Mein Papa trank

  • Hallo liebe Community, liebe Angehörige,

    Mein Vater trank. Wie lange weiß er nicht mehr. Wir wissen es auch nicht genau.
    Es war halt normal, dass er am Wochenende nach dem Tennis mit seinen Freunden
    noch das ein oder andere Bier trank. Auch das Glas Wein am Abend war für uns Kinder
    nichts Ungewöhnliches oder Schlimmes. Vor seinen Kindern kann man so eine Schwäche
    gut verstecken.

    Doch unserer Mutter ging es da anders. Sie bemerkte es schon früh,
    dass Papa zu viel und zu oft trank. Sie war dabei, als das Glas Wein vor dem Fernseher
    zu so vielen wurde, dass er direkt auf dem Sofa volltrunken einschlief. Fast jeden Tag.
    Die Ehe unserer Eltern litt darunter, ging daran zu Bruch. Meine Mutter konnte irgendwann
    nicht mehr. Sie sprach schon lange mit ihm darüber, weniger zu trinken.
    Sie drohte, ihn zu verlassen. Sie konnte es nicht mehr ertragen und suchte immer mehr die Schuld in sich.
    Doch es half nichts, eines Tages zog sie aus…

    Mein eigener Vater war jemand, für den es unmöglich schien den Konsum zu kontrollieren.
    Nach der Trennung unserer Eltern konnte er die Alkoholsucht auch nicht mehr vor meiner
    Schwester verstecken. Sie wohnte damals noch zuhause, um ihr Abitur zu machen, und sie
    musste fortan zusehen, wie mein Vater sich nicht mehr richtig um die alltäglichsten Pflichten
    kümmern konnte, wie er nachmittags schon Bier trank und wie er einfach am Esstisch neben
    seinem halbleeren Teller einschlief. Sie litt unter seiner Sucht.
    Sie fühlte sich zuhause nicht mehr wohl, floh immer öfter zu Freunden und kam nur noch
    zum Schlafen nach Hause. Geredet hat sie mit niemandem darüber, auch nicht mit mir.

    Mein Name ist Mika und ich wohne in Hamburg. Ich würde gerne das persönliche Gespräch
    mit Euch suchen, um die schweren Situationen meiner Mutter und meiner Schwester besser
    zu verstehen und nachzuvollziehen. Mithilfe dieser Gespräche möchte ich Euch die Möglichkeit
    geben, über die Auswirkungen einer Sucht zu sprechen und zusammen den
    (in meinem Fall von mir versäumten) Leidensweg eines Angehörigen aufzuarbeiten.

    Außerdem würde Ich gerne als persönlich Betroffener eine sehr persönliche fotografische Arbeit
    über das Thema der Alkoholerkrankung aus der Sicht der Angehörigen machen, um ein wenig
    mehr über das Thema aufzuklären, da es doch sehr präsent in unserer Gesellschaft verankert ist,
    aber zu wenig darüber geredet wird. Dazu bräuchte ich die Hilfe, von denjenigen, die Lust haben
    mitzumachen, da die Sucht einer/s Anderen ein sehr schwer fotografisch umsetzbares Thema ist.

    Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr Euch einfach meldet, wenn ihr Lust habt darüber zu reden
    und mich näher kennenzulernen.

    lieben Gruß, Mika

  • Grüß Dich lieber Mika,

    und erstmal vielen Dank für Deine ausführliche und offene Geschichte. Bestimmt war es für Dich nicht einfach diese zu schreiben.

    Deine Erlebnisse mit Deinem Vater und selbstverständlich auch die Erlebnisse Deiner Mutter und Deiner Schwester sind gerade für uns ehemalige aktive Trinker ein Paradebeispiel dessen, wie sehr Angehörige an einer Alkoholsucht eines Familienmitgliedes leiden und wie dadurch eine Familie daran zerbrechen kann.
    Scham und Schuldgefühle durch falsch vermittelte oder schon längst überholte Glaubenssätze haben da natürlich auch noch mit reingespielt, den Leidensweg verlängert und dadurch sogar verschlimmert!

    Süchtige Menschen haben kein Auge und Gespür dafür, wie sehr das soziale Umfeld, insbesondere die Familie unter einer Abhängigkeit leiden kann.

