Hallo,
ich lese hier schon seit längerem mit und möchte mich gerne vorstellen.
Wie viel ich zu sagen habe, weiß ich noch nicht. Ich bin schon etwas länger trocken (geht auf 20 Jahre zu) und ich hatte schon Phasen, wo ich mein eigenes Reden zum Thema Sucht als Folge von endlosen Wiederholungen empfunden habe. Bin mir selbst damit auf den Wecker gegangen. Außerdem muss ich nicht die Welt retten, also ich helfe schon gerne irgendwo mit, aber wenn das mir selbst nichts mehr bringt, nehme ich mir auch die Freiheit zu gehen. Sprich ich war im Bereich Suchtselbsthilfe auch schon mal eine Weile etwa im Stil der hier aktiveren Schreiber unterwegs, hatte dann aber irgendwann das Gefühl, dass sich mein eigenes Leben so weit von der Sucht entfernt hatte, dass ich nicht mehr viel Hilfreiches zu sagen hatte. Ich habe mir dann andere Betätigungsfelder gesucht und sie auch gefunden.
Und aktuell gibt es bei mir auch nicht viel dazu zu sagen, das Leben läuft im Prinzip wie es läuft und Nüchternheit ist für mich nun schon ziemlich lange Normalität.
Trotzdem haben Drogen und Alkohol einen sehr großen Teil meines Lebens maßgeblich mitbestimmt und ich beschäftige mich heute hauptsächlich aus Interesse mit dem Thema. Das eine oder andere Mal habe ich sicherlich auch schon davon profitiert. Ich betreue ein paar Internet-Projekte und bin daher ganztags online, und nebenbei lese ich immer wieder z.b hier, aber auch Online-Tageszeitungen, wissenschaftliche Publikationen und alles mögliche andere was mich so interessiert. Vor ein paar Jahren habe ich sogar mal ein Buch zum Thema Sucht und Selbstveränderung geschrieben, habe einige mir zugängliche wissenschaftliche Literatur, Neurobiologie, Psychologie sowie meine persönlichen Erfahrungen und was ich von 1000 anderen Leute wusste etc. ausgewertet, nur als ich dann nach ca. 500 Seiten fertig war, war mir klar dass mit diesem sperrigen Teil kein Geld zu verdienen ist und die Überarbeitung und die Vermarktung war mir dann doch zu viel Aufwand. Für mich selbst war es allerdings schon sehr interessant, mir das zusammenzustellen und durchzuarbeiten.
Damit bin ich auch kurz dabei dass ich selbstständig bin und noch länger Geld verdienen muss, aber ich bin nicht derjenige der hier neulich sein Marketingvideo angepriesen hat. Rente werde ich nicht sehr viel kriegen, da ich ja doch ein bisschen was im Leben versemmelt und nicht allzuviel eingezahlt habe. Also muss ich noch eine Zeitlang "funktionieren". Ich werde in Kürze 59 Jahre alt.
In meiner Herkunftsfamilie wurde mütterlicherseits wie väterlicherseits ordentlich Alkohol getrunken. Es gab mehrere funktionierende und auch weniger funktionierende Alkoholiker. In meinen ersten Lebensjahren in den frühen Sechzigern waren wir mit den ganzen Geschwistern meiner Eltern eine Art feierfreudige Großfamilie. Auf alten Fotos stehen immer ordentlich Wein- und Schnapsflaschen auf dem Tisch. Zwei meiner Onkel mütterlicherseits starben wegen Alkohol und Tabletten ziemlich früh mit 30 bis 40 Jahren, mein Vater wurde 82, hatte dann aber auch Leberzhirrose und war alkoholbedingt dement und starb an den Folgen seines jahrzehntelangen Missbrauchs.
Ich selbst bin da so hineingewachsen und kam auch schon sehr früh mit Alkohol in Berührung. Als Kleinkind kam ich mal an ein unbeaufsichtigtes volles Likörglas und dann durfte ich auch schon recht bald an den Restchen nippen. So ging es dann weiter und da ich ja nichts anderes kannte, fand ich es auch völlig normal, dass ich mit dem Erwachsenwerden genau so gesoffen habe wie die Erwachsenen, die ich kannte. Ich war höchstens 15, als ich die ersten Filmrisse hatte und andere Leute fragen musste, was los war. Ich vertrug ausgesprochen viel. Und ich fand das cool. Außerdem lernte ich dann auch schon recht bald die ganze Palette illegaler Drogen kennen.
Im Abiturjahr machte ich das erste Mal eine vierteljährliche Pause, um überhaupt das Abitur zu schaffen. Wobei ich das mit der Pause damals nicht so eng gesehen habe, Bier und Kiffen galten in meinem damaligen Wertekanon als harmlos und mussten daher nur reduziert werden.
