Guten Morgen, Stengel,
(...) Deshalb ist meine Überzeugung, dass ich mit meinem inneren Einverständnis, ihn in dieses
Verderben rennen zu lassen, meinen Sohn vollständig und unwiderruflich für immer verliere.
Bedeutet Überzeugung: Urteil Deines Verstandes MIT Einverständnis des Gefühls?
Ich kann mir das nicht vorstellen, dass es nicht weh tut. Trotz aller Wut und Machtlosigkeit,
egal ob über die Sucht oder das beschriebene System. (Dein Eifer muss irgendwo her kommen.)
Ich bleibe mal bei mir: In ärgsten Zeiten meiner Co-Abhängigkeit habe ich Infos einholen
wollen, was ich tun kann, damit der Haushalt meiner Eltern nicht einfach zusammenbricht,
also unbemerkt und dem eigenen Verfall überlassen. (Ich wusste nur, ICH will nicht kontrol-
lieren. Ich kann gar nicht zurück ins Familiengetriebe, ohne mich wieder selbst zu verlieren.)
Ergebnis: Das geht nicht, im vorhinein zu "sichern". Unser System greift erst bei aktivem
Hilfegesuch des Betroffenen. Ich habe das schier kaum aushalten können, so gaaar nichts
- wenigstens im Außen - für meine Eltern gesichert zu wissen (dass mal jemand guckt, ohne
dass ICH mich persönlich in ihre Verstricktheit zurück spule).
Mit dieser Wahrheit, dass wirklich nur SIE Schritte zu ihren Gunsten veranlassen können,
muss(te) ich - täglich wieder neu - leben lernen.
Noch eine Beobachtung: Meine Tante hat einen inzwischen wohl auch alkoholabhängigen
Sohn (60 Jahre) im Haus wohnen, den sie abwechselnd braucht (Arztbesuche) und lästig
findet. (Weil er von ihr und seiner Schwester finanziell mitgetragen wird, was Wut macht.)
Ich habe irgendwo in mir selbst so einen Ärger aufsteigen, wenn ich mir die beiden Frauen
vorstelle, wie es ihnen damit gehen muss, dass ich NICHT wirklich glauben kann, sie würden
ihn NICHT sehr wohl gern sich selbst überlassen. Also, ich glaube: Sie würden ihn gern ...
(UND ich fühle Ärger in der Position meines Cousins, "so" behandelt zu werden, ambivalent.)
DAS darf man aber nicht wirklich fühlen (wollen), als "gute" Mutter, Schwester, Verwandte,
Bekannte, ... - Und da beginnt das Fatale: Die eigene Wut vorenthalten, macht alles unehrlich.
Der Süchtige spürt die Ablehnung, leugnet seine strukturelle Abhängigkeit (Geld, Wohlwollen),
um sein Selbstbild halbwegs in Takt zu halten ... und gerät immer weiter weg von seinem Gefühl.
Mein Cousin ist inzwischen völlig lethargisch, immer noch gutherzig, aber selbst nicht mehr "da".
Manchmal denke ich: Eine echte, wütende, FÜHL-bare Ansage, brächte beiden Seiten mehr.
Den Ärger am staatlichen System abzulassen, oder an der vermeintlich erwarteten "Etikette"
(man muss seine Kinder gefälligst "lieben"), verlagert aus meiner Sicht Kräfte, die zum Abgrenzen
IN den Beziehungs-Dialog gehören, ins Ödland.
Mein Therapeut half mir mal sehr mit dieser Unterscheidung:
Dem anderen Heil-ung / Lösung SEIN wollen, das ist Sucht. (Meine, als Angehörige.)
Heil-sam dagegen ist die klare Verbalisierung der eigenen Grenzen. (Kann so nicht.)
Das ist dann nicht "lieb" im falschen Sinn, aber liebevoll, da es Ehrlichkeit schenkt.
An der Stelle stehe ich noch. Aber in mir wandelt sich vieles, seit ich das wirklich
auch selbst so zu fühlen beginne.
Alles Gute für Deinen eigenen Weg durch alles, und viel Herz für Deine eigenen Gefühle,
das wünsche ich Dir.
Wolfsfrau