Liebe Community,
ich habe hier in den letzten Tagen intensiv mitgelesen und viele Geschichten haben mich sehr berührt, ebenso wie der Umgang und Respekt der Mitglieder untereinander. Ich möchte euch jetzt gerne auch meine Geschichte erzählen. Am Ende habe ich eine konkrete Frage an jene, die den Ausstieg geschafft haben. Ich denke, ihr könnt mir mit euren Erfahrungen sehr weiterhelfen.
Ich bin weiblich, 31 Jahre alt, und dass ich ein großes Problem mit Alkohol habe, weiß ich nicht erst seit gestern. Es wurde mir schon vor Jahren bewusst, aber der Verdrängungsmechanismus scheint bei mir mehr als intakt zu sein. Ich trinke regelmäßig seit ich etwa 15 bin, der klassische Werdegang, zuerst nur auf Partys, mit Freunden, alles unter dem Deckmantel der jugendlichen Leichtigkeit. Dann immer öfter schon einige Drinks vor dem Ausgehen, um die Stimmung zu lockern, schnell war ich hier bei einer Falsche Sekt oder Wein angelangt. Und beim anschließenden Treffen mit Freunden habe ich natürlich auch nicht nur Wasser getrunken.
Ich kann nicht mehr zählen, wie häufig mich die Scham am nächsten Morgen überwältigte, für all die Dinge, die ich gesagt und getan hatte. (Im Alter von 18 bis 23 kamen auch härtere Drogen (XTC, Kokain, MDMA) hinzu, diese spielen aber zum Glück keine Rolle mehr in meinem Leben.)
Während des Studiums ließ ich keine Gelegenheit zum Trinken aus. Hin und wieder trank ich an Wochenenden auch schon morgens, um die quälende Unruhe und Rastlosigkeit zu bekämpfen, die mich innerlich fast zerriss. Später sogar einige wenige Male vor der Arbeit. Wenn ich dann gedanklich einen Schritt zurücktrat und mir dabei zusah, wie ich dort stand, mit berauschtem Kopf und nicht Herr meiner Sinne, konnte ich den Schmerz kaum ertragen, mir einzugestehen, dass das wirklich ich sein sollte. Um den Schmerz zu betäuben, trank ich mehr.
Der längste Zeitraum, den ich in den letzten 16 Jahren ohne Alkohol ertrug, umfasste einmalig zwei Monate. Keine gute Bilanz.
Aber das Bild ist hiermit noch nicht komplett. Alkohol ist nicht die einzige Sucht, die ich in mein Leben einlud. Mit 18 erkrankte ich an Bulimie (Ess-Brech-Sucht). Diese Krankheit sollte mich von da an 12 Jahre begleiten. Erst seit etwa sechs Monaten kann ich behaupten, stabil symptomfrei zu sein. Und da ich die Facetten beider Süchte kennenlernen „durfte“, kann ich ebenfalls behaupten, dass sie sich im tiefsten Kern nichts schenken. Der Suchtdruck, dieses massive Verlangen nach dem Mittel, das zunächst mit einer kleinen Idee anfängt, um dann weiter zu wachsen, bis es schließlich jeden kleinsten Winkel der Gedanken beherrscht, und so überwältigend ist, dass man das Gefühl hat, verrückt zu werden, wenn man dem nicht nachgibt, dieser Suchtdruck entspringt der gleichen Quelle. Einmal trägt er den Namen Saufdruck. Einmal Fressdruck. Einmal Brechdruck. Der Wahnsinn dahinter ist derselbe. Und ebenso, wie die Krankheit Alkohol nur zum Stillstand gebracht werden kann, sagt man auch den Essstörungen nach, dass diese ein Leben lang ein Teil von einem sein werden.