Nach dem Abitur war ich erst mal einige Monate auf einer Reise, auf der ich ganz ohne Drogen und Alkohol auskam. Aber danach im Zivildienst schlug ich wieder voll zu und es folgten meine extremsten 5 Lebensjahre. Ich nahm alles, was ich kriegen konnte, versuchtelte mein erstes Studium, wurde straffällig und endete mit einigen zehntausend Mark Schulden als praktisch obdachloser Selbstmordkandidat.
Eines meiner Probleme war mit Sicherheit, dass ich kaum Interessen hatte und mich weder ein Beruf noch eine Karriere irgendwie fesseln konnte. Mir wurden zwar Eloquenz, eine hohe Intelligenz und viele Fähigkeiten nachgesagt, aber in der Schulzeit stritt ich mich hauptsächlich mit meinen Lehrern und Eltern herum, schwänzte viel und pflegte ein Image als Rebell. Mit meinem Vater verbanden mich einige gemeinsame Bergtouren, ansonsten hatte wir ein schwieriges und von Aggressionen geprägtes Verhältnis. Die Wutausbrüche meines Vaters waren in der Familie und unter seinen Arbeitskollegen legendär und gefürchtet und ich hatte diese Wutausbrüche irgendwann ebenfalls. Wir gerieten ziemlich aneinander.
Als ich nach der Schulzeit und mit der Volljährigkeit endlich machen konnte, was ich wollte, fehlten mir meine Gegner und ich fiel in ein tiefes Loch. Ausser Gifteln (Drogenkonsum) und gelegentlichen Bergtouren hatte ich keine Interessen. Einen Studienplatz hatte ich mir nur gesucht, weil meine Mutter das unbedingt wollte und das Studienfach habe ich danach ausgesucht, dass ich damit vielleicht selbst ein bisschen Drogen produzieren konnte. Es musste kommen wie es kam.
So stand ich dann nach dem Rausschmiss aus der Uni, einer gescheiterten Beziehung, ziemlich zugedröhnt und ohne Geld, mit Schulden und ohne Pläne vor meiner ungewissen Zukunft und war fertig mit der Welt. Auf einem LSD-Trip hatte ich ein Erlebnis, bei dem ich dem Leben aber doch wieder etwas abgewinnen konnte und wusste dann zwar immer noch nicht, wie es weitergehen sollte, aber ich wurde in der Folgezeit wenigstens einigermaßen nüchtern und fing an, mich zu bemühen.
Alkohol war damals für mich Beikonsum. Ich sah das Hauptproblem in den illegalen Drogen, erstens wegen der Wirkung und zweitens wegen der Szene, in der ich mich bewegen musste um dranzukommen. Alkohol kannte ich ja aus der Familie und er schien mir besser beherrschbar. Hanf habe ich irgendwann selbst angebaut und brauchte niemanden mehr dafür.
Also verbannte ich - außer gelegentlichem Kiffen – die Polytoxikomanie aus meinem Leben und reduzierte schon aus Geldmangel meinen Alkoholkonsum stark. Zum Glück hatte ich einige Freunde, die mich kostenlos wohnen ließen, und ich kam auch immer wieder an relativ gut bezahlte Gelegenheitsjobs, so dass es mir langsam besser ging. Irgendwann um die Zeit lernte ich auch meine Frau kennen, mit der ich heute verheiratet bin. Damals waren wir allerdings noch nicht zusammen.
Ich blieb erst mal in der Stadt, in der ich studiert hatte, zurück ins Elternhaus wollte ich nicht. Bei einem Besuch zu Hause eröffneten mir meine Eltern, dass sie sich scheiden lassen. Wegen der Sauferei meines Vaters und wegen Untreue. Mein Vater und ich saßen zusammen, jeder von uns mit einer Flasche Whisky, ließen uns volllaufen und jammerten gemeinsam über das beschixxene Leben.
Von der Scheidungsmasse bekam ich ca. 20000DM, mit denen ich mir wieder eine Bleibe suchen konnte. Außerdem verschaffte mir das ein bisschen Luft. Aber ein Chaot, wie ich war, brachte ich einen großen Teil innerhalb eines knappen Jahres in meiner Stammkneipe durch. Immerhin konnte ich die Wohnung halten und ich ging auch weiterhin meinen gelegentlichen Jobs nach. Sonstige Ansprüche hatte ich nicht groß.