    Und auch für uns trockene Alkoholiker ist es oftmals ein langer Weg zur Sichtweise und Erkenntnis um diese Auswirkungen auf das soziale Umfeld.
    Deswegen ist Deine Geschichte, stellvertretend für viele.



    Dein Wunsch ist mehr als nachvollziehbar. Es geht um das Aufarbeiten des Leides, des Schmerzes, der Scham und der (ungerechtfertigten) Schuld die auf Dir und Deiner Schwester und Mutter lastet.


    Mein persönlicher Rat für Dich:

    als trockener bzw ehemaliger aktiver Alkoholiker, werde ich Dir nur bedingt weiter helfen können. Und die allermeisten hier bei uns im Forum teilen das gleiche Schicksal wie ich, als trockener Alkoholiker. Von daher sind wir vielleicht nicht gerade die perfekte Zielgruppe die Dich dabei unterstützen kann, weil Du in diesem Fall mehr das Gespräch mit Gleichgesinnten bzw Betroffenen brauchst.

    Was natürlich jetzt nicht heißen soll, dass wir nicht gewillt sind Dir zu helfen. Was im Rahmen unserer Möglichkeiten und freilich eines jeden einzelnen ist helfen wir sehr gerne.
    Ich wollte damit lediglich nur gesagt haben, dass die Masse hier ehemalige Alkoholiker sind und keine Angehörige.

    Angehörige gibt es hier natürlich auch und vielleicht schreiben hier noch welche auf Deinen Beitrag, dass wäre natürlich der Idealfall.

    Effektiver für Dich wäre es, meiner Meinung nach, in eine Selbsthilfegruppe zu gehen speziell nur für Angehörige von Alkoholsüchtigen Menschen.
    Dort ließe sich auch Dein Vorhaben für ein fotografisches Projekt auch besser umsetzten, als hier in einem Internetforum.
    Was jetzt aber auch nicht heißen soll, dass Du es nicht versuchen sollst. Wenn Du Dein Projekt, deine Idee erklärst, vielleicht findet sich ja der ein oder andere Teilnehmer.

    Und selbstverständlich darfst Du uns Löcher in den Bauch fragen wenn Du Fragen hast, dafür sind wir da!

  • Hallo Mika,

    ich schreibe Dir als Tochter aus alkohol-geprägtem Elternhaus. Bei uns stimmte die
    Fassade, meine beiden Eltern funktionierten auch in ihren Jobs weiterhin. Also kein
    direktes Beispiel für den leidvollen Weg, den Deine Schwester durchlaufen musste.

    Mir kamen beim Lesen zu Deinen Vorhaben eigene Gedanken, die ich einfach nur
    hier lassen möchte. (Falls sie für Dich nicht passen, einfach liegen lassen. :) )


    Sie fühlte sich zuhause nicht mehr wohl, floh immer öfter zu Freunden und kam nur noch
    zum Schlafen nach Hause. Geredet hat sie mit niemandem darüber, auch nicht mit mir.

    Meine Frage dazu:
    Fühlst Du Dich dafür in irgendeiner Weise schuldig? Ist das der Auslöser für Deinen Wunsch,
    alles in Form eines - auch für andere Menschen - zugänglichen Projekts aufzuarbeiten?
    (Deiner Schwester wäre unabhängig davon aus meiner Sicht direkter gedient, wenn sie
    aus erster Hand und unmittelbar an den Erfahrungen Gleichgesinnter teilhaben kann, wie
    es in Selbsthilfegruppen der Fall ist. Dafür müsste sie selbst offen sein. Erst einmal Namen
    für das eigene innere Leid zu finden, indem sie sich in anderen Berichten wieder erkennt,
    ist oft der erste Schritt, sich überhaupt mit dem eigenen Erleben auseinander setzen zu können.
    Informieren könntest Du sie unterstützend über die möglichen Angebote an ihrem Wohnort.)



    Ich würde gerne das persönliche Gespräch
    mit Euch suchen, um die schweren Situationen meiner Mutter und meiner Schwester besser
    zu verstehen und nachzuvollziehen.

