Ich habe mir ernsthaft die Frage gestellt, was Menschen dazu bewegt, nicht mehr zu trinken. Jeder, der nicht mehr trinkt, weiß: Es kommt nicht darauf an, mit dem Trinken aufzuhören. Denn das können wir alle. Mal für ein paar Tage, mal sogar Wochen. Gerade weil die meisten von uns das können, will auch niemand so schnell ein Alkoholproblem haben. Aber nein, es geht nicht um das Aufhören, sondern darum, nicht wieder mit dem Trinken anzufangen. Jeder, der nicht mehr trinkt, weiß das.
Was hat mir geholfen, nicht mehr zu trinken? Ich möchte euch einige Gedanken weitergeben, die mir auf diesem langen Weg geholfen haben. Ich bin Student und habe zu Beginn meines Studiums mit dem Trinken angefangen, trinke aber schon lange nicht mehr. Viele meiner Freunde würden mir vermutlich attestieren, dass ich doch kein Alkoholiker sei oder gewesen bin – das alles gehört doch zum Studentenleben dazu – am Wochenende Party zu machen, mal über den eigenen Durst zu trinken, sich mit Freunden bei übermäßig viel Wein, Sekt und Bier in der Küche ausgelassen zuzuprosten.
Mir fiel mit der Zeit auf, dass ein Treffen unter Freunden, bei dem nicht getrunken wurde, für mich bereits dazu verdammt war, langweilig und bieder zu werden. Durch den Alkohol fühlte ich mich wie von einer Blase eingelullt, in der die schrillen Alltagsstimmen verblassen und sich die schweren Gefühle lösen. In solchen Situationen erfuhr ich die nüchterne Gegenwelt als hart und schneidend. Aber nein, als Student bin ich doch zukünftiger Leistungsträger der Gesellschaft. Alkoholiker sind die sozialen Verlierer, die angeranzten Gestalten auf der Parkbank und die traurigen Gestalten in der Kiezkneipe um die Ecke.
Und genau das ist Teil des ganzen Problems – Alkoholiker will niemand sein. Dem „Alkoholiker“ haben wir es zu verdanken, dass es in unserer Mitte keine „Alkoholiker“ gibt. Später habe ich das Buch „Nüchtern“ von Daniel Schreiber gelesen, das mir weitere Perspektiven eröffnet hat. Das Buch liefert äußerst prägnante Denkanstöße, die mir selbst weitergeholfen haben. Daniel Schreiber behauptet, dass das Bild des „Alkoholikers“ so etwas wie eine kollektive Projektion ist, die uns dabei hilft, weiterzutrinken. In unserer Gesellschaft pflegen und hegen wir alle das Bild des „Alkoholikers“, „den“ wir brauchen, um – ganz ohne schlechtes Gewissen – trinken zu können. Wir wissen alle, in unserer Gesellschaft gehören Geselligkeit und Alkohol ganz fest zusammen. Trockene Alkoholiker werden von uns bemitleidet: „Wirklich nie wieder Alkohol?“, „Das ist aber schlimm.“, eigentlich kaum vorstellbar für uns. Seien wir ehrlich! Das haben wir früher selbst so gesehen – ich zumindest.
Daniel Schreiber moniert in seinem Essay, dass Menschen, die nicht trinken, als unnormal, uncool, als Spaßbremse oder gar Moralapostel gelten. Denn Menschen, die nicht trinken, sind so etwas wie der blinde Fleck, der uns selbst auf unseren Alkoholkonsum aufmerksam macht. Und deswegen sind uns diese Menschen so unangenehm.
In einem Videoclip zur Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche, das ich mir vor einiger Zeit angeschaut habe, wurde genau diese Verbindung gezogen. Dort wurde ein etwas merkwürdiges Beispiel genannt: Wie antwortet man auf die delikate Frage in einem Einstellungsgespräch, ob man auch Alkohol trinke? Na klar, eine Frage, die feststellen will, wie souverän ein Bewerber mit unerwarteten und zweischneidigen Fragen umgeht. Zudem wäre das eine Frage, auf die ich nicht antworten muss, aber das würde in der Tat ziemlich unsouverän wirken. Natürlich wäre niemand so dumm, sich im Vorstellungsgespräch damit zu brüsten, reichlich und regelmäßig Alkohol zu trinken. Aber was wäre, wenn ich tatsächlich keinen Alkohol trinke? Doesn’t matter, so der Bewerbungscoach im Clip, das sollte tunlichst „verschwiegen“ werden. In dieser Situation empfiehlt der Coach zu antworten, dass man ab und an mit Freunden ein Glas Wein oder ein Bier am Abend trinke. Doch auf keinen Fall sollte man „zugeben“, dass man keinen Alkohol trinke. Der Verdacht läge da doch nahe, dass man ein trockener Alkoholiker ist. Und na ja, die Botschaft dahinter liegt auf der Hand: Trockene Alkoholiker sind psychisch labile Menschen und die möchte man doch nicht einstellen.