Ca. 2 Jahre später hatte ich die Schnauze voll von dem unsteten Leben, ich hatte Sehnsucht nach Normalität, ich fing nochmals an zu studieren und aus der damaligen Freundschaft entwickelte sich eine Beziehung. Wir zogen zusammen und aus einem der Jobs, mit denen ich mein Studium finanzieren wollte, wurde etwas Dauerhaftes.
Einige Jahre lang führten wir ein fast normales Leben. Aber da ich praktisch keine anderen Entspannungsmöglichkeiten kannte und auch immer noch kaum Interessen hatte, mussten natürlich die regelmäßigen Feierabendbierchen und gelegentlichen Totalabstürze sein. Ich weiß noch wie ich das "den Reset-Knopf drücken" nannte, wenn ich an einem schlechten Tag keine andere Möglichkeit sah, als zwei bis drei Literflaschen Schnaps zu trinken.
Wir stritten uns jahrelang wegen meinem Alkoholkonsum und der dazugehörigen Kifferei, ich bemühte mich immer wieder, das so weit zu reduzieren, dass es irgendwie ging und wurde einige Zeit zum funktionierenden Süchtigen.
Mitte der Neunziger Jahre wurde ich wieder arbeitslos und da ich wegen des Jobs auch mein zweites Studium nicht abgeschlossen hatte, bemühte ich mich um den Abschluss einer Berufsausbildung und um Fortbildungen im IT-Bereich. Den Abschluss der Berufsausbildung legte ich mit Bravour ab und in dieser Ausbildung hatte ich auch meinen Alkoholkonsum gut im Griff.
Wegen meines sehr guten Ausbildungsabschlusses erhielt ich aber auch einen sehr anspruchsvollen Job, in dem ich unter hohem Druck stand und da wusste ich mir einmal mehr nicht anders zu helfen, als dass ich nach Feierabend kräftig getrunken habe. Da ich gleichzeitig einen Chef hatte, dessen cholerische Anfälle mich stark an meinen Vater erinnerten und der sich regelmäßig brüstete, wie viele Leute er schon fristlos entlassen hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis ich meine Kündigung regelrecht provozierte. Er hatte dann aber doch noch die schlechteren Nerven als ich und musste vor Gericht zurückstecken.
Für mich war es die Gelegenheit, die IT-Fortbildung zu beantragen, bis dahin Arbeitslosengeld zu kassieren und – zu saufen.
In den nächsten Monaten war ich wenig nüchtern. Meine Frau hatte mal wieder die Schnauze voll. Mir ging es regelmäßig morgens elend. Ich soff mehrmals in der Woche so, das ich Filmrisse hatte und nicht mehr wusste was am Vortag los war. Ich hing halbe Nächte über der Kloschüssel und kotzte mir die Seele aus dem Leib.
Aber ich konnte immer noch, wenn ich das wollte, ein paar Tage nichts trinken und deswegen dachte ich, ich könnte das noch steuern.
Als dann die nächste Fortbildung genehmigt war, fasste ich den Plan, einige Monate sehr wenig zu trinken, um das wieder in den Griff zu bekommen. Eher fatal war, dass mir das auch gelang. Ich beschäftigte mich nie mit dem Gedanken, ganz damit aufzuhören, es ging bei mir immer nur darum den Level so zu halten dass ich weitertrinken konnte, denn ein Leben ohne Rausch konnte und wollte ich mir gar nicht vorstellen. Ich kannte ja auch andere Alkoholiker, die auf Entgiftung und Therapie waren und hatte von Abstinenz schon mal was gehört, aber wenn ich mal drüber nachdachte, ganz ohne Alkohol oder sonstigen Rausch zu leben, hatte ich das Gefühl, dass mein Leben da vorbei wäre. Das kam für mich kategorisch nicht in Frage.
Nach einigen Monaten mit Minimalkonsum kamen die ersten schweren Prüfungen. Nachdem ich die erste davon geschafft hatte, musste ich mich natürlich belohnen, und ich war ja überzeugt dass ich es im Griff hatte. Also durfte ich mir auch mal wieder die Kante geben. Nach drei Wochen war ich wieder in dem Zustand mit den Filmrissen und dem nächtelangen Kotzen. Wenn ich gekonnt hatte, hätte ich mich in den Hintern gebissen. Da ich aber mitten im Prüfungsstress war und das unbedingt schaffen wollte, schaffte ich es nicht mehr, mit dem Saufen aufzuhören. Meine Frau kriegte fast einen Vogel, ich saß mit Schnaps und Joint vor dem Computer und lernte. Oft trank ich schon auf dem Nachhauseweg mindestens einen halben Liter Schnaps und sofort nach dem Nachhausekommen ein schnelles Bier um begründen der Fahne, damit meine Frau nicht merkte, wie viel ich schon "vorgeladen" hatte.