In den schlimmsten Zeiten erlitt ich mehrere Ess-Brech-Attacken am Tag, zwischendurch trank ich Alkohol, um mich runterzubringen, an anderen Tagen machte ich mehrere Stunden Sport, trank danach auf leeren Magen eine Flasche Wein und ging anschließend die ganze Nacht tanzen. Zurück zu Hause überkamen mich Essanfälle mit Erbrechen. An den nächsten Tagen war ich körperlich und psychisch ein Wrack.
Im Außen funktionierte ich perfekt. Gepflegt, attraktiv, von Männern begehrt, gute Bildung und guter Job, liebe Freunde. Eine scheinbar selbstbewusste junge Frau, die ihr Leben im Griff hat. Und als ich eines Tages, als der Fressdruck kam, nichts Essbares im Haus hatte, aß ich weggeworfene Speisen aus dem Müll. Es war nur einer von vielen Tiefpunkten.
Ich hatte zwei Leben. Das der perfekten Frau im Außen. Und das eines kleinen, verängstigten Mädchens im Inneren, das etwas suchte, von dem es selbst nicht wusste, was es war. Aber diese Seite, die des süchtigen Essens und Trinkens, versteckte ich. Die Verzweiflung wohnte stets im Verborgenen.
Nach langen Jahren der Scham und des Nicht-wahr-haben-Wollens suchte ich mir Hilfe. Vorrangig wegen der Essstörung. Ich begab mich in Therapie, jahrelang. Ich merkte irgendwann, wie die Scham, an Bulimie erkrankt zu sein, von mir abglitt. Aber die Scham, süchtig nach Alkohol zu sein, die hielt sich hartnäckig. Dennoch brachte ich es nach einiger Zeit über mich, meiner Therapeutin sowie Hausärztin meine Bedenken mitzuteilen. Beide nahmen die Sache nicht ernst. Also verdrängte ich erneut. Es wird schon nicht so schlimm sein, sagte ich mir. Und trank weiter. Obwohl ich es besser wusste.
In der Therapie arbeitete ich jedoch viele Dinge auf, von denen mir dann erst bewusst wurde, auf welch massive Art und Weise sie mir ein freies und leichtes Leben erschwerten. Vieles davon hatte zu tun mit meiner Familie, mit dysfunktionalen Familiendynamiken und Mustern, die aktiv sind und das Handeln unbewusst lenken.
Während sich mein Verhältnis zum Essen langsam besserte, hatte mich der Alkohol weiterhin im Griff. Ich konnte niemals nur ein Getränk trinken und dann zufrieden nach Hause gehen. Und ich trank immer nur der Wirkung, niemals des Genusses wegen. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mir schwor, damit aufzuhören. Es hielt nie lange an.
Im Moment würde ich meinen Alkoholkonsum verglichen mit den letzten Jahren als moderat bezeichnen. Nicht in der Menge, denn die ist bei mir niemals moderat. Sondern in der Häufigkeit. So etwa einmal (selten zweimal) die Woche gebe ich mich einem Rausch hin. Um nicht mehr grübeln zu müssen, um kurz die Leichtigkeit in mein Leben zu lassen. Obwohl es mir nach der Therapie psychisch deutlich besser geht, wohnt immer noch ein Teil in mir, der diesen Rausch braucht.
Heute habe ich seit acht Tagen nicht getrunken.
Allen, die bis hierher mitgelesen haben, danke ich von Herzen. Beim Schreiben kamen mir die Tränen, aber durch das Schreiben kann ich auch gut verarbeiten.
Nun komme ich zu meiner Frage an diejenigen, denen der Ausstieg aus dem Teufelskreis Alkohol gelungen ist. Diejenigen, die nicht damit hadern und von sich sagen, zufrieden leben zu können. Aber ich freue mich auch über alle anderen Erfahrungen, Gedanken und Worte.
