Hallo ihr Lieben,
ich bin echt überwältigt von der Resonanz, und versuche, der Reihe nach zu antworten.
Liebe Betty,
den Themen meiner Kinder möchte ich hier keinen zu großen Raum geben, denn ADS uns Asperger sind hier einfach fachfremd.
So kurz wie möglich (und dennoch länglich): ich verstehe sehr gut, warum Außenstehende diese beiden Krankheiten kaum oder gar nicht verstehen können. Ich habe selbst etwa zwei Jahre gebraucht, Erfahrungen mit anderen Eltern ausgetauscht, mit Ärzten und Psychologen gesprochen, Literatur (und darunter findet sich so mancher hanebüchener, populärwissenschaftlicher Schund, mit dem man am besten den Kaminofen anheizt) und bergeweise Fachliteratur gewälzt, bis ich verstanden habe, wie diese Syndrome funktionieren, so weit das möglich ist. In den Geist rein sehen, kann man je letztendlich nicht - es existieren nur Modelle, die sich daran messen lassen müssen, wie gut sie die Wirklichkeit abbilden, anhand ihrer Unzulänglichkeiten; letztendlich basiert jegliche Wissenschaft auf diesem Prinzip. Und die heute existierenden Modelle beschreiben in diesem Fall die Wirklichkeit sogar außerordentlich gut. Sie sind lediglich ohne fachlichen Hintergrund nicht ganz einfach zu verstehen.
Ich könnte hier ganze Seiten nur mit dem Thema füllen, das möchte ich Euch ersparen. "Nur" so viel:
Das, was man als ADHS vom Hörensagen kennt (herumwütende Kinder, die sich aufführen wie der Rotz am Stecken), hat wenig bis nichts mit der Realität zu tun. Hyperaktivität ist das, was ggf. am störendsten ins Auge fällt - aber die ist lediglich ein Symptom, das auftreten kann, aber nicht muss, und dabei eher eines der harmlosesten darstellt. Bereits da ist man sicher geneigt zu sagen: was für ein hanebüchener Unsinn. Ist aber so, und mit entsprechendem Wissen einfach nachvollziehbar. Auch ein Asperger-Syndrom, das zum Autismus-Spektrum zählt darf man nicht mit Rainman verwechseln (toller Film - hat aber mit Asperger nicht das geringste zu tun, und zeigt auch nicht den "typischen" Autisten, denn den gibt es so nicht).
Die Verhaltensanomalien meiner Kindern sind relativ subtiler Natur (und sie unterscheiden sich in jedem Einzelfall, was das Verständnis dafür nicht leichter macht). Würdest Du sie einen Besuch lang vor Dir haben, würdest Du wahrscheinlich sagen: bei denen passt doch alles, sie sind höflich, pfiffig, kreativ, drücken sich sprachlich recht gewählt aus, manchmal regelrecht erwachsen anmutend - was möchte man da denn bitte pathologisieren? Die öffentliche Meinung über die "Pharma-Mafia" tut ihr übriges - genau das war über lange Zeit auch mein Standpunkt, und ich habe mich schlicht und ergreifend geweigert, meinen Standpunkt auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.
Bis ich endlich angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, hatte unser Ältester größte Probleme, die bereits im Kindergarten anfingen (abweichendes Spielverhalten), und bereits in der Grundschuleschule in eine Depression mündeten. Viele seltsame Phänomene, z.B. neue, aufgenommene Informationen, die erst mal "weg" waren, und erst Tage später ins Bewusstsein durchgesickert sind. Bei hohem IQ. Manchmal konnte er nicht sagen, was am Vortag passiert war - die Erinnerung kam dann erst Tage verzögert. Das ist längst nicht alles, aber anhand dessen, wie wir für gewöhnlich uns selbst und andere Menschen wahrnehmen völlig unerklärbar. Und so verfällt man auf die noch plausibelsten Erklärungen: das Kind macht das absichtlich, wurde schlecht erzogen, etc. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit einer Lehrkraft in der 1. Klasse erinnern: "er wirkt abwesend, schaut dauernd in der Gegend herum, sein Tisch ist ein einziges Chaos, bei jedem kleinen Geräusch von draußen schaut er aus dem Fenster heraus. Und wenn ich ihn dann aufrufe, und etwas zum Unterricht frage, dann weiß er die Antwort!". Die Lehrkraft konnte das einfach nicht mit ihrem Weltbild vereinbaren. Sie hat regelrecht geschäumt vor Verunsicherung, und ihn bald darauf einzeln ganz nach hinten an die Wand gesetzt, damit sie ihn "nicht mehr sehen muss" (so hat sie uns das direkt ins Gesicht gesagt). Man glaubt nicht, wie sehr es Menschen irritiert, wenn jemand vom Standard abweicht. Für die Mitschüler war das eine Feuer frei-Signal. Sie haben auf ihm herumgehackt, und die Schule hat nichts getan, schließlich war er ja selbst schuld (so die Schule).
