Kann man Alkoholismus/Abhängigkeit als "Schmuh" bezeichnen

  • "Rückfälle" nach langjähriger Abstinenz bewerte ich ähnlich wie bassmann.
    Der Umstand, dass ein Betroffener nach Jahren erneut zu seinem Suchtmittel greift, ist ja nicht auf eine körperliche, akut bestehende körperliche Abhängigkeit zurückzuführen - vielmehr handelt es sich aus meiner Sicht um eine bewußte Entscheidung:
    "ICH MÖCHTE / WILL TRINKEN * RAUCHEN * KIFFEN * etc. !!!*
    Aus diesen Überlegungen heraus halte ich den Begriff "Rückfall" eh für falsch gewählt und für eher verniedlichend:
    "RückFALL" beinhaltet etwas Passives, etwas, was über einen kommt - etwas Fremdgesteuertes. Aus meiner Sicht ist genau das Gegenteil der Fall:
    Aus welchen Gründen auch immer sieht der Betroffene in der entsprechenden Situation keine Handlungsalternative - die Entscheidung zum Konsum wurde bewußt getroffen.
    Bei der Rückfallanalyse kann an dieser Stelle auch punktgenau eingegriffen werden: "Warum habe ich diese Entscheidung getroffen - warum gab es für mich augenscheinlich keine Handlungsalternative - warum brauchte ich an dieser Stelle den Drogenkick?"
    Sich diesen Fragen selbstkritisch stellen zu können - das haben langjährig abstinent lebende Süchtige in der Regel gelernt. Diese Ressource ist bei den meisten Betroffenen vorhanden - daher möchte auch ich gamma draconis massiv widersprechen, dass mensch nach einem Rückfall angeblich "auf nichts zurückgreifen" könne:

    Genau diese Fähigkeit der Selbstreflektion und die Erfahrungen, dass
    - Suchtmittelgebrauch keine Einbahnstraße darstellt,
    - der (Wieder)ausstieg möglich ist und dass
    - suchtmittelfreies Leben sehr gut funktionieren kann und ein Wert für sich darstellt -

    DAS sind die Erfahrungen, an die nach dem Widerausstieg nahtlos angeknüpft werden kann -
    so es dann der/die Betroffene auch will ...

    Beste Grüße
    keppler

  • Wie erfreulich, daß jetzt wieder sachliche Beiträge statt argumentfreien Angriffs herrschen.


    Die Zeiten, in denen ein Rückfall mit einer Katastrophe gleichzusetzen ist, sind doch meines Erachtens hoffentlich und Gott sei Dank vorbei. Wenn der "Gefallene" sofort wieder aufsteht, sprich: zur Suchtberatung geht und/oder sich anderweitig Hilfe sucht und nicht für die nächsten Wochen, Monate oder gar Jahre versumpft, dann kann ich doch den bisher gegangen Weg nicht als gescheitert ansehen.[...]


    Das ist richtig, doch es ist nur die eine Seite der Münze. Einerseits gibt es genau diese Fälle, die nach dem Ausrutscher sofort wieder zur Besinnung kommen und Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich habe noch niemanden erlebt, der so konsequent damit umgegangen wäre, doch es soll sie geben. Andererseits kenne ich aber mehrere Betroffene, die nach dem Rückfall eine lange Leidensgeschichte hinter sich bringen mußten bis hin zu alle zwei Jahre wiederholten "Ausrutschern", die verharmlost wurden, weil sie ja nur kurzfristig waren.

    Obwohl ich weiß, wie sinnvolles Rückfallmanagement aussehen kann, tendiere ich mehr dazu, den Rückfall als riesige Bedrohung anzusehen. Niemand kann gewährleisten, daß man als Betroffener rechtzeitig wieder die Kurve kriegt. Es kann genauso in der geschlossenen Abteilung oder unterhalb der Radieschen enden. Da gehöre ich dann lieber zu denen mit dem großen Warnschild als zu der "ist ja nicht so schlimm"-Fraktion.

    Vielleicht hängt es ja auch davon ab, wie extrem oder mild die eigene Suchtkarriere verlaufen ist.

    Einmal editiert, zuletzt von gamma draconis (22. September 2016 um 19:00)

  • Hallo Keppler,

    Du wolltest uns noch an Deinem Erleben teilhaben lassen.