Und zwar möchte ich wissen, ob der Ausstieg aus der Alkoholsucht in seinem Ablauf vergleichbar ist mit dem Ausstieg aus der Essstörung. Ich werde diesen Gedanken kurz erklären: Im Verlauf der Therapie entwickelte ich diese untrügliche Vorstellung davon, zu wissen, wie ich die Bulimie hinter mir lassen würde. Und zwar wusste ich, dass es nichts bringen würde, mit bloßem Willen gegen den Suchtdruck anzukämpfen. Die Erfahrung aus vielen Jahren gab mir Recht. Wenn der Wunsch nach Essen in mir aufkam, wuchs, mich einnahm und es mir dann tatsächlich für einen Tag gelang, diesen Druck zu ertragen und ihm nicht nachzugeben, dann hatte ich damit nicht gewonnen. Im Gegenteil. Denn der Druck löste sich nicht in Luft auf, sondern kam zurück, am nächsten, vielleicht erst am übernächsten Tag. Aber dann mit einer solchen Heftigkeit, dass ich machtlos war.
Es war, als würde sich die Sucht jeden Tag, an dem ich ihr nicht nachgegeben hatte, zurückholen. Erbarmungslos. Ich wusste also instinktiv, dass mir der Ausstieg nur gelingen würde, wenn das Verlangen von selbst nachlässt. Wenn ich es einfach nicht mehr brauche. Weil sich in meinem Inneren etwas soweit verändert hat, dass ich diese „Flucht vor der Realität“ nicht mehr zum Überleben benötige.
Und tatsächlich kam meine Essstörung so zum Erliegen. Ich kämpfte schon, aber nicht gegen die Bulimie, sondern ich kämpfte dafür, verdrängte Gefühle spüren zu können, ihnen Ausdruck zu verleihen, mich selbst mehr wertzuschätzen und zu akzeptieren für den Menschen, der ich war. Und fast unmerklich verschwand die Essstörung aus meinem Leben. Ich ließ los. Ohne Willenskraft. Ohne Suchtdruck. Ich brauchte sie einfach nicht mehr.
Dieselben Mechanismen zum Thema Suchtdruck bekämpfen greifen bei mir auch beim Alkohol. Selbst wenn es mir gelingt, eine Zeitlang abstinent zu bleiben, holt sich die Sucht diese „verlorene“ Zeit irgendwann mit einer Wucht zurück, die mir regelmäßig den Boden unter den Füßen wegzieht. Mit anderen Worten habe ich das Gefühl die Sucht noch zu verschlimmern, indem ich versuche, sie zu bekämpfen. Ich habe das Gefühl, rein durch Willenskraft nicht aussteigen zu können.
Eine erneute Therapie würde mir im Moment nichts bringen, dessen bin ich mir sicher. Ich habe in der vergangenen (erst seit einigen Monaten abgeschlossenen) Therapie all jene Probleme bearbeitet, die nicht nur für die Essstörung, sondern auch für den Alkoholmissbrauch ursächlich sind. Das grundlegendste Thema ist dabei, und ich schätze das ist bei allen so, mangelnde Selbstliebe. Ich weiß, dass ich das nötige Werkzeug in mir trage, um die Sucht selbst hinter mir zu lassen. Ich bin mir nur nicht sicher, welcher Weg der richtige ist.
Muss ich tatsächlich kämpfen, bis ans Ende meiner Tage? Oder werde ich die Sucht irgendwann nicht mehr brauchen?
Ich weiß nicht, warum ich die Bulimie loslassen konnte, aber den Alkohol nicht. Ich bin nicht körperlich abhängig, sondern rein psychisch.
Wie war/ist es bei euch? War der Ausstieg ein ständiger Kampf gegen den Suchtdruck? Ging es letztendlich nur mit Willenskraft? Ist es immer noch ein Kampf, auch Monate oder Jahre nach dem letzten Glas? Macht das auf die Dauer nicht wahnsinnig? Oder konntet auch ihr die Sucht loslassen, mit dem Gefühl sie nicht mehr zu brauchen? Sondern ohne sie viel glücklicher zu sein?
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als frei zu sein.
Ich danke euch.
Bluebird