Hallo,
angeregt durch den Vorstellungsthread von NiTho gingen mir jetzt ain paar Dinge durch den Kopf, die mich aber schon länger beschäftigen.
Ich habe ja schon ein paar Dinge über mich erzählt und möchte hier noch ein paar Geschichten zu meinem Alkoholproblem ergänzen.
Ich lebe jetzt seit cirka einem halben Jahr ohne Alkohol und es geht mir besser als je zuvor
Ich fühle mich jeden Tag wohl und habe auch keinerlei Bedürfnis mich nochmal in dieses Hamsterrad aus schlechtem Gewissen, schlechter Stimmung, Lügen und teilweise echter Verzweiflung zu begeben.
In dem o.a. Thread geht es um Angststörungen und dass Alkohol hier "geholfen" hat.
Nun gut, bei mir waren es keine Angststörungen aber trotzdem bin ich zum Alkohol gekommen um ein Problem zu "lösen".
Ich habe mich die letzten Monate sehr damit beschäftigt, weshalb ich mich für so lange Zeit abhängig gemacht habe von diesem Teufelszeug.
Bei mir war der Anfang eher untypisch.
Ich habe als Jugendlicher und eigentlich bis zu meinem 20.ten Lebensjahr nur sehr wenig Alkohol getrunken.
Er hat mir einfach nie wirklich geschmeckt und ich habe auch nichts vermisst.
Ich habe so mit 16 Jahren angefangen sehr ernsthaft Gitarre zu spielen.
Mein Ziel war es als Konzertgitarrist später mein Geld zu verdienen und eben auch Konzerte zu spielen.
Anfangs war es für mich auch kein Problem vor Publikum zu spielen.
Komischerweise habe ich dann so mit 18 Jahren plötzlich eine Nervosität beim Vorspielen entwickelt, die mirr sehr zu schaffen machte.
Ich hatte keine Erklärung dafür und habe versucht das Problem in den Griff zu bekommen.
Nach erfolglosen Versuchen mit Baldriantee und sonstigen pflanzlichen Mittelchen hatte ich dann mal eine Freundin und auch Duopartnerin, deren Mutter Ärztin war.
Da ihre eigene Tochter ebenfalls sehr unter Nervosität litt hatte diese Mutter den Einfall die Sache medikamentös zu "lösen".
Bei einem Konzert gab sie mir auch eine Tablette und ich war kein Stück mehr nervös.
Die Kehrseite der Medaille war allerdings, dass ich gespielt habe wie ein Roboter. Technisch einwandfrei aber im Grunde hat es mir keinen Spaß gemacht.
Ich hatte das Gefühl, dass da eine andere Person spielt obwohl ich die Kontrolle über die Abläufe hatte.
Schwer zu beschreiben aber nach dieser Erfahrung war mir klar, dass das auf lange Sicht auch keine Lösung ist.
Ich habe später herausgefunden, dass es sich um einen Tranquilizer gehandelt hat (Praxiten).
Meine Freundin hat ähnlich reagiert. Die war aber eine ganze Weile sozusagen "neben der Kappe" obwohl auch sie das Stück problemlos spielen konnte.
Jedenfalls ging meine Suche nach dem Allheilmittel weiter ::)
Zu der Zeit war ich auch auf vielen Gitarrenseminaren und da saß man am Abend immer zusammen und jeder hat da mal in zwangloser Runde gespielt.
Da standen immer alkoholische Getränke auf dem Tisch und da habe ich auch hin und wieder mal ein Glas Wein probiert.
Jedenfalls habe ich festgestellt, dass ich nach dem Genuss von einer gewissen Menge Alkohol plötzlich keinerlei Nervosität mehr verspürte und ich auch keine Probleme mit der Koordination bekam. Ich hatte sogar eine Riesenfreude daran in diesem Zustand zu spielen.
Damit war mein Problem scheinbar gelöst.
Ich habe mir dann Gedanken gemacht wie ich das Ganze nutzen konnte.
