"Die neuesten Erkenntnisse..." ?

  • Hallo Forum,

    ich hoffe es ist okay wenn ich das hier mal so aufgreife,
    und mal einen neuen Gesprächsfaden darüber aufmache.

    Es geht um den hier im Forum geposteten Link >Suchthilfe-TV< in den ich auch heute wieder mit reingeschaut habe.
    (ist auch in unserer Linksammlung enthalten)

    Ich will mit dem Thema diesen informativen Link ganz sicher nicht in Frage stellen! Sondern möchte einfach gerne Raum öffnen für Gespräch, Austausch und vielleicht auch Diskussion zu den Inhalten auf der Seite.

    Es ist ja definitiv so dass dem einen Dies hilft und dem anderen Jenes.
    Ich möchte aus meinem Leben und aus meiner eigenen persönlichen Erfahrung allerdings schon mal anmerken, dass in den vielen Jahren meiner Sucht solche "Erkenntnisse" dass Sucht anscheinend per se unheilbar sei, und dass sie einen auch nach dem Ausstieg dann noch ein Leben lang beschäftigt, und so weiter… MICH eher immer wieder abgeschreckt haben. Und in mir ein stark ablehnendes, sehr blockierendes Bild erzeugt haben, von etwas anscheinend übermächtigen und wohl unüberwindbarem.

    Meiner Meinung nach besteht durch solche eher einseitige und 'allgemeingültige' Sichtweise z.T. auch das Risiko eine etwas verzerrte Sicht auf die Sucht darzustellen. Dabei geht es, so wie ich das sehe, darin um sehr weit fortgeschrittene Stufen, wenn nicht sogar um Endstadien von Alkoholabhängigkeit. In den allermeisten Fällen gehen diesen Stufen ja aber viele Jahre, meist sogar Jahrzehnte, mit den unterschiedlichsten (vor)Stufen und individuellen Schattierungen des Alkoholmissbrauchs und schleichenden Übergängen in die Abhängigkeit voraus.

    Schaut man zum Beispiel in den Beitrag mit der Beschreibung „Ursachen der Sucht - die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Suchterkrankung...“ dann finde ich dass z.B. gleich am Anfang des Beitrages neueste Erkenntnisse etwa über die genetische Veranlagung als gültig dargestellt werden die nach wie vor bis heute noch einmal so herum und dann wieder so herum diskutiert werden.

    In dem Beitrag ist (natürlich aus chronistischen Gründen) auch nicht aufgezeigt was vor allem in den letzten 5 – 10 Jahren an neuen Erkenntnissen hinzu gekommen ist. Gerade da hat sich ja durchaus so Einiges bewegt. Man hat sich ja in Deutschland seit ein par Jahren auch gegenüber anderen Herangehensweisen aus anderen europäischen Ländern und den USA mit geöffnet, und die Suchthilfe damit um sehr vieles hoffentlich gewinnbringendes erweitert und bereichert.

    Auch der Beitrag über qualifizierten Entzug setzt sozusagen pro forma eine klinische Entgiftung voraus. Dabei fängt nach meinem Verständnis, und so wie ich es persönlich erlebt habe, ein qualifizierter Entzug schon mit einem ganz unkomplizierten und einfachen Besuch beim Hausarzt an. Und der wägt dann ab ob klinisch entzogen werden muss oder eben nicht. Ich selbst hatte ein par Termine und einfache Checks beim HA, war während des Ausstieg aber ganz normal zu Hause, habe keinerlei Medikamente genommen etc. pp. …

    Noch mal: ich möchte damit ganz sicher niemanden in Frage stellen. Es ist einfach so, dass ich Manches gleich, andere Punkte wiederum für mich aber auch ganz anders erlebt habe, und immernoch erlebe und empfinde als es sich in den Inhalten auf dieser Seite findet.

    Vielleicht mag ja der/die Ein oder Andere ein par Gedanken dazu beisteuern?

    viele gute Grüße,
    Land-in-Sicht

    Einmal editiert, zuletzt von Land-in-Sicht (30. Mai 2016 um 02:05)