    Gestern und vorgestern habe ich eine Montage in der Stadt, die es eigentlich gar nicht gibt (Bielefeld ...) durchgeführt: In der Stadthalle, direkt gegenüber des Hauptbahnhofes. In unmittelbarer Nähe der Veranstaltungshalle befindet sich eine Wiese, die DEN Treffpunkt der "Bielefelder" Alki- und offenen Drogenszene darstellt. Die Beobachtungen, die ich da gemacht habe, waren dermaßen erschütternd, daß mich diese Bilder bis heute Abend verfolgen (ich schreibe hierzu noch separat etwas ...).
    keppler

    Lieben Gruß
    Dietmar


  • Obwohl ich weiß, wie sinnvolles Rückfallmanagement aussehen kann, tendiere ich mehr dazu, den Rückfall als riesige Bedrohung anzusehen.

    So wie ich das bei mir selbst erfahre, hängt die Bereitschaft zum erneuten Suchtmittelge- bzw. missbrauch in erster Linie davon ab, ob ich beim Ausstieg eine endgültige, also eine Entscheidung ohne Hintertürchen treffen konnte. Das funktioniert m.E. nur bzw. am leichtesten, wenn ich vor dem Ausstieg aus dem Suchtkreislauf mit meinem Leben als Abhängiger so unzufrieden war, dass mir das Suchtmittel quasi zum Halse raus hing. Und ihr aus tiefstem Herzen treu bleiben kann ich nur dann, wenn ich zumindest zeitweilig erfahre, dass (m)ein Leben in Freiheit ein besseres ist.

    Natürlich bin ich auch in diesem Fall nicht davor gefeit, dass in bestimmten Situationen Impulse/Wünsche in Richtung Suchtmittelkonsum auftreten. (Stichwort Suchtgedächtnis bzw. Erinnerung des Trinkerlebnisses) Nach einer begründet getroffenen Entscheidung, kann ich solche Impulse jedoch als ein Aufflackern der altbekannten Sucht begreifen und zur Tagesordnung übergehen.
    Darüber nachzudenken in der Art von „Soll ich oder soll ich nicht?“ oder „Brauche ich das jetzt oder brauche ich das nicht?“ lohnt sich dann nicht mehr.

    Ich muss mir deshalb keine Bedrohungskulisse in Form eines Rückfallszenarios aufbauen, denn ich weiß, dass mein Leben ohne Suchtmittel“unterstützung“ ein besseres ist.

    So sehe und fühle ich das seit meinem Rauchausstieg vor knapp zehn Jahren.

    Grüße vom
    Bassmann

  • [...]Ich muss mir deshalb keine Bedrohungskulisse in Form eines Rückfallszenarios aufbauen, denn ich weiß, dass mein Leben ohne Suchtmittel“unterstützung“ ein besseres ist.[...]

    Man kann es als Bedrohungskulisse sehen, klar. Man kann es aber auch so sehen, daß ich das bestehende Risiko nicht verdrängen will. Nicht bei jedem Menschen ist das Leben ohne Suchtmittel gleich ein besseres. Ich kenne viele Leute, einschließlich meiner eigenen Erfahrung, für die das Leben ohne Suchtmittel erst einmal eine ziemliche Qual war. Das aber nicht wegen der Entzugserscheinungen, sondern weil eine schon lange bestehende Angststörung ohne das Suchtmittel ungefiltert zu Tage trat. Dann ist es die Angst vor dem noch größeren Elend, die den Betroffenen trocken hält und nicht eine vage Hoffnung auf ein besseres Leben, das vielleicht irgendwann in ferner Zukunft mal eintritt.

    Wir fahren jetzt für ein paar Tage weg, ich habe also keine Zeit, näher darauf einzugehen.

    Bis denne

  • Den Optimismus scheinste ja nun wirklich nicht erfunden zu haben ;)

    gamma. Aber das ist schon auch okay so. Ein jeder nach seiner Facon...

    Dennoch finde ich, dass der Suchtausstieg für dich ja wohl im Ganzen gesehen etwas Positives war. Der Suchtausstieg, und dich dem ungefiltert zu stellen und es Schritt für Schritt aufzuarbeiten, hat dich ja weiter gebracht und stellt so in der Summe von allem doch in absolut positiver Hinsicht etwas Gewinnbringendes dar.

    Es hat sich ja gelohnt. Sonst hättest du es doch nicht gemacht.
    Oder? Verstehe ich das jetzt wieder mal falsch..?

