Hallo Bighara und AmSee13
Bighara,
Ihr habt in allem, was Ihr schreibt, recht. Ich versuche mal, darauf einzugehen. Leider neige ich schon immer dazu, alles und jeden zu bewerten bzw. einzuordnen. Das das nichts taugt, davon bin ich auch überzeugt. Aber das war eben so in der kleinen Blase, in der ich so lange gelebt habe.
Ich spüre sowieso, dass sich da was ändert zur Zeit. Ich fange zum Beispiel an, andere Menschen zu mögen. Das mag auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, aber bisher wollte ich eigentlich nur mit meinen engsten Bezugspersonen zusammen sein. Das ist anders geworden, und ich bin natürlich auch auf neue Kontakte angewiesen (Die alten lieben Freunde sind entweder schon verstorben oder leben über ganz Deutschland verstreut irgendwo)
Jetzt, wo ich ganz alleine lebe, genieße ich die kleinen Schwätzchen unterwegs, dafür hatte ich früher keine Zeit. Oder habe sie mir nicht genommen. Mit dem ewigen Misstrauen gegenüber anderen habe ich mir auch oft selbst Steine in den Weg gelegt, das weiß ich.
Mein Mann und ich, wir waren ein enges Gespann. Aber die Berufe und auch die jeweiligen Kollegen waren sehr verschieden und haben nie wirklich zum jeweils anderen Partner "gepasst". So hatte dann eher jeder seine eigenen Leute und die wenigen Paare, mit denen wir beide befreundet waren, sind nicht mehr vollständig (einer tot) oder wie oben gesagt, sehr weit weg. So wurden wir zu einer Doppelpackung.
Es gibt halt auch ein Alter, in dem man sich nicht mehr ganz schnell mal ins Auto setzt und mehrere Hundert Kilometer fährt für einen kurzen Besuch. Ich schon gar nicht, ich wäre auf die Bahn angewiesen 😧.
Ach so, mich meinem Umfeld anvertrauen: Mein Umfeld ist ein bisschen schwierig. Ich habe eine noch lebende Schwester, in einem Altersheim weit weg. Die ist 9Jahre älter als ich und in einer beginnenden Demenz. Aber schon vorher war das ein Problem, weil sie auf jeden Menschen neidisch ist im Sinn von missgünstig. Da habe ich manche schlechte Erfahrung mit ihr. Sonst lebt von der Familie niemand mehr, bis auf die jüngere Generation. Von denen will ich auch nicht hören, dass ich in die Fußstapfen vom Opa getreten bin.
Hier in der Nachbarschaft mich outen - klares Nein! Die Gründe kennen wir ja. Und es mal probieren, das riskiere ich lieber nicht. Du wirst als Alkoholiker eben auch bewertet und eingeordnet, so ist es nun mal in unserer Gesellschaft. Das kann ich sogar verstehen. Mit allen Begleiterscheinungen sind wir während der Konsumzeit oft nicht so angenehme Zeitgenossen. Wir stören.
Deshalb möchte ich mich nur ganz wenigen Menschen anvertrauen oder am liebsten nur anonym wie hier im Forum.
Und AmSee:
Ja, genau so erlebe ich das gerade. Körperlich geht es mir gut, aber die psychische Abhängigkeit bleibt. Gestern habe ich noch in irgendeinem Thread geschrieben, dass ich cool und gelassen durch die Weinabteilung im Supermarkt spaziert bin. Ich hätte es besser wissen müssen, denn heute Nacht waren die Regale voller Flaschen alle virtuell bei mir im Schlafzimmer! Gottseidank nicht im Keller.
Heute, bei Tageslicht ist das schon wieder vorbei. Es ist einfach das passiert, wovon ich vorher gelesen hatte und es war wohl noch viel zu früh für diese Konfrontation.
Zum negativen Denken:
Ich fürchte, das ist ein Charaktermerkmal, schwer wegzukriegen. Bei aller Schwarzseherei ist ja am Ende trotzdem immer alles gut gegangen. Da gibt es 1000 Beispiele.
Niemand hat mir jemals gesagt, ich hätte nicht genug auf die Reihe gebracht im Leben, aber ich konnte es einfach nicht glauben! Ganz rationell betrachtet, war alles gut. Es gab keine Katastrophen, nichts wirklich Schlimmes in meinem Erwachsenenleben. Wenn ich eine Liste machen würde, was mir alles gelungen ist, die wäre gar nicht so kurz. Aber das ist der Kopf, der weiß das. Der Bauch glaubt es nicht.
Zur Zeit, mit klarem Kopf, kann ich besser daran arbeiten als vorher, wo die vermeintliche Lösung immer gut gekühlt zur Hand war.
Für einen Rat bin ich Dir dankbar: Dass ich es als Mut machend betrachten soll, wenn so viele schon lange trocken sind. Als Ansporn, DASS ich es schaffen kann.
Dass ich die alte Erinnerung: Du bist nichts, Du hast nichts, Du kannst nichts (O-Ton Papa) und die 50 Pfennig Taschgeld im Monat gehören Dir auch nicht, die kann ich Dir wieder wegnehmen, dass ich das verinnerlicht habe, wundert mich nicht.
Und Am Schluss noch etwas zum Thema Scham: Der Begriff kann wohl sehr unterschiedlich interpretiert werden. Ich habe aber auch noch nicht viel darüber nachgedacht. Sich für seine Gefühle schämen, auf keinen Fall. Aber gerade in unserer Zeit, in unserer individualistischen Gesellschaft, wie Bighara schreibt, fände ich Scham oft angebracht.
Beispiele für mich sind die erschreckende Schamlosigkeit, mit der betrogen und belogen wird. Wer nicht das Finanzamt austrickst, wird für etwas unterbelichtet gehalten, manche Politiker lügen schamlos das Blaue vom Himmel herunter, wenn jemand beim Klauen erwischt wird, wird er aggressiv.
Individualismus ist wunderbar, aber man sollte sich doch trotzdem nicht überall seine eigenen Regeln machen? Es ist doch wie mit der Freiheit: Die ist absolut wichtig und richtig, solange man anderen nicht schadet.
Jetzt zur Erheiterung noch eine persönliche Scham-Geschichte: Vor Ewigkeiten sind wir öfters eine bestimmte Runde durch die Felder mit dem Rad gefahren. Da war ein riesiger Acker mit Petersilie und ich habe angehalten und mir ein Sträußchen gepflückt. Ganz ohne mich wie ein geübter Dieb umzuschauen. Natürlich war auf dem Nachbaracker ein junger Bauer, der mir dann beim Vorbeifahren in den Lenker gegriffen und mich vom Rad geholt hat. Ich bekam eine ordentliche Strafpredigt, habe angeboten, die Petersilie zu bezahlen, er hat sich 10 Euro geben lassen und mir noch nachgerufen, die sei frisch gespritzt, giftig, essen könne man die nicht. Ob das überhaupt sein Acker war?
Das war mein Klau-Erlebnis, und die Scham hat dazu geführt, dass wir bestimmt zwei Jahre lang dort nicht mehr vorbeigefahren sind. Und meine schöne orange Jacke habe ich zu den Altkleidern getan, damit man mich nicht von weitem identifizieren kann. Also sowas! Der Gedanke, dass der ja auch ein Handyfoto hätte machen können von mir, der kam erst später.
Heute amüsiere ich mich drüber, damals hat es mich belastet.
Euch beiden liebe Grüße
CeBe