  • Moin, moin -
    ich greife mir hier zunächst nur einen Punkt aus dem Beitrag von LIS heraus.
    "Qualifizierter Entzug" ist ein medizinisch / therapeutischer Begriff mit einer klaren Definition.
    Früher war allen therapeutischen Maßnahmen für alkoholkranke Menschen mit ausgeprägter körperlicher Abhängigkeit zunächst einmal die stationäre Entgiftung vorangestellt. Das geschah in aller erster Linie in den Landeskrankenhäuser und dort vornehmlich in der Psychiatrie - sogar oftmals auch noch in den geschlossenen Abteilungen. In der Regel wurde eine medikamentenunterstützte Entgiftung durchgeführt - meistens über fünf bis sieben Tage. Eine weitergehende therapeutische Betreuung der Patient*innen erfolgte nicht. Die erfolgte Entgiftung war allerdings die "Eintrittskarte" für eine anschließende stationäre Entwöhnungsbehandlung.
    Insbesondere die hohe Zahl sogenannter "Drehtürpatient*innen", die die LKHs nur `mal kurz zum Trockenschleudern aufsuchten, führte in den Folgejahren zu einem Umdenkungsprozess bei den LKHs. Der reinen Entgiftung wurde der "Qualifizierte Entzug" beiseite gestellt.
    Inhaltlich bedeutete das, dass den Patient*innen nunmehr eine Verweildauer von in der Regel drei Wochen genehmigt wurde, wobei es nach dem reinen Entzug weitere therapeutische Angebote gab. Den reinen Entgiftungsmediziner wurden Suchttherapeut*innen an die Seite gestellt, die während des QEs zusätzliche Angebote machten.
    Einige Krankenhäuser haben darüber hinaus den Qualifizierten Entzug aus dem Psychiatriebereich ausgegliedert und ihn in den Bereich der Inneren Medizin integriert - Hintergrund dieses Handelns war natürlich die Überlegung, Hemmschwellen zu senken: "Ich gehe für drei Wochen auf die Innere" hört sich natürlich besser an, als "Ich gehe für drei Wochen in die Psychiatrie ...".
    Leider, leider ist aufgrund von Einsparungsmaßnahmen im Gesundheitswesen in den allermeisten Fällen, der QE auf nunmehr vierzehn Tage zusammengekürzt worden - dementsprechend weniger Zeit bleibt also den Suchttherapeut*innen in den wichtigen ersten Wochen des Suchtausstieges motivierend auf ihre Klient*innen einzugehen ...

    In der Suchtmedizin wird wie in allen anderen Bereichen oftmals äußerst kontrovers diskutiert. Solange es sich hierbei nicht um Glaubenskriege handelt und ein dialektischer Prozess im Interesse von Patient*innen vorangetrieben wird, verfolge ich diese auch sehr interessiert und ergebnisoffen. Wichtig ist mir nur, mit sauberen Begrifflichkeiten zu argumentieren und diese nicht zu verwässern - von daher meine etwas längere Ausführung an dieser Stelle.

    Beste Grüße
    keppler

  • Komisch - auch bei mir hat sich beim Lesen von LiS Beitrag bei dem Stichwort "Qualifizierter Entzug" soetwas wie Widerspruch geregt:

    Natürlich fängt alles oft mit dem Besuch beim Hausarzt an.
    Aber ich kenne eigentlich nur 3 Arten: den "kalten" Entzug, die medizinisch begleitete (ambulante oder stationäre) Entgiftung und eben den "qualifizierten Entzug".

    Den Kalten habe ich nie ausprobiert, die "normale" Entgiftung habe ich mehrfach gemacht :( .
    Und der letzte Entzug war eben ein "qualifizierter Entzug": vom 2. Tag an mit voller therapeutischer Begleitung. Und (bei mir) hat das geholfen, bis heute.

    Natürlich MUSS man nicht mit allem einverstanden sein, was in den "Sendungen" des Suchthilfe-TV angesprochen wird. Genauso wenig, wie man mit allem einverstanden sein muss, was hier im Forum geschrieben wird. Jeder hat seine eigenen Sichtweisen, Meinungen - und Erfahrungen.
    Aber man kann es als Hilfestellung und/oder Denkanstoß nutzen.
    Ich kann z.Bsp. mit etlichen Aussagen von Bassmann nichts anfangen (ausser zu versuchen, darüber nachzudenken). Na und - auch wenn ich manchmal nicht verstehe, was er überhaupt meint, aber: ihm hat es geholfen, er hat seine Sucht überwunden. Andererseits gibt es bestimmt etliche Aussagen von mir, mit denen er nix anfangen kann.

    Ich möchte aus meinem Leben und aus meiner eigenen persönlichen Erfahrung allerdings schon mal anmerken, dass in den vielen Jahren meiner Sucht solche "Erkenntnisse" dass Sucht anscheinend per se unheilbar sei, und dass sie einen auch nach dem Ausstieg dann noch ein Leben lang beschäftigt, und so weiter… MICH eher immer wieder abgeschreckt haben. Und in mir ein stark ablehnendes, sehr blockierendes Bild erzeugt haben, von etwas anscheinend übermächtigen und wohl unüberwindbarem.

    Nun, MICH hat es nicht abgeschreckt. ICH habe es vielmehr als so gegeben akzeptiert und mich dementsprechend versucht, abstinent einzurichten. Und als übermächtig und unüberwindbar erschien mir die Sucht nicht - denn ich habe ja viele trockene Alