioniert, es war nicht ihre Entscheidung, sondern meine Initiative.
    Das wird noch eine Herausforderung, danke für diesen Hinweis. Und ich kann jeden Hinweis brauchen! Ich brauche diese Reflexion, denn mich selbst kenne ich ja, und weiß relativ gut, wie ich reagieren würde. Aber das muss nicht für meine Frau gelten. Und in so einer Lage waren wir noch nie zuvor.

    LG
    P.

  • Ich will mal noch was zu dem Thema Verwandschaft sagen.

    Bei mir war es "technisch bedingt" schon lange klar, das ich mich um meine Eltern praktisch nicht kümmern kann (und ich habe Schwiegereltern, die man so ähnlich beschreiben könnte wie Du Deine, bei uns ist das die Kriegsgeneration, 30er Jahrgänge).
    Jedenfalls, ich bin Einzelkind, und nach der Scheidung meiner Eltern lagen zwischen den einzelnen Bestandteilen einschliesslich mir jeweils mehrere hundert Kilometer, also wenn da beide gleichzeitig Pflegefall geworden wären, hätte ich das niemals stemmen können.

    Mein Vater lebte allein und liess lange kaum jemanden an sich ran, mich auch nicht. Egal wie, jedenfalls war irgendwann der Punkt überschritten, wo ich mich entschlossen habe, was zu machen, weil schon seine Nachbarn bei seinen Brüdern angerufen hatten und es so einfach nicht weitergehen konnte. Die Geschichte steht hier irgendwo, jedenfalls habe ich auch einen Pflegedienst organisiert, weil mein Vater unbedingt zu Hause bleiben wollte (ging nicht lange gut).

    Ein ganz wichtiger Punkt, den ich mir zu Herzen genommen habe, war, dass ich jede nur erdenkliche Hilfe von aussen annehmen sollte, weil das Angehörige wirklich unglaublich schlaucht, und ich mir sagen liess, dass es nicht lange dauern würde, bis ich auf dem Zahnfleisch daher komme. Und das völlig unabhängig davon, ob jemand auch noch mit einem Alkoholproblem unterwegs ist, ich war ja auch schon lange trocken und habe schon andere Schwierigkeiten überstanden. Trotzdem ist das eventuell ziemlich hart und da sollte man sich auch nichts vormachen.
    Meine Schwiegereltern, bzw meine Schwiegermutter, denn mein Schwiegervater ist bereits Pflegefall, "bearbeiten" ihre Kinder mit meiner Unterstützung dahingehend, das sie sich um so was wie betreutes Wohnen oder eine Vollzeit-Pflegekraft kümmern sollen, die mit einzieht. Auch da sind die räumlichen Entfernungen ziemlich groß. Ein schwieriges Thema, aber anders gehts halt auch nicht und Du kannst ja nicht so einfach drüber bestimmen. Jedenfalls solltet Ihr wohl alles tun, damit Deine Frau sich da nicht übernimmt.

  • Hallo Gerlcha,

    hm... aus welchem Grund hast Du Dich damals von der Familie getrennt? War da bereits so viel kaputt gegangen, dass es keine Chance mehr gab, die Scherben wieder zusammenzufügen, oder war es eher das Bedürfnis, nochmal von vorn anzufangen; vielleicht in der Art, das Setting loszulassen, in dem Du in die Abhängigkeit geraten bist?
    Ich habe diesen Punkt noch überhaupt nicht bedacht, sondern in erster Linie meine Optionen. Entsprechend könnte es auch so ähnlich kommen, dass meine Frau einen Schlussstrich zieht, um neu anzufangen. Mir wäre das trotzdem noch lieber, als wenn sie bei mir/bei uns kaputt ginge. Auch wenn ich nicht hoffe, dass das passieren wird (für mich wäre das eine Katastrophe, aber die dennoch die kleinere von beiden).