Daniel Schreiber hat sein Buch unter seinem Klarnamen geschrieben. Dahinter stand seine bewusste Entscheidung, dass sich niemand dafür schämen sollte, keinen Alkohol mehr zu trinken. Das hat mir imponiert. Der Autor ist ein ziemlich sympathischer, junger und cooler Typ und so einer stellt sich in die Öffentlichkeit und sagt, ohne oberlehrermäßig rüber zu kommen, warum er nicht mehr trinkt. Damit konnte ich mich identifizieren. Seine Erfahrungen haben meine eigene Lebensrealität ziemlich gut getroffen. Meist sind es ja nicht die klugen Gedanken, die uns nachhaltig in unserer Persönlichkeit prägen, sondern – ganz konkret – Menschen, die uns auf vielfältige Weise nahe werden können.
Das Buch hat Daniel Schreiber bewusst „Nüchtern“ genannt. Wichtig ist ihm, dass man positive Bilder für diesen Lebensstil sucht und eine nüchterne Lebensweise nicht immer gleich mit Alkohol assoziiert. Solche Bilder sind ungemein wirkmächtig. Das negative Vorstellungsbild des „Trinkers“ zum Beispiel ist eigentlich nur der Trinkfreund des Trinkers, der ihm einredet, kein Trinker zu sein. Das kann man niemanden verübeln: Niemand möchte sich gern selbst stigmatisieren. Für Schreiber bedeutet „nüchtern“ mehr, als nur auf Alkohol zu verzichten. Es ist die Entscheidung für ein bewusstes Leben, ein Leben, das von einer grundlegenden Selbstsorge bestimmt ist. In diesem Leben geht es nicht darum, gesellschaftlich zu funktionieren oder sich selbst zu optimieren, sondern darum, sein Leben immer wieder neu als Geschenk zu betrachten und in dieser Dankbarkeit zu leben.
Nach diesen Ausführungen zu Schreibers Buch möchte ich noch einige Gedanken anschließen, die mir in diesem Zusammenhang persönlich wichtig geworden sind und mir weitergeholfen haben. Ich kann nicht für andere sprechen und beanspruche auch nicht, allgemeinverbindlich zu reden. Es gibt ganz unterschiedliche Wege, sein Leben neuzuordnen, das zuvor vom Alkohol begleitet oder gar bestimmt worden ist. Ich rechne sogar damit, dass sich – je nach Persönlichkeitstyp – ganz unterschiedliche Wege für jemanden als richtig erweisen. Es gibt Indizien, dass manche Wege begehbarer sind als andere, aber damit diese uns zum Ziel führen, gehört immer wesentlich dazu, dass man sich auf ihnen wohlfühlt. Dazu einige Gedanken von mir:
Häufig stellt sich die Alternative zwischen einem sogenannten „Kontrollierten Trinken“ und einer „Alkoholabstinenz“. Ich habe diese Alternative für mich verworfen, weil mir persönlich beide Denkweisen nicht entsprechen.
Das Konzept eines kontrollierten Trinkens kann ich zunächst nachvollziehen. Es entlastet und nimmt Angst vor der Abstinenz. Der Gedanke, lebenslänglich auf Alkohol verzichten zu müssen, erscheint in unserer Gesellschaft grausam. Zudem möchte ich mich vor anderen Menschen nicht selbst als „Alki“ stigmatisieren oder stigmatisieren lassen. Ich möchte mich nicht ständig dafür rechtfertigen müssen, kein Alkohol zu trinken. Ich passe mich sozial an, habe aber im Hinterkopf, dass ich aufhören muss, wenn es im Zuge der Alkoholwirkung eigentlich erst anfängt, so richtig schön zu werden.