    Bei mir waren es ausgeprägte depressive Muster. Zum Schluss der Sucht sah ich sogar mal gar keinen Ausweg mehr aus dem Labyrinth. In der ersten Zeit dann, in den unmittelbar ersten Wochen, ohne das Suchtmittel blickte auch ich ungefiltert und ohne Schleier in den eher finsteren Spiegel (m)eines zerstörten Inneren.

    Aber ich hatte auch in diesem finsteren Tal stets einen lichtvollen Funken Hoffnung im Blick! Auch weil ich viele Menschen sah die, auf den verschiedensten Wegen, schon über Monate oder gar Jahre Suchtfrei leben und denen es anscheinend doch sehr gut damit geht. Und schon in dieser Zeit merkte ich trotz aller unangenehmen Dinge denen ich mich stellte, dass jeder einzelne Schritt, jeder einzelne kleine Schatten über den ich ins mir noch Unbekannte hinein sprang, eine Bereicherung für mich darstellt und mich konkret weiter brachte. Ich sah und sehe die Entwicklung.
    Durch positive Erfolge (das konnten auch totale Kleinigkeiten sein) spürte ich deutlich wie ich dabei war mir die Kontrolle über mein Leben zurück zu erobern, und das gab mir weiteren Mut und auch Kraft.

    Und ich wurde nicht enttäuscht. Am Ende der Talsole eröffnete sich mir ein sehr lichvoller Weg,
    den ich bis heute hin als sehr intensiv und glücklich erlebe.

    LiS

  • Hallo gamma draconis,

    dein letzter Beitrag wirft bei mir Fragen auf.

    Ich kenne viele Leute, einschließlich meiner eigenen Erfahrung, für die das Leben ohne Suchtmittel erst einmal eine ziemliche Qual war. Das aber nicht wegen der Entzugserscheinungen, sondern weil eine schon lange bestehende Angststörung ohne das Suchtmittel ungefiltert zu Tage trat. Dann ist es die Angst vor dem noch größeren Elend, die den Betroffenen trocken hält und nicht eine vage Hoffnung auf ein besseres Leben, das vielleicht irgendwann in ferner Zukunft mal eintritt.

    Worin besteht in dem geschilderten Fall das noch größere Elend?
    Ist es die Tatsache, dass bei einem Rückfall zur Angststörung auch noch das Elend des Saufens dazukommt? Oder liegt das größere Elend in der Angststörung?
    So ganz wird mir der geschilderte Sachverhalt nicht klar.

    Ich frage mich, ob Angst tatsächlich eine solch starke Triebfeder wie die Hoffnung zu sein vermag. Vor allem, wenn beispielsweise spürbar ist, dass durch den Trinkstopp trotz zu Tage tretender Angststörung etwas Positives in Gang gesetzt wurde.
    Und ich frage mich bei Beiträgen wie dem oben zitierten, wie oder wo da die Motivation zum Suchtausstieg entstehen soll und vor allem wie sie am Leben gehalten werden soll/kann.

    Wäre schön, wenn du irgendwann darauf antworten könntest.

    Gruß
    Bassmann

  • Der Einfachheit halber antworte ich aus der eigenen Erfahrung. Ich kenne zwar etliche andere, denen es genauso ging wie mir, doch wäre Beschreibungen aus zweiter hand.

    Worin besteht in dem geschilderten Fall das noch größere Elend?
    Ist es die Tatsache, dass bei einem Rückfall zur Angststörung auch noch das Elend des Saufens dazukommt? Oder liegt das größere Elend in der Angststörung?
    So ganz wird mir der geschilderte Sachverhalt nicht klar.

    Ziemlich einfach zu beschreiben: das größere Elend lag darin, daß irgendwann der Alkohol zwar noch halbwegs gegen die Angst half, die Begleiterscheinungen der Sucht aber so übel waren, daß es letztendlich genau schlimm oder sogar schlimmer war, als die Angst auszuhalten.

    Ich frage mich, ob Angst tatsächlich eine solch starke Triebfeder wie die Hoffnung zu sein vermag. Vor allem, wenn beispielsweise spürbar ist, dass durch den Trinkstopp trotz zu Tage tretender Angststörung etwas Positives in Gang gesetzt wurde.
    Und ich frage mich bei Beiträgen wie dem oben zitierten, wie oder wo da die Motivation zum Suchtausstieg entstehen soll und vor allem wie sie am Leben gehalten werden soll/kann.