    Informationen über die Erlebniswelt eines Angehörigen aus einem alkoholgeprägten
    Haushalt könntest Du unmittelbar aus bestehenden Programmen gewinnen. Hier mal ein
    Link zu vielen persönlichen Berichten, die in einem eigens dafür eingerichteten Blog (von
    der Selbsthilfegruppe Al-Anon) zusammen getragen und nach einer Prüfung veröffentlicht
    werden. Die Beiträge stammen von Angehörigen in Genesung. "Genesung" bedeutet, dass
    sie sich empfohlener Mittel und gedanklicher Annäherungsweisen bedienen, um ihre eigene
    Rolle im System "Sucht" besser begreifen und sich nach und nach daraus lösen zu können.
    Der verlinkte Beitrag ist nur einer von vielen, die man rechts am Rand auswählen kann:
    https://blog.al-anon.de/endlich-an-einem-sicheren-ort.html



    Mithilfe dieser Gespräche möchte ich Euch die Möglichkeit
    geben, über die Auswirkungen einer Sucht zu sprechen und zusammen den
    (in meinem Fall von mir versäumten) Leidensweg eines Angehörigen aufzuarbeiten.

    Darf ich Dir eine Frage stellen? - Fühlst Du Dich verantwortlich oder als nicht vor
    Ort lebender Bruder vielleicht schuldig daran, dass Deine Schwester mit dieser
    Situation Deines Vaters konfrontiert war? Das ist für Angehörige nämlich sehr oft
    der Fall. Dass sie denken, "hätten sie nur ... (rechtzeitig eingegriffen), wäre das
    alles nicht so weit gekommen". (Sucht hat aber nichts mit Hilfsbereitschaft allein
    zu tun. Darin decken sich sämtliche Erfahrungen Alkoholabhängiger wie Angehöriger,
    die Du hier mit lesen kannst.)



    Außerdem würde Ich gerne als persönlich Betroffener eine sehr persönliche fotografische Arbeit
    über das Thema der Alkoholerkrankung aus der Sicht der Angehörigen machen, (...)
    Dazu bräuchte ich die Hilfe, von denjenigen, die Lust haben
    mitzumachen, da die Sucht einer/s Anderen ein sehr schwer fotografisch umsetzbares Thema ist.

    Auch dazu kam mir eine Frage: Berührt es Dich selbst so intensiv, dass Du eine Form suchst, das
    Thema sichtbar auszudrücken (Fotos)? Oder liegt Deinem Wunsch das Bedürfnis zu Grunde, auf
    irgendeine Weise auszugleichen, dass Du nicht selbst Zeuge der Situation im Elternhaus warst,
    um direkt zur Zeit und am Ort eingreifen zu können?

    Ich frage das so nachdrücklich, weil es mir wichtig erscheint, in sich selbst Klarheit zu haben, aus
    welchen Motiven man etwas verfolgt. Ist es ergebnis-gebunden, unterstellt man eigene Gewinne
    (für andere?), oder geht es um eigene tiefere Einblicke, vielleicht auch das Akzeptieren der eigenen
    Hilflosigkeit über die Sucht eines anderen. (Das wäre aus meiner Sicht der erste Schritt. Vorher ist
    ein Projekt möglicherweise unbewusst zum Erfolg verdonnert, um sich eben nicht hilflos fühlen zu
    müssen. Das würde dann Deinen Leidensweg, den Kampf gegen die Machtlosigkeit, unnötig in die
    Länge ziehen, und an äußere Erfolge oder eine "Verbesserung" der Situation von Betroffenen ketten.
    Damit würdest Du in die klassische Falle der Co-Abhängigkeit trudeln, selbst etwas ausrichten zu
    müssen, damit es anderen besser geht. Diese anderen haben einen guten inneren Kompass, wenn
    sie selbst Hilfe suchen. Gegen die mögliche Scham als Hindernis hilft das Einlesen, z.B. Online (link).


    Ich kann Deinen Wunsch sehr gut nachfühlen, durchs Aufarbeiten und Sichtbar machen etwas "für
    das Thema" tun zu wollen. Ich finde auch die Idee eines persönlichen Foto-Projekts sehr nachvoll-
    ziehbar. Es ist nur schwer zu unterscheiden, ob Du es für Deine eigene Beruhigung* tun möchtest
    oder in Interesse Deiner Schwester? (Wie ist denn Euer Kontakt, spricht sie mit Dir über diese Zeit?)

    * = Sorry, ich unterstelle aus irgendeinem Grund, dass Du Dich beruhigen möchtest. Vielleicht
    gibt es einen ganz anderen Grund, der meiner Sicht verborgen bleibt. Auch ich bin ja geprägt.