Gegen das Umfeld, dem das Kind täglich ausgesetzt ist, kann man nichts tun, wenn das Umfeld nicht dazu bereit ist. Das ist sehr bitter. Tagtäglich ein Eimer Dreck, der über einem ausgeschüttet wird, während du zusehen musst, wie es deinem Kind immer schlechter geht. Irgendwann traust du dich nicht mehr unter die Leute, weil du die Blicke auf Dir fühlst, die dir die Schuld zuschreiben - natürlich ohne mal mit dir darüber zu reden.
Man kann den zugrunde liegenden Mechanismus vielleicht (vereinfacht) so zusammen: die eingehenden Informationen werden nicht wie bei neurotypischen Menschen automatisch bewertet und vorsortiert, das alles muss das Bewusstsein übernehmen - daher z.B. der Blick aus dem Fenster beim kleinsten Geräusch, den ein Normalo gar nicht wahrnehmen/automatisch ausfiltern würde. Der Betroffene versinkt im Chaos all dieser Eindrücke, die auf ihn ungedämpft einprasseln. Bis zu einem gewissen Punkt kann der Verstand das kompensieren, früher oder später - die Schule und auch das ganz normale Leben verlangt immer mehr - kommt es dann ggf. zu einer Dekompensation. Der Betroffene kann einfach nicht mehr, er bekommt Druck und Spott von seinem Umfeld. Seine Möglichkeiten sind Flucht ohne echte Rückzugsmöglichkeit (-> Depression) oder Angriff (das sind die Kinder, die dann scheinbar grundlos herumwüten).
Asperger hat damit ca. 70% Symptomüberdeckung. Es kommen lediglich ein paar Dinge hinzu - bei meinem anderen Kind z.B. die Eigenart, Metaphern wörtlich zu nehmen. Die Metapher "Geld zum Fenster herauswerfen" wird beispielsweise nicht intuitiv interpretiert, sondern führt zur Frage, weshalb man denn Geld (wörtlich) beim Fenster herauswerfen sollte. Solche Dinge müssen hier - soweit möglich - aktiv über den Verstand erlernt werden. Die Gutenachtgeschichte ist bei unserem Aspi immer eine Mixtur zwischen vorlesen und erklären, und das funktioniert inzwischen sehr gut. Er ist inzwischen in der Lage, das so erlernte auch sicher anzuwenden. Ohne Medikation war irgendwann nicht mal vorlesen möglich. Gleichzeitig bekommst du reingedrückt, du würdest dich offensichtlich nicht um dein Kind kümmern - während du alle Energie genau dort reinsteckst, nur eben vergebens. Das ist wahnsinnig anstrengend.
Ich für meinen Teil habe Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen. Wenn ich jemanden längere Zeit nicht sehe, erkenne ich ihn nicht, und ich kann nichts dagegen tun. Ich habe gelernt, wie ich das kompensiere und überspiele, damit ich nicht als unhöflich wahrgenommen werde. Dafür stehen mir andere Möglichkeiten offen, die vielen Menschen verschlossen bleiben, die mir sehr abstraktes und kreatives Denken ermöglichen. Ein Deal, den ich zwar nicht selbst getätigt habe, aber mit dem ich sehr gut leben kann, gerade in meinem Job, in dem ich all das einsetzen kann und darin aufgehe.
Einige Fachleute vermuten, dass AD(H)S/Asperger/Autismus enge Verwandte, oder gar identisch sind. Wer sich für das Thema interessiert, den möchte ich auf die Artikel unter http://www.helga-simchen.info verweisen (ich hoffe, es ist OK, wenn ich hier einen Link setze, meines Wissens wird dort nichts beworben oder verkauft), die mein Einstieg in das Thema waren. Die Medikation ist hier eine große Hilfe, keine Lösung - sie ermöglicht dem Betroffenen, Strategien fürs Leben zu entwickeln, an dem er sonst zerbricht. Und nicht die einzige, wie das gerne in der Öffentlichkeit vermutet wird. Auch geht man nicht zum Arzt, und der verschriebt dann einfach bunte Pillen. Eine seriöse Diagnostik zieht sich über Wochen und Monate.
Das ganze ist auch nichts neues, was heute vermehrt auftritt. Als Analogie: auch früher sind Menschen an Krebs erkrankt, man wusste lediglich nicht, was Krebs ist. Als die Medizin so weit war, stiegen die Krebsdiagnosen, nicht aber die Krebserkrankungen. Geändert hat sich vielleicht: früher ließ man Kindern eher noch durchgehen, dass sie etwas "anders" sind. Heute legen wir zwar großen Wert auf SchülerInnen und Schüler zur Wahrung der PC - die Akzeptanz für Abweichungen ist in meinen Augen aber eher gesunken. In meiner Laufbahn hatte ich "nur" zwei Jahre lang einen Lehrer, der mich gequält hat. Fast täglich während dieser Zeit Strafarbeiten und Bloßstellungen vor der Klasse. Ich hatte das Glück, ein sehr guter Schüler gewesen zu sein, sonst wäre ich wahrscheinlich irgendwann "aussortiert" worden. Früher wurden Betroffene in die Schublade "dumm" gesteckt, ggf. durch körperliche Gewalt konditioniert, damit war die Sache erledigt. Besser war das aber auf keinen Fall!