    Wie ist das mit der körperlichen Abhängigkeit genau? Du sagst, wenn die "noch keine Rolle spielt". Kann man das irgendwie konkret festmachen? Symptome wie Schweißausbrüche, Zittern etc., davon habe ich gelesen, die zeigt sie nicht. Die Mengen, die sie konsumiert hat, waren aber durchaus deftig, ich habe das mal überschlagen, und komme auf 1-2‰ allabendlich, meist ohne dass man ihr viel angemerkt hat. Nur wenn es ganz krass war, dann habe ich die verwaschene Sprache bemerkt, auch die Alkoholfahne. So blöd das auch klingen mag: letztere konnte ich lange nicht wirklich zuordnen, ich trinke selbst nur selten Alkohol, ich mag den Geschmack, aber nicht die Wirkung. Wie eine Bierfahne riecht, wusste ich. Aber eine Zeit saß ich dem Trugschluss auf, dass sie womöglich unter einem Stoffwechselerkrankung leidet. Die Luft im Schlafzimmer war ein Graus. Es roch süßlich, vergoren - ganz anders als Bier (davon wusste ich, und dachte, es sei "nur" Bier). Andere Symptome (Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Kopfschmerzen) hätten auch dazu gepasst, Wein und anderes hatte ich eigentlich ausgeschlossen, denn Leergut gab es scheinbar nicht - das war gut versteckt. In den Taschen, die ich weggebracht hatte, waren nur leere Wasser-, Limo- und Bierflaschen.
    Sie hat mich in auch in dem Glauben mit der Stoffwechselerkrankung gelassen, indem sie kein Wort über den Wein verloren hat - aber den trank sie täglich, und viel davon. Und sie hielt ausreichend Abstand von mir, damit ich nichts mitbekommen sollte. Wie das bei mir ankam, kann man sich wohl vorstellen. Ich hatte das auch immer wieder angesprochen, und sie wusste, wie ich das interpretierte, hat mir aber trotzdem nicht gesagt, was tatsächlich los ist.
    Zum Glück ist das jetzt geklärt. Auf der anderen Seite frage ich mich: wie schwer muss eine Sucht wiegen, dass man so etwas billigend in Kauf nimmt?

    Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob man von so einer Art "Schweregrad" sprechen kann, und ob sich das auf die Chancen auswirkt, davon weg zu kommen. Wie siehst Du das?

    Was die Ursachen angeht: ja, da müssen wir nochmal ran. Ich was bisher auf die Belastung fixiert, aber das muss ja nicht alles sein. Vielleicht bin ich da auch gar nicht der Richtige, um das herauszufinden, sondern ein Psychologe, oder auch ein anderer, Außenstehender. Ich glaube zwar nicht, dass ich eine Ursache bin, ich wüsste zumindest nicht, auf welche Weise - aber es muss ja nichts sein, was mir bewusst war. Oder es ist nichts davon. Dann muss erst recht geklärt werden, was schief gelaufen ist.
    In der Kindheit meiner Frau gab es, nach dem was ich weiß, kein bestimmtes Ereignis, das ihr besonders zugesetzt hätte. Sie war eine Außenseiterin, und es gibt ehemalige Mitschülerinnen, auf die sie noch heute noch nicht gut zu sprechen ist. Mobbing war da ein Thema, und die Art, wie im Elternhaus mit Problemen umgegangen wurde - nämlich: nicht, nur irgendwie übertünchen, bevor das noch jemand mitbekommt, was sollen denn die Leute sagen (allerdings war damals so eine Haltung zumindest in unserer Gegend allgemein verbreitet) - war sicher auch nicht der Weisheit letzter Schluss.
    Von daher ist der Weg zum Psychologen/anderem Fachmann unbedingt erforderlich. Ich weiß, dass man da den für sich passenden finden muss; ich habe selbst zwei Versuche unternommen, als es mir schlecht ging, ein mal komplett daneben gegriffen, mit dem zweiten ging es besser, aber auch der konnte mir nicht helfen.

    Deine Antwort hat mir sogar sehr geholfen, Gerlcha, vielen Dank dafür!

    LG
    P.

  • Moin,
    macht deine Frau grad einen kalten Entzug? Vorsicht. Ihr wisst Bescheid? Das kann gefährlich werden. Bitte sprecht mit eurem Arzt, wenn es so ist. Sie sollte sich nicht in Gefahr bringen.
    LG Betty

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

  • Susanne, auch hier sind die Schwiegereltern im Krieg aufgewachsen, meine Eltern stammen aus der Nachkriegsgeneration (und haben die Folgen indirekt abbekommen - und das nicht zu knapp).

    Der räumliche Abstand wäre noch machbar, auch wenn sich die Fahrtzeit auf der Strecke summiert. Hilfe wollen und fordern sie nicht, auch die von Fremden nur sehr ungern. Das wäre schon einige male fast ins Auge gegangen, aber wer gesteht sich schon gerne ein, dass er eigentlich nicht mehr kann, obwohl er noch immer möchte? Da fährt man lieber selbst (als Patient...) mit dem Auto ins Krankenhaus, als einen Fahrdienst zu bemühen, bzw. den Notarzt zu verständigen.