Ich schaffte die Prüfungen, aber meine Frau beschloss, sich zu trennen. Sie wollte nicht mit angucken wie ich mich restlos ruinierte. Ich war einerseits am Boden zerstört, andererseits aber auch froh dass ich ohne ihren Widerstand noch hemmungsloser trinken konnte.
Meine Frau fand natürlich nicht gleich eine Wohnung und ich nahm überhaupt keine Rücksicht mehr. Morgens wachte ich öfter mit Sturzverletzungen auf und hatte keine Ahnung wie es dazu gekommen war. Ich fing an mir auszurechnen wann ich mit dem trinken anfangen konnte, wenn ich mit dem Auto Nachschub besorgen musste.
Irgendwie fing es in meinem Unterbewusstsein an, zu arbeiten. Ein Teil von mir fand es völlig idiotisch, was ich machte. Ich hatte einen frischen Top-Abschluss, meine Frau liebte mich eigentlich, und ich hatte nichts Besseres zu tun, als mich am liebsten totsaufen zu wollen. Da ich schon als Kind mit dem Alkohol in Berührung gekommen war, gab es für mich kein Leben vor dem Alkohol und eigentlich auch keines danach. Ich hätte kein Problem damit gehabt, wenn ich morgens nicht aufgewacht wäre. Aber ich hatte Angst davor, eines Morgens aufzuwachen und einen wesentlichen Teil meines Verstands versoffen zu haben – bei vollem Bewusstsein mitzukriegen, wie man selbst verblödet, war schon eine meiner härteren Angstvorstellungen.
Und eines Nachts, als ich mich mal wieder im Vollsuff schwitzend mit vor Druck platzendem Schädel und sonstwas über der Kloschüssel fand, war die Zeit wohl reif für ein leises "Klick" und ich konnte erstmals ernsthaft darüber nachdenken, wie es wohl wäre, den Rest meines Lebens gar nichts mehr zu trinken. Innerhalb von wenigen Minuten war mir klar, dass ich dieser Ausblick plötzlich sehr gut anfühlte.
Ich stand morgens auf und verkündete meiner Frau, die noch nicht ausgezogen war, dass ich aufhören werde. Einmal, endgültig, und dass ich alles in Bewegung setzen werde was nötig ist.
Ich hatte wegen einem Projekt noch einige Wochen Stress, in denen ich mich mit letzter Kraft bemühte, meinen Alkoholkonsum herunterzufahren. Ich machte einen Termin in der Suchtberatung aus, den ich unmittelbar nach Ende des Projekts wahrnehmen wollte.
Ich weiß noch, wie sich der Ansprechpartner in der Suchtberatung wunderte, dass ich einige Wochen später zu dem lange vereinbarten Termin tatsächlich auftauchte. Und ich weiß noch, wie ich mich wunderte, wie er sich wunderte. Ich wusste noch nichts von den vielen leeren Versprechungen und vergeblichen Versuchen, die er wohl schon gehört und gesehen hatte.
Bei mir war es auf jeden Fall wohl durch. Ich war bei dem Termin vielleicht drei Tage nüchtern und hatte das Schlimmste schon hinter mir. Ich ging in die angebotene Motivationsgruppe, hatte ein Dutzend Einzelgespräche mit dem dortigen Psychologen und beantragte eine Langzeittherapie. Insgesamt fiel es mir viel leichter, gar nichts zu trinken, also ich es mir in meinen Horrorvorstellungen ausgemalt hatte. Ich wurde einige Zeit lang regelrecht euphorisch.
Noch als der Antrag zur Therapie lief, hatte ich aufgrund der Fortbildungen ein sehr gutes Stellenangebot. Ich trug seit meinem Komplettabsturz nach meinem ersten Studienabbruch einen Berg Schulden mit mir herum, wegen dem ich schon mal einen OE geleistet hatte und den ich erst teilweise abgetragen hatte. Nun bot man mir ein Gehalt, mit dem ich in einem Jahr schuldenfrei sein konnte. Nach Rücksprache mit dem Psychologen beschloss ich, dass Schuldenfreiheit ja auch ein wesentlicher Baustein meiner Nüchternheit sein würde und da ich so weit stabil war, wollten wir erst einmal abwarten ob es dann überhaupt noch notwendig wäre.
Ich bin seit dem rückfallfrei trocken. Das Cannabisrauchen habe ich gleichzeitig aufgehört. Ein Jahr später beendete ich meine Kettenraucherei und lebe seitdem bei mäßigem Kaffekonsum ansonsten völlig giftfrei.
Mein Leben ist entgegen meiner Befürchtungen nicht langweilig geworden. Feiern kann ich heute besser als zu den Zeiten, als ich schon am frühen Abend nicht mehr wusste was ich sage, und ich weiß es am nächsten Tag auch noch. Meine Witze sind mindestens so gut wie früher und ich schrecke vor keiner Banalität zurück.
Meine Frau und ich haben zwei Paartherapien gemacht. Ich selbst habe Jahre nach dem Nüchternwerden eine Psychotherapie gemacht, bei der es weniger um den Alkohol als um meine allgemeinen Verhaltensschwierigkeiten ging. Zum Glück kann ich heutzutage relativ gut "dranbleiben". Auch als ich nüchtern wurde, war ich jahrelang ein sehr schwieriger Mensch, ich habe auch immer noch ziemliche Ecken und Kanten, aber heute bin ich mit mir meistens zufrieden. Und außerdem musste meine Frau ja auch an ihrer Co-Abhängigkeit arbeiten, also wir hatten beide zu knabbern.
Nach 5 Jahren Nüchternheit hatte ich keine Lust mehr auf den täglichen Stressjob und meine Frau und ich haben uns selbstständig gemacht. Das war zwar mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden, aber wir haben mehr Zeit zum Leben.
Vor gut 10 Jahren hatte ich einen kleinen Unfall, landete fast im Rollstuhl bzw. stand knapp an der Ganzkörperlähmung. Dass ich unbedingt ins Freie will und in die Berge gehe, war nach übereinstimmender Aussage der Ärzte wohl meine Rettung. Aber ich bin einigermaßen gehbehindert, habe nachts oft Muskelkrämpfe und bin dementsprechend unausgeschlafen und mäßig gut gelaunt. In der Krankengymnastik bin ich Dauergast.
Wenn ich noch gesoffen hätte, wäre ich wahrscheinlich im Selbstmitleid versunken. So bin ich eher ein Typ, der Bewunderung erntet. Das macht die Sache zwar nicht unbedingt einfacher, tut aber trotzdem ganz gut.
Vor drei Jahren wurde mein trinkender Vater zum Pflegefall. Da ich das einzige Kind war und auch der Meinung bin, dass er es nicht verdient hatte, dass ich ihn einfach verrecken lasse, habe ich ihn betreut. Dass ich jahrelang mit Alkoholikern gearbeitet habe, hat mir sehr geholfen, damit klarzukommen. Erst verweigerte er jede Hilfe, dann hat er mir aber zum Glück doch noch sämtliche Vollmachten übertragen. Auch das hatte möglicherweise mit meiner Nüchternheit zu tun. Mein Vater hat es zwar bedauert, dass ich nicht mehr mit ihm getrunken habe, aber wenn ich auch noch gesoffen hätte, wäre das ja überhaupt nicht gegangen. Da er keine Patientenverfügung hatte, dürfte das auch sein Glück gewesen sein. Ich habe ihm sogar den Schnaps noch selbst an den Mund geführt, als er den Arm nicht mehr heben konnte. Er wollte trinken und ich fand, dass es mir nicht zusteht, seine hilflose Situation auszunutzen um ihn gegen seinen Willen davon abzuhalten. Das hätte auch keinen Sinn gemacht.
Mir war bewusst, dass der Rückfall nur eine Armlänge entfernt ist, aber ich bin dieses Risiko eingegangen, obwohl ich wusste, dass ich wegen der Situation auch im Stress war. Passiert ist nichts. Dafür habe ich dann den Frieden erhalten, den ich mit meinem Vater noch schließen konnte.
Es hat mir/uns auch geholfen, guten Gewissens in das Haus zu ziehen, dass er mir hinterlassen hat. Dieses Haus ist nicht mein Elternhaus, sondern entstand erst nach der Scheidung, als ich längst weg war, von daher ist es auch nicht groß mit Erinnerungen behaftet..
Ich bin nun also wieder in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Den Bekanntenkreis muss ich großenteils neu aufbauen, da ich mich sehr verändert habe und ganz andere Interessen habe als früher. Es lässt sich auch ganz gut an, aber Leute mit denen ich mich auch mal über Sucht und Nüchternheit unterhalten kann, fehlen mir bislang. Die Gruppenstruktur hier sagt mir nicht besonders zu. Nachdem es mich ja aber nach wie vor interessiert und ich ab und an auch ganz gerne darüber rede, probiere ich es mal hier.
Viel geworden, ich schicke das mal ab. Mir fällt gerade auf dass ich das noch nie so vollständig erzählt habe.
Beste Grüße Ty.