Wir haben alles mögliche ausprobiert, angefangen von der Ernährung, über Vitaminpräparate, Omega-3 Fettsäuren, Thyroxin, Globuli, und Heilsteine wollte man uns auch noch aufdrängen. Geholfen hat nichts davon, nicht mal ansatzweise. Könnte ich heute die Zeit zurückdrehen, würde ich wesentlich früher wirksame Medikamente einsetzen. Das stellt definitiv ein massiver Eingriff in den Hirnstoffwechsel das - aber die Folgen, wenn man das nicht tut, sind wesentlich verheerender. Eine kaputte Kindheit kann man nicht nachholen, und auch nie wieder rückgängig machen.
Uff, und jetzt habe ich wieder mal einen Roman produziert. Dabei möchte ich es an dieser Stelle aber auch belassen. Wer Fragen, vielleicht eigene Kinder mit entsprechendem Verdacht hat - bitte jederzeit per privater Nachricht, ich helfe gerne wo ich nur kann.
Für mein aktuelles Thema Alkoholismus soll einfach stehen bleiben: wir waren über Jahre einer massiven Belastung ausgesetzt. Diese Belastung ist inzwischen nur noch relativ gering (der Therapie sei dank), aber wir haben Narben davongetragen, einige davon sind recht tief. Ich glaube, dass das meine Frau in ihre Misere getrieben hat, ob als Hauptursache oder eine Ursache unter mehreren. Darüber muss ich nochmal nachdenken.
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Ja, die Schwiegereltern... vielleicht habe ich mich mit dem Alter etwas missverständlich ausgedrückt. Natürlich wäre es schön, wenn die nie auf Hilfe angewiesen wären. Aber ich kann ja nichts an deren Gesundheitszustand, schon gar nichts an deren Vergangenheit ändern. Es ist kein bestimmtes Alter; doch wenn man sich aber nur noch mit Gehhilfe bewegen kann - und so ist der Ist-Stand heute - dann fällt die Hausarbeit schwer. Es wird der Tag kommen, an dem wir einspringen müssen, da beißt die Maus leider keinen Faden ab. Beide sind nicht gesund. Das ist in unserem Fall eher eine Frage von Monaten als von Jahren, und es wird an meiner Frau hängen bleiben, sie ist die einzige in Reichweite.
Was Du bzgl. Deinem Vater schreibst: so ähnlich ist meiner auch ;D. Dinge, die man nicht mit dem Willen erledigen kann, gibt es nicht - und wenn man dazu mit dem Kopf durch die Wand muss, und in seinem Leben war das zweifelsfrei ein Erfolgsrezept. Er hatte große Probleme, die Sache mit den Kindern zu verstehen, und kann bis heute eine gewisse Skepsis nicht verbergen, obwohl er die Erfolge sieht. Er weiß vom Problem meiner Frau, es ist nicht so, dass ich nicht mit ihm reden könnte, ihm verdanke ich, dass ich heute der bin, der ich bin, er hat mich immer aufgefangen. Selten ohne heftiges Donnerwetter, das ist seine Natur - aber er hat mich aufgefangen. Ich weiß, dass ich "zuhause" einen sicheren Hafen finde, wenn alle Stricke reißen. Aber auf dem Weg aus der Misere kommen nur Ratschläge wie "das muss man doch kapieren, dass Alkohol nichts hilft!". Das hilft leider niemandem weiter, und ich kann ihn ja nicht irgendwie "umkrempeln", so dass er ein Verständnis entwickelt.
Die Schwiegereltern spüren sogar ganz sicher, dass etwas nicht stimmt. Aber sie vermeiden unangenehme Themen, selbst wenn man selbst die Initiative ergreift. Sie schweigen so etwas tot, und speilen lieber den Clown: alles lustig, trallala. Sehr frustrierend... Die restliche noch lebende Verwandtschaft kann man hier komplett in der Pfeife rauchen; die ist gut dazu, wenn man möchte, dass sich Geschnatter möglichst schnell und weit verbreitet. Gute Freunde können wir an den Fingern abzählen, und auch da gibt es Grenzen, wie weit man jemandem seine ganz privaten Sorgen anvertraut, bzw. der andere bereit ist, sich das anzuhören. Im Laufe der letzten Jahre haben wir diverse Schönwetterfreunde eingebüßt, was ernüchternd, aber an sich kein relevanter Schaden war. Ich hätte so gerne jemandem, dem ich einfach alles erzählen könnte, am liebsten die Eltern. Aber: ist halt nicht.
Bitte mach Dir keine Sorgen, dass Du mich irgendwie verletzen könntest - ich schätze Offenheit, und die manchmal "schnoddrige", aber ehrliche Art des Nordens (wenn ich nichts durcheinanderbringe, kommst Du ja aus der Himmelsrichtung?)
LG
P.