Ich denke jeder hat seine eigenen Gründe süchtig zu sein, auch wenn ich hier im Forum viele Überschneidungen sehe. Genauso wie ich mangelnde Aufklärung über Drogen für zu einfach halte, empfinde ich den Artikel als zu einfach gestrickt - und zwar aus eigenen Beobachtungen heraus. Ich kenne mindestens 2 Familien (meine eigene und meine Schwiegerfamilie), wo von 3 Geschwistern 2 süchtig geworden sind und 1 Kind komplett suchtfrei ist.
Die Suchtforschung ist noch lange nicht am Ende. Ich glaube eher, dass hier ganz klar auch genetische Komponenten verantwortlich sind wie suchtaffin man ist und auch welche Copingstrategien man entwickelt um schwierige Lebenssituationen zu ertragen. Wenn es nur das liebevolle Umfeld wäre, würde ich seit mind. 15 Jahren nichts trinken.
Ich bin seit 15 Jahren glücklich verheiratet und mein Mann trinkt fast nie - vielleicht zweimal im Jahr, wenn die Party so nett ist, dass er dazu Lust hat. Ganz anders sein Bruder und die Schwester. Der Bruder ist Kiffer und die Schwester trinkt. Die drei sind altersmäßig dicht zusammen und in einer intakten Familie aufgewachsen, keine Gewalt, keine Trennung. Der Bruder lebt auch in einer intakten Ehe - und das kann ich so sagen, weil ich da Einblick habe, wir sind sehr eng.
Warum habe ich die letzten 15 Jahre weitergetrunken, obwohl ich in einer guten Partnerschaft bin? Ich habe zwischendrin immer wieder Trinkpausen gehabt auch mal 2 Jahre. Alkohol ist meine Medizin. Ich komme mit schlechten Gefühlen überhaupt nicht zurecht. Ich kann nicht weinen - außer, wenn mein Haustier stirbt. Ich habe in meiner Kindheit viel körperliche und seelische Gewalt erlebt und würde heute in der Rückschau sagen, dass ich mich damals von meinen Gefühlen abgespalten habe, um das ganze zu ertragen. Eine Überlebensstrategie. Und als Erwachsene habe ich das einfach beibehalten - funktioniert ja. Mein Mann ist unglaublich tolerant, was meine Schwächen angeht und hat deshalb nie Druck auf mich ausgeübt, was die Trinkerei angeht - ich denke er hat gesehen, dass das meine Medizin ist. Trotzdem hat er mir oft zu verstehen gegeben, dass das für mich irgendwann ein Problem werden kann.
Warum habe ich nun aufgehört? Zum einen, weil ich merke, dass das körperlich nicht mehr lange gut geht und weil ich den intrinsischen Wunsch nach Freiheit habe. Ich habe früher auch geraucht und am meisten hat mich genervt, dass ich meine Tagesstruktur immer in 90 Minuten Taktungen einteilen musste. Zuhause konnte ich natürlich immer rauchen, aber im beruflichen Kontext nicht. Und so begab es sich, dass ich auf dem Fußweg nach dem Sport plötzlich dachte "wie doof bin ich eigentlich?" Ich habe meine Kippe an einer Laterne ausgedrückt und sie in den dort hängenden Mülleimer samt Schachtel geworfen. Es war ein kurzer Lichtblick, eine spontane Erkenntnis, die ich glücklicherweise nicht vorbeiziehen ließ, sondern sofort umsetzte. Und auch hier war nichts mit "besseres Sozialleben, das zu Drogenabstinenz führte".
Warum ich die Trinkere angefangen habe, finde ich mittlerweile nicht mehr wichtig. Viel wichtiger für das nüchtern werden ist für mich die Frage warum trinke ich JETZT. Ich bin nicht mehr das abhängige Kind, sondern ein freier selbstbestimmter Mensch. Vielleicht ist das auch ein Schritt zum Erwachsen werden die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Der Blick auf das Früher ist schmerzhaft, vor allem wenn ich mir die Frage stelle, was wäre gewesen wenn...? Aber am Ende des Tages führt diese Rückschau nicht zum Ziel und da denke ich dann an AmSees Signatur
Und für mich ist auch ein wichtiger Aspekt: was bereitet mir Freude, was macht mich glücklich und was möchte ich gerne tun? In einer konsumorientierten Welt, wo das Glück der anderen auf Insta, FB und YT so perfekt dargestellt wird, kann man ja fast nur unglücklich sein Mittlerweile werden dort nicht nur "Dinge" konsumiert, sondern auch Achtsamkeit. Was früher mein Haus, mein Auto, mein Boot war, ist heute meine Smoothiebowl aka what I eat in a day, meine Achtsamkeitsübungen aka mindful body, meine Nachhaltigkeit aka ich kaufe mir jedes Jahr immer noch genausoviel Schrott, hat aber das richtige Label - "meine Flugananas hat aber ein CO2 Label!" -> So, wie finde ich jetzt den Weg von der Ananas zurück zur Sucht.
Genauso wie das richtige Umfeld aus der Sucht herausführen kann, kann das Umfeld auch hineinführen - auch ganz ohne schreckliche Kindheit, siehe social media. Ich glaube, ganz unwissenschaftlich, nicht an einen Onefitsall-Ansatz. Und solche Endlosaufsätze kommen dabei rum, wenn ich kränkeld auf dem Sofa liege und gerade nichts anderes tun kann