    Gelegentlich kommt der Pflegedienst, doch der kümmert sich nur um das allernotwendigste. Ich fürchte, es wären allein diverse Tage Arbeit, um einen ihrem Zustand gerechten Grundzustand herzustellen...
    Ich sehe das durchaus so, dass man das meiner Frau nicht zumuten kann. Schon gar nicht in nächster Zeit. Wir werden uns also wohl oder übel zusammensetzen müssen (samt Geschwister), das wir ein Spaß... :wall:


    Betty, ja, das ist ein kalter Entzug.

    Ich hätte weder damit gerechnet, dass sie das macht, noch in irgend einer Hinsicht darauf gedrängt. Sie hat das so beschlossen und tatsächlich durchgezogen (sie weiß, was sie tut, und hat sich vorher schlau gemacht - das ist meine Frau, und deshalb gebe ich sie freiwillig auch garantiert nicht mehr her :) )

    Arzt geht leider erst wieder ab kommender Woche. Aber sie steckt es erstaunlich gut weg, ohne sichtbare Symptome. Ich bin zuhause, habe immer ein Auge darauf, und würde ggf. umgehend den Notarzt rufen, wenn irgend etwas wäre. Heute sind wir bei Tag fünf, soweit ich weiß, sollte damit die Gefahr weitgehend gebannt sein...

    LG
    P.

  • Hallo P.,

    so viele gute Antworten :) Da versuche ich, mich kurz zu halten. Auch weil ich für mich die mögliche Suchtverlagerung "Internet" im Auge habe.

    Ich schrieb ja, meine Tochter hat auch eine Diagnose. Es ist eine psychische, die ich ungenannt lassen möchte. Ich habe selbst auch eine, aber nicht die Gleiche.

    So war es in unserer Familie bald klar, wir (meine Tochter und ich) waren im besten Fall "die Verrückten", meist aber "die schwarzen Schafe" - und zwar, damit der Rest der Familie besser weiß bleiben konnte (hat was mit Herdenverhalten zu tun).

    Dazu kam (als ich mir meiner selbst therapeutisch sicherer wurde) dass ich anfing, "die Elefanten" die bei uns auf Familienfesten im Raum standen, als Elefanten zu bezeichnen. Das störte massiv das unter den Teppich kehren der anderen. Ein Beispiel: Ich sagte zu meiner großen Schwester, dass ich ihr am besten gefalle, wenn ich krank bin, denn sie hat offensichtlich ein Helfersyndrom. Längere Geschichte, war aber abgesprochen mit meiner Therapeutin.

    Mein Fazit: Irgendwann wurde es immer klarer, dass meine Familie "nicht funktionierte" und ich besser ohne sie lebe. Das war ein Prozess über fast zwei Jahrzehnte.

    Und gekämpft habe ich um mein "schwarzes Schäfchen" meine Tochter. Wir sind heute noch (wieder) unsere Lieblingsmenschen, obwohl jede ihr eigenes Ding macht. Sie ist ja auch mittlerweile 32.

    Das kann bei euch ganz anders laufen. Tatsächlich aber meine Empfehlung an dich: Sorge für dich und deine Kinder. Deine Frau schafft es allein oder auch nicht. Sorry für die harten Worte. Vielleicht schaffst du es in eine Angehörigengruppe, du kannst wenn du willst, dort mal nach "Leidensverlängerung" fragen.

    Ich drücke euch wirklich ganz ganz fest die Daumen...

  • Guten Morgen ichso,

    die Sache mit den schwarzen Schafen, um sich selbst weißer zu fühlen, kann ich, wenn ich Dich richtig interpretiere, nachvollziehen. Das zieht sich auch in vielerlei anderer Hinsicht durch die Gesellschaft, und ist eng verbunden mit dem Prinzip: nach oben buckeln, nach unten treten. Menschen definieren ihren Stand, wenn man so will: ihre Überlegenheit gerne an der Unterlegenheit anderer - oft auch, indem sie dafür sorgen, dass andere gefälligst dort unten bleiben, wo sie sind, oder wo man sie gerne hätte. Das ist einfacher, als sich selbst zu bemühen, tatsächlich nach oben zu kommen.

    Bei der Sache mit den Elefanten und Deiner großen Schwester habe ich etwas Schwierigkeiten, da fehlen mir die Hintergründe, so dass das etwas kryptisch auf mich wirkt.

    Leidensverlängerung - ja, darüber habe ich mir die letzten Monate den Kopf zerbrochen. Ich bin jetzt an dem Punkt, an dem ich beschlossen habe, dass genau das nicht mehr stattfinden wird. Ich scheue keinerlei Mühen, um ein Ziel zu erreichen - das ist ein allgemeines Credo, anders kann ich gar nicht. Aber dabei ist nicht der Weg, schon gar nicht der Leidensweg das Ziel, sondern: das Ziel. Alles andere hat in diesem Fall keinen Sinn, damit wäre weder mir geholfen, noch meinen Kindern, noch meiner Frau.