    In den ersten zwei Jahren gab es kaum etwas Positives im Suchtausstieg. Die Entzugserscheinungen gingen zwar zurück, dafür wurde aber die Angst stärker spürbar. Das Verlangen nach Entlastung durch irgendeine Droge war schon stark, deshalb habe ich ja auch etwas später einen Rückfall gebaut. Daß die Angst vor dem Punkt, an dem nichts mehr geht, stark genug war, das siehst du daran, daß ich heute eine erkleckliche Zahl von Jahren suchtmittelfrei bin, vermutlich genauso wie die anderen mit dem gleichen Problem, wie ich es in meiner Anfangszeit hatte. Ich habe die meisten von denen seit einigen Jahren nicht mehr getroffen, deshalb das "vermutlich".

    Als Motivation für ein suchtmittelfreies Leben langte anfangs der Wunsch, einfach nur zu überleben und die Erinnerung an die grauenvollen letzten sechs Monate, in dem ich mehrere Male kurz vor dem Suizid war. Die Idee, daß da eine rosige Zukunft lauern könnte, die kam erst sehr viel später.

    Grüße aus dem Drachenhort

    Nachtrag: Wahrscheinlich kann man sich so einen Ausstieg aus der Sucht nicht vorstellen, wenn man ihn nicht selbst erlebt hat. Das könnte vergleichbar sein zu dem vergeblichen Versuch, einem "normalen" Menschen ohne Suchtproblem die Sucht zu erklären.

    Einmal editiert, zuletzt von gamma draconis (26. September 2016 um 18:41)

  • ... In den ersten zwei Jahren gab es kaum etwas Positives im Suchtausstieg. Die Entzugserscheinungen gingen zwar zurück, dafür wurde aber die Angst stärker spürbar. Das Verlangen nach Entlastung durch irgendeine Droge war schon stark, deshalb habe ich ja auch etwas später einen Rückfall gebaut. ...

    Ich habe den Ausstieg nicht so erlebt - und kenne auch keinen anderen, dem es so ging. Ein klein wenig kommt es mir so vor wie beim Lesen des Buches von Olivier Ameisen "Das Ende meiner Sucht": Auch der ging davon aus, dass es ALLEN Alkoholikern so ginge wie ihm - während der Entgiftung/Langzeit alles tutti, aber außerhalb der "Käseglocke" nur ständiger und nahezu unerträglicher Suchtdruck. Und von diesen Typen habe ich bisher auch nur einen Einzigen kennengelernt.

    Nach meinen Erfahrungen (sowohl den eigenen als auch denen derer, die ich kennengelernt habe) ist der Suchtausstieg an sich mehrheitlich positiv besetzt. Nur die Umsetzung ist oft für Viele deutlich schwieriger, als sie sich vorgestellt haben. Das hat dann aber nichts mit einer "Angst vor der Trockenheit" zu tun. Nur vor dem "Nie wieder" - bis man merkt, dass man doch eigentlich nix vermisst/entbehrt ...

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Ich habe den Ausstieg nicht so erlebt - und kenne auch keinen anderen, dem es so ging. [...]

    Nun, das dürfte einfach Zufall sein. Wie bereits erwähnt kenne ich einige, denen es ähnlich ging wie mir. Vielleicht haben wir uns auch wegen der ähnlichen Geschichte gefunden. Das halte ich für sehr gut möglich. Darüber habe ich aber nie viel nachgedacht. Es war wie es war und ich hatte genug andere Probleme als darüber zu grübeln, wen ich warum treffe.

    Grüße aus dem Drachenhort.

  • Um das Thema für mich zu beenden - ich finde es mittlerweile total ausgekaut - noch ein paar Anmerkungen.

    Das von Greenfox erwähnte Phänomen, daß Betroffenen anfangs davon ausgehen, bei jedem anderen sei die Suchtgeschichte genau wie bei ihnen, kennen wohl die meisten aus eigener Erfahrung. Irgendwann kommen fast alle dahinter, daß die Suchtgeschichten höchst verschieden und individuell sind. Es resultiert aber noch etwas anderes daraus, das erst auf den zweiten Blick auffällt: egal wie lange man schon in der "Szene" ist, es gibt immer noch eine Geschichte, die völlig anders ist, als alles, was man bisher gehört hat.