    Einfach alles Liebe und Gute für alles, was zur Aufarbeitung Eures Themas mit dieser Sucht gehört,
    das wünsche ich Dir und Deiner Schwester von Herzen!

    Viele Grüße
    Wolfsfrau

  • Hallo Mika, :)

    bist Du noch da? Ich hoffe, Du schreibst hier weiterhin, um Dich mitzuteilen.
    Ganz unabhängig davon, was jemand (wie z.B. ich) dazu spontan denkt. Eine
    Idee reift ja vor sich hin. Ich hoffe, ich habe Dich nicht 'platt' geschrieben ... schwitz.

    Liebe Grüße und einen schönen Mai-Feiertag!
    Wolfsfrau

  • Hej Wolfsfrau,

    entschuldige meine verspätete Antwort. Ich war länger nicht da und hab es irgendwie nicht geschafft zu antworten. Auch weiß ich leider nicht, wie man so schön Zitate in die Antwort einbaut.

    Deshalb versuch ich einfach so zu antworten:

    Also schuldig meiner jüngeren Schwester oder meinem Vater gegenüber fühle ich mich nicht. Es ist für mich eher eine Art verantwortungsvolle Pflicht und Chance, das familiäre Schicksal, das hier alle teilen, mit meiner Profession der Fotografie aufzuarbeiten und auch andere mit der Arbeit über das Thema aufzuklären und zu informieren, um auf das Problem, was Alkoholkonsum mit sich bringen kann, in unserer Gesellschaft hinzuweisen.#

    Und natürlich berührt mich das Thema sehr, da mein Vater durch den Alkohol sehr große Schwächen aufgezeigt hat und nicht mehr Herr der Lage war, bis er die Chance ergriffen hat, eine stationäre Behandlung zu nutzen, um vom Alkohol wegzukommen.
    Aber noch viel trauriger macht mich, dass es es zu wenig Aufklärungsarbeit über Akoholerkonsum, die daraus resultierende Alkoholsucht und dessen Folgen gibt. Es macht mich traurig, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von alkoholischen Getränken so groß ist, dass es zum Teil zum guten Ton gehört, zu trinken...
    Und ich finde, da muss viel mehr öffentlich kommuniziert werden. :)

  • Hallo mika,

    Danke für Deine Zeilen, hier in Deinem Faden!

    Jetzt kann ich mir besser vorstellen, was Dich motiviert. 44.

    Berichte mal weiter von Deinem Projekt, ja?

    Das finde ich sehr interessant, wenn auch etwas schwierig
    mit den Bildern. Der Fotografierte wäre ja "in Sucht" und
    würde sich vielleicht nicht gerade dann für die Öffentlichkeit
    ablichten lassen (wollen), oder?

    Vielleicht habe ich auch Dein genaues Vorhaben nicht ganz
    richtig verstanden. - Ich lese hier jedenfalls gern weiter mit.

  • Hallöchen,

    in der Tat ist es sehr schwierig überhaupt Kontakt zu finden.

    Bisher habe ich versucht über Suchtberatungsstellen und persönliche Bekanntschaften von meinem Vater und auch von Kommilitonen und Lehrenden Menschen kennenzulernen, bisher leider ohne Erfolg.

    Auch mein Konzept entwickelt sich mehr und mehr weiter, was es auch muss, da ich keinerlei stereotypischen Bilder von Menschen in der Opferrolle reproduzieren möchte. Sondern meine Vorstellung ist es, die Angehörigen mit anmutenden Portraits bei natürlichem Licht in ihren Räumen der Geborgenheit und Sicherheit zu fotografieren, denen Räumen, die sich durch die Sucht des Angehörigen zum Teil in das Gegenteil verkehren.
    Die Betrachter sollen dann durch die Kontextualisierung durch ein weiteres Bild (evtl. Repro-Aufnahme von einem Brief) oder eines Tonmitschnittes die Thematik erkennen, verstehen und sich damit beschäftigen.

    Als Inspiration und Orientierung dient bei dieser Arbeit, die Arbeit meiner lehrenden und mich in der Erarbeitung begleitenden Fotografien Andrea Gjerstvang, die dieses Projekt über die überlebenden Jungendlichen des Massakers auf der norwegischen Insel gemacht hat:

    https://www.andreagjestvang.com/one-day-in-history#0

    lieben Gruß, Mika

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