    Wie gesagt: ich bin Realist, ein ausgeprägter Kopfmensch. Ich verlaufe mich selten in Illusionen; wenn meine Prognosen nicht eintreffen, dann in erster Linie, weil sich die Umstände im Verlauf ändern, oder weil mir Informationen fehlen. Gelegentlich werde ich als Schwarzmaler wahrgenommen, nicht weil ich ständig den Teufel an die Wand malen würde, sondern mir die Dinge möglichst rational ansehe, auch wenn mir (und anderen) das Ergebnis nicht gefällt. Meistens behalte ich in solchen Fällen damit (leider) auch recht. Glücklicherweise gilt das ebenfalls für Positivprognosen ;). Ich bin aktuell ganz guter Dinge.

    Wir haben gestern noch lange und intensiv geredet. Mir geht es heute tatsächlich "gut" - das konnte ich schon recht lange nicht mehr behaupten. Und ich sehe, dass die Chance greifbar ist, dass wir das stemmen können, ohne dass das ganze zu einem sinnlosen, vergeblichen Kraftakt wird. Einen Plan B werde ich dabei aber sicher nicht aus den Augen verlieren - das wäre sträflich. Aber kampflos gebe ich nicht auf; die Kunst ist, zu erkennen, ob man gegen Windmühlen kämpft, oder gegen bezwingbares Übel, und sich ersteres ggf. eingesteht, wenn dem so ist. Ich hoffe, dass ich da einen objektiven Blick behalte.

    ---

    Als erstes müssen jetzt die Alkoholvorräte weg. Ich brauche sie nicht, für sie sind sie eine gefährliche Versuchung, und ich kann es auch schlecht liefern, in nächster Zeit in ihrer Gegenwart ein Bier zu trinken. Also wird das erst mal weggesperrt (wir sind beide so erzogen, dass man nichts vergeudet - in vielerlei Hinsicht etwas, dem wir verdanken, was wir uns in unserem Leben aufbauen konnten; ganz wohl ist mir in diesem Fall aber nicht damit).

    Nächste Woche Termin beim Hausarzt machen. Ich habe angeboten, mitzukommen, wenn sie das möchte, bzw. wenn das für sie in Ordnung ist.

    Bei einer Suchtklinik in der Nähe habe ich gerade Vorabinfo eingeholt, wie so eine Reha prinzipiell ablaufen würde. Die wohl größte Hürde wird die Vereinbarkeit von Aufenthaltsdauer mit der Arbeit (selbstständige Tätigkeit - für zwei Monate komplett ausklinken ist eigentlich nicht drin), den Rest (Haushalt, Kinder etc.) bekomme ich schon allein gebacken. Dass die Maßnahme zeitnah angegangen werden sollte, hat man mir dort nahegelegt. Aktuell sucht meine Frau Ablenkung, um nicht Gefahr zu laufen, dass ihre Gedanken sich um den Alkohol drehen. Dabei dürfte so eine Maßnahme sicher hilfreich sein, Therapiesitzungen inklusive.

    Was meint ihr, drücke ich da gerade zu sehr auf Gaspedal, oder würdet ihr das, beträfe es Euch, als hilfreich empfinden?

  • Moin P.

    Zitat

    Was meint ihr, drücke ich da gerade zu sehr auf Gaspedal, oder würdet ihr das, beträfe es Euch, als hilfreich empfinden?

    es ist dir hoch anzurechnen, dass du den Weg mit deiner Frau gehen willst. Es ist eine Entscheidung, einen Start in ein neues Leben zu gehen. ABER... es müsste die Entscheidung deiner Frau sein. Sie sollte Gas geben. Es kann immer nur der die Entscheidungen treffen, den es betrifft. Sie trinkt. Sie will nicht mehr trinken. Es muss von ihr aus kommen. Wenn du jetzt alles in die Hand nimmst, dann nimmst du ihr die Entscheidungen ab. Keine gute Idee.

    Vorräte wegschließen? Ich kann das verstehen, denn auch ich komme aus dieser Gegenration des nicht Wegwerfens. Ich halte das grundsätzlich auch für gut. Beim Alkohol in dem Fall??? Eher nicht. Die Gedanken könnten sich dann doch schnell um den Alkoholvorrat drehen. Vielleicht einfach verschenken?

    Gutes Gelingen.

    Gruß Betty

    Auf dem Weg zu mir lerne ich mich immer besser kennen. <br />Ich habe Freundschaft mit mir geschlossen und freue mich, dass ich mir begegnet bin.<br /><br />Ich bin lieber ein Original als eine herzlose Kopie.

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