    Deshalb kann man Geschichten und Erfahrungen austauschen und auch gegebenenfalls nachfragen. Wer aber einen anderen wegen seiner Geschichte oder seiner Erfahrungen in Frage stellt oder gar angreift, der beweist damit höchstens, daß er noch weit entfernt vom nüchternen Denken ist. Das Problem dürfte sein, daß dieses Verhalten einen eklatanten Mangel an Lernfähigkeit beweist. Das wird den Weg zum nüchternen Denken sehr lang werden lassen.

    Bei der Vielfalt an Geschichten und Erfahrungen gibt es kein "richtig" oder "falsch". Entscheidend ist lediglich, ob derjenige seinen Weg erfolgreich gegangen ist oder nicht. Jeder hat die Möglichkeit, sich das herauszusuchen, was ihm passend erscheint. Deswegen ist das nicht passende aber nicht verkehrt, sondern nur für den einen oder anderen nicht passend. Den Unterschied zu lernen ist ebenfalls ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum nüchternen Denken.

    und wech ...

  • Ich war lange nicht hier, aber dieser Thread interessiert mich sehr.
    Die amerikanischen Psychiater haben wegen des jahrhundertelangen Streits, wann denn nun Abhängigkeit beginnt, im neuen "DSM 5" auf die Definition eines eigenen Krankheitsbildes "Abhängigkeit" verzichtet - dort gibt es nur noch die "Substanzgebrauchsstörungen" in unterschiedlich schweren Verläufen.
    Das geht in Deutschland nicht - die Zahlungspflicht der Kranken- und Rentenversicherung ist nämlich auf "das Stadium der Abhängigkeit" beschränkt. Ein blosser "Alkoholmissbrauch" gilt als schlechte Angewohnheit wie Nasebohren oder Nägelkauen, medizinische Interventionen werden nicht bezahlt...

    Seit Jahrzehnten durch hunderte sorgfältiger Studien falsifiziert ist die Legende vom lebenslangen Kontrollverlust. Übereinstimmend zeigen Untersuchungen weltwet eine "Selbstremission" der Suchtkrankheiten - zwischen 60% (Deutschland) und 80% (USA, Canada) der diagnostizierten Alkoholiker geben ihr abhängiges Trinkverhalten im Verlauf wieder auf, sie leben je einem Drittel abstinent, konsumieren "medizinisch unbedenklich" oder sind "symptomfreie Risikokonsumenten".

    Die waren alle falsch diagnostiziert, ein "richtige" Alkoholiker kann das nicht - das ist die klassische Antwort auf diese Erkenntnisse- Kopf gewinne ich, Zahl verlierst du...

    Aber: Alle Studien zu medikamentöser Behandlung des Alkoholismus - egal ob Nalmefen (Selincro) oder Baclofen oder was auch immer - zeigen einen Placebo-Effekt zwischen 23% (BACLAD), 34% (BACLOVILLE) und 40%(Selincro-Zulassungsstudien)

    Dieser Placeboeffekt ist mit der gängigen Theorie nicht erklärbar, schon gar nicht mit der Vorstellung des irreversiblen Kontrollverlustes!

    Heute wird Sucht als erworbene Erkrankung des Gehirns betrachtet. Diese kann entweder über lange Zeiträume selbst remittieren oder zeitlich begrenzt medikamentös addressiert werden.

    "Ist erst einmal ein wirksames Mittel gefunden, werden die Entwöhnungseinrichtungen verschwinden wie die Lungenheilstätten nach der Erfindung des Streptomycins"(Olivier Ameisen im Interview)

    Heute bedeutet "Suchtrehabiitation" meist nur eine Erholungspause für Körper und Seele" in stress- und konfliktarmer Umgebung, ob draus tatsächlich Abstineenz wird, steht maximal 50/50.

    Eine Baclofenbehandlung nach dem konsensuellen französischen Anwendungsleitfaden brachte unter Studienbedingungen eine Erfolgsquote von 58% über 12 Monate, die in der Praxis regelmäßig übertroffen wird. Werden die biochemischen Vorgänge erst besser verstanden und bessere Medikament entwickelt, könnte den Suchtkrankheiten viel von ihrem Schrecken genommen werden.

    "Wenn du hier hineinwillst, wirst du dein Leben lang keinen Tropfen mehr trinken dürfen" - dieses unsichtbare Schild über dem Eingang zu unserer institutionalisierten Suchthilfe schreckt Otto Normaltrinker im Durchschnitt 14 Jahre lang ab, sich Hilfe zu suchen.