Aber warum trinke ich denn Alkohol, wenn nicht, um Alkohol zu trinken. Und wenn ich Alkohol trinken will, warum sollte ich dann vorschnell mit dem Trinken aufhören, wenn mich dabei das Bedürfnis überfällt, am liebsten weitertrinken zu wollen. Was mich stoppen soll, ist der eigene Zeigefinger, der mir droht: „Du darfst nicht weitertrinken!“, „Sei doch vernünftig!“ Es winken negative Konsequenzen. Halte ich es für erstrebenswert, mich gegen meine eigenen Bedürfnisse zu richten? Findet man so zu einem inneren Frieden mit sich selbst? Und wenn alle sozialen und inneren Kontrollmechanismen nicht greifen? – weil mich hier niemand kennt, weil ich keinen Verpflichtungen nachkommen muss und auch keine Konsequenzen zu befürchten habe? Der eigene Vorsatz, nicht weitertrinken zu wollen, ist doch vom Alkohol schnell gebrochen. Der Zauber des Jetzt, des einmaligen Moments ist dann stärker als die räsonierende Vernunft. Aber wenn ein sogenanntes „kontrolliertes Trinken“ für mich nicht in Frage kommt, wie ist es um die Alkoholabstinenz bestellt?
Eine Alkoholabstinenz macht mir persönlich Angst und legt mir eine dauerhafte Selbstverpflichtung auf, die mir einen lebenslangen Verzicht suggeriert. Ich möchte aber nicht auf Alkohol „verzichten“. Beim Gedanken eines Verzichts auf Alkohol schleicht sich bei mir ein unangenehmes Schamgefühl ein, an einer bedauernswerten Krankheit zu leiden, die mir zuflüstert, wie schön es doch wäre, wenn ich trinken dürfte.
Doch dieses Nicht-Dürfen ist für mich zu einem Parasit des Lebens geworden, das sich negativ über den Alkohol definiert. Das wäre eine Abstinenz, die selbst am Alkohol parasitiert, und der auf kurz oder lang das Schicksal droht, vom Alkohol aufgelöst zu werden. Ich möchte doch wissen, warum ich auf etwas verzichten sollte. Der Gedanke, auf Alkohol zu verzichten, hilft mir nicht. Der eigene Zeigefinger „Sonst dies und das…!“ verliert auf Dauer immer gegen die Versuchung.
Bei einem bewussten Leben geht es stattdessen nicht mehr um das Nicht-Dürfen, sondern um das Nicht-mehr-Müssen. Dieser Perspektivwechsel hat mir persönlich geholfen. Mit einem achtsamen Bewusstsein erlebe ich meine Umwelt nun sehr viel intensiver. Ich habe gelernt, mich geradezu an meiner Nüchternheit zu berauschen und habe das Gefühl liebgewonnen, eine klare und reine Seele zu haben, um einen Wodka-Werbeslogan zu missbrauchen.
Die reine Abstinenz gibt mir keine Antwort und eröffnet mir keine neuen Perspektiven jenseits des Alkohols. Man mag einwenden, dass das pure Begriffsakrobatik ist. Aber psychologisch macht das einen himmelweiten Unterschied. Und wenn es beim Umgang mit Alkohol nicht in erster Linie um Psychologie geht, dann verstehe ich nicht, warum Alkohol getrunken wird, warum andere sich entschließen, nicht mehr zu trinken, und andere wieder anfangen zu trinken, obwohl sie es eigentlich nicht wollten. Die inneren, erfahrungs- und gefühlsaufgeladenen Bilder sind doch gerade entscheidend: z.B. die Bilder eines schaumgekrönten Bieres nach der Arbeit, an der viele alte Gefühle und Geschichten hängen, die uns Alkohol so schmackhaft machen. Der Abstinenzgedanke bietet mir nur Verzicht an.
Daher wünsche ich jedem, der nüchtern leben will, eigene Bilder zu kreieren, die mit schönen Gefühlen verbunden sind. Ich habe für mich eine Alternative zur Abstinenz entdeckt. Wenn mich andere fragen, warum ich nichts trinke, sage ich ihnen häufig, dass mir der nüchterne Gefühlszustand besser gefällt. Ich habe bis heute noch niemanden getroffen, der dafür kein Verständnis gezeigt hätte. Vielmehr habe ich immer das Gefühl gehabt, dass viele diese Haltung sogar bewunderten und interessant fanden
Also nein, ich trinke nicht deshalb nicht mehr, weil ich auf Alkohol verzichten will. Ich habe mein Bedürfnis zu trinken, angesichts eines besseren Lebens verloren, weil mir meine Lieben und ich mir selbst dafür zu wertvoll geworden sind. Dieser Gedanke hat mich von meinen Schamgefühlen befreit und mich wieder meiner selbst gewiss gemacht.