In Selbstversuchen habe ich festgestellt, dass ich nach einem Chantre (Flachmann) genau in dieser Stimmung war und obwohl ich das Zeug regelrecht runterwürgen musste habe ich mir dann angewohnt mich vor Konzerten oder Wettbewerben damit zu "dopen".
Tja und dann kam es wie es kommen musste.
Ich war so zufrieden mit dem Ergebnis, dass mir der Gedanke kam:
Wenn dir der Alkohol hier geholfen hat, dann ist er gut und kann dir auch bei anderen Problemen helfen.
Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass Bier das richtige Getränk für mich war und dass meine ganzen Probleme mit Schüchternheit und wenig Selbstvertrauen nach ein paar Bier wie weggefegt waren.
Das Ganze ist jetzt über 30 Jahre her und ich würde Lügen wenn ich sagen würde, dass da eine Menge "guter" Momente dabei waren die ich wahrscheinlich ohne Alkohol nicht erlebt hätte.
Gottseidank hat es mich nie zu stärkeren Getränken hingezogen und bis auf die zielgerichtet eingesetzten Chantre (später dann Jägermeister) bin ich beim Bier geblieben.
Jedenfalls habe ich mich über die Jahre zu einem Gewohnheitstrinker entwickelt und mir auch lange keine grossen Gedanken gemacht.
Ich habe ja auch immer wieder Trinkpausen gemacht und mein Traum vom Konzergitarristen ist auch lange vorbei.
Allerdings habe ich festgestellt, dass ich mit zunehmender Dauer immer weniger in der Lage war den ganz normalen Anforderungen des Lebens nüchtern zu begegnen
Ich habe zwar trotzdem ein Studium gemeistert und auch einen schönen Beruf der mich gut ernährt, aber ich musste ständig planen.
In meinem Beruf ist Alkohol tabu und daran habe ich mich weitmöglichst gehalten.
Aber ich kam mir nicht gut dabei vor. Abgesehen davon, dass ich sicher auch nicht immer nüchtern zur Arbeit ging weil ich einfach am Vortag zuviel hatte.
Diese Situation hat mich über die Jahre immer mehr belastet ohne dass ich meine Dosis gesteigert hätte.
Allerdings ist es mir auch nicht gelungen zu reduzieren und meine guten Vorsätze sind trotz Trinkpausen immer wieder gescheitert, bis ich es vor einem halbenJahr erneut versucht habe.
Diesmal bin ich anders an die Sache rangegangen.
Ich habe mich intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt, gehe in eine Motivationsgruppe und versuche die Ursachen herauszufinden.
Ich habe jetzt bewusst in diesem halben Jahr Situationen gesucht in denen ich mir vorher nicht vorstellen konnte, wie ich die ohne Alkohol bewältigen sollte.
Natürlich habe ich klein angefangen. Hier mal einen Vortrag, oder einfach mal Leute ansprechen.
Ich habe 2 Monate gebraucht um damit anzufangen und es ist Teil meiner "Therapie" mich jetzt immer wieder solchen Herausforderungen zu stellen.
Das war am Anfang alles andere als leicht aber mit der Zeit wird es immer leichter und allmählich geht mir auf, dass ich mich durch den Alkohol jahrzehntelang selbst in meiner Entwicklung gebremst habe.
Demnächst werde ich auch in einem Konzert spielen (ich spiele immer noch viel und gerne Gitarre) und das ist dann sozusagen der "Höhepunkt" meiner "Konfrontationstherapie".
Konfrontation im Sinne von dem bewussten Sichstellen einer Situation die ich in der Vergangenheit nur gesucht habe weil ich wusste, dass ich meinen "treuen Helfer" hatte.
Dieses Verhalten hat mir in den letzten Monaten sehr viel geholfen mein am Boden liegendes Selbstvetrauen in meine Fähigkeiten langsam wieder aufzubauen.
Darüber bin ich sehr froh und dankbar.
Natürlich auch ein bisschen stolz
Ist jetzt ein bisschen lang geworden aber hier regnets den ganzen Tag und das wollte ich einfach mal erzählen.
Also schonmal danke fürs Durchlesen und Euch allen noch eine gute alkoholfreie Zeit
Changemaker