    LG

    Praxx

  • WOW - wer hätte das gedacht, dass da doch einer kommt, der weiß, was Schmu wirklich ist ;)

  • Hallo Praxx,

    Seit Jahrzehnten durch hunderte sorgfältiger Studien falsifiziert ist die Legende vom lebenslangen Kontrollverlust. Übereinstimmend zeigen Untersuchungen weltwet eine "Selbstremission" der Suchtkrankheiten - zwischen 60% (Deutschland) und 80% (USA, Canada) der diagnostizierten Alkoholiker geben ihr abhängiges Trinkverhalten im Verlauf wieder auf, sie leben je einem Drittel abstinent, konsumieren "medizinisch unbedenklich" oder sind "symptomfreie Risikokonsumenten".

    es tut gut, mal wieder so etwas zu lesen. Denn genau diese Rückbildung des Kontrollverlusts erlebe ich ja (und fange manchmal schon zu zweifeln an, weil stets im Brustton der Überzeugung verbreitet wird, dass dies unmöglich ist). Diese Erfahrung der Rückbildung des Kontrollverlusts lässt sich jedoch -zumindest von mir- nicht unters Volk bringen. Das (vermeintliche) Wissen über den Alkoholismus scheint schlicht und einfach zu zementiert zu sein.

    Gruß
    Bassmann

  • Und dennoch frage ich mich, ob ich es wirklich wagen sollte, ob sich mein Kontrollverlust nach 8 Jahren der Abstinenz rückentwickelt hat und ich remissioniert bin/sein könnte nixweiss0
    Meine eigenen Erfahrungen und die etlicher anderer mir bekannter Personen und auch unbekannter (siehe z.Bsp. hier im Forum) sprechen eine andere Sprache - also lasse ich tunlichst die Finger von so einem Versuch.

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    können wir nur selber tun!

  • Eine sehr interessante Entwicklung, die ich seit langer Zeit schon verfolge.

    Zitat

    Das geht in Deutschland nicht - die Zahlungspflicht der Kranken- und Rentenversicherung ist nämlich auf "das Stadium der Abhängigkeit" beschränkt.


    Das ist hier in Deutschland der Knackpunkt.

    Zitat

    "Ist erst einmal ein wirksames Mittel gefunden, werden die Entwöhnungseinrichtungen verschwinden wie die Lungenheilstätten nach der Erfindung des Streptomycins"(Olivier Ameisen im Interview)


    Es geht um eine Menge. Unzählige Arbeitsplätze, die an der Sucht hängen, der gute Ruf der vielen Abstinenzpäpste, ein gigantischer Medikamentenverbrauch, … und nicht zuletzt, um eine Heerschar von in die Irre geführten „Alkoholiker“. (Das ist jetzt sehr dramatisch ausgedrückt.)

    Ein Institut meiner Wahl geht bereits diesen Weg. Mit durchaus beachtlichen Erfolgen.

    Aber wie Du schreibst, Praxx, Kopf oder Zahl …
    Auch wie Du schreibst, geht es gar nicht so sehr darum, ob und wie das Suchtmittel jemals wieder konsumiert werden darf, sondern um den Einstieg, der vielen aufgrund der Hürden (Du darfst nie wieder …, wenn Du jemals wieder auch nur einen Schluck, dann …) extrem schwer gemacht wird.
    Dazu kommt die strikte Klassifikation. Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker.

    In der modernen, aufgeschlossenen Behandlung wird dann auch nicht mehr gleich von einem „Rückfall“ gesprochen, sondern von einem „Vorfall“. Der sich bei gar nicht so wenigen auf einen sehr kurzen Zeitrahmen eingrenzen lässt, sodass der Konsum eher niedriger als bei Nichtbetroffenen angesehen wird.

    Was mir persönlich – immer noch – fehlt an der Entwicklung, das ist die zwar sehr diffizile und individuelle Behandlung der rein psychischen Auslöser für die Sucht.
    Rückblickend darf ich feststellen, dass wohl wenige diesen anstrengenden und zeitraubenden Weg bis zum Ende gehen. Dann lieber die alten, ausgetretenen Pfade beschreiten.

    @Grennfox
    Darum geht es gar nicht. Niemand hat etwas davon geschrieben, dass Du Deine Abstinenz "wagen" sollst.
    Aber auch durch die Wiederholung von noch so vielen Kontakten zu anderen Betroffenen wird die Entwicklung nicht in Frage gestellt.

    Grüße
    Dietmar


  • @Grennfox
    Darum geht es gar nicht. Niemand hat etwas davon geschrieben, dass Du Deine Abstinenz "wagen" sollst.
    Aber auch durch die Wiederholung von noch so vielen Kontakten zu anderen Betroffenen wird die Entwicklung nicht in Frage gestellt.

    Worum geht es denn dann? Natürlich will mich hier keiner (direkt) überreden, doch mal wieder zu probieren.
    Ich frage mich persönlich nur, von welcher "Entwicklung" Du/ihr sprecht? Bin ich vielleicht altmodisch und nicht mehr in, nur weil ich WEISS (aus Erfahrung - und schließlich kenne ich mich ja schon ein wenig), dass ich wieder voll zuschlage, sobald ich wieder anfange/probiere? Oder weil es bisher allen, die ich kenne, genauso ergeht? Oder weil ich sehr wohl die vielen "Drehtür-Patienten" in den Krankenhäusern registriere (kann ja die Augen zumachen - oder nicht mehr ins Krankenhaus gehen)?

    Sorry, aber ich seh das Ganze nunmal anders.

    Gruß
    Greenfox

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Das hat nichts damit zu tun, "wie man das sieht", und schon gar nicht, "wie man das für sich hält".

    Das hat mit grundlegender Forschung und Erfahrung zu tun, die niemand vom Tisch wischen kann mit "ich sehe das anders".
    Oder meinst Du, es werden Studien gemacht und Ergebnisse erzielt, weil das irgendjemand "so sehen will".
    Anders herum könnte es stimmen: Mit Sucht wird eine Unmenge Knete gemacht.

    Wenn Du den Beitrag von Praxx aufmerksam gelesen hast - und er ist inhaltlich identisch zu den mir bekannten Studien und Aussagen bedeutender Suchtforscher (wenn ich sie so mal nennen darf.), dann geht daraus hervor, dass Du ja gerade vor allem in Einrichtungen unterwegs bist, die ganz gut davon leben. Da unterstelle ich jetzt nicht, dass die etwa einen Suchtausstieg nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen verhindern wollen.

    Ich dachte mir schon beim Lesen von Praxxs Beitrag, dass das Thema hier eine gewisse tragsich-komische Brisanz in sich birgt. ;)
    Man sollte auch nicht darüber streiten. Es ist mehr etwas für ein Fachfourm.

    Dietmar

  • Man sollte auch nicht darüber streiten. Es ist mehr etwas für ein Fachfourm.

    M.E. ist es etwas, das uns in Bezug auf den Ausstieg aus der Alkoholabhängigkeit eine Menge Angst nehmen kann. Meine Hoffnung ist, dass vielen Abhängigen auf diese Weise ein zeitlich weitaus früherer Ausstieg als zurzeit gelingt.

    Denn: Man muss sich nicht mehr mit dem Stigma des „einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker“ herumplagen und aus diesem Grunde z.B. auch nicht über viele Jahre immer wieder versuchen sich zu beweisen, kein Alkoholiker zu sein.

    Begriffe wie der des Alkoholikers sind doch ohnehin nur Worthülsen. Und sie werden durch Adjektive wie nass und trocken nicht besser oder aussagekräftiger.

    Was wirklich zählt, ist die Frage, ob ich unter meiner Abhängigkeit leide oder nicht.
    Wenn ich leide und diejenigen, deren Hilfe ich erbitte -oder wie es oft so schön heißt: einfordere- einen so starken Druck aufbauen, dass ich in diesem Druck ein größeres Leid sehe als in meiner Abhängigkeit, läuft etwas falsch.
    Denn dann müssen erst viele Jahre ins Land ziehen, bevor ich so weit unten bin, dass ich mich auf die angebotene Hilfe einlasse.

    Bassmann

    Nachtrag: Wenn ich meinen letzten Satz lese, bekomme ich zum ersten Mal eine Ahnung, warum oft geschrieben wird, dass der Alkoholiker Hilfe suchen und ANNEHMEN muss. Bislang ging ich immer davon aus, dass nur ein Verrückter sich die Mühe macht, Helfer ausfindig zu machen, um dann anschließend zu entscheiden, auf ihre Hilfe zu verzichten.

    Einmal editiert, zuletzt von Bassmann (28. September 2016 um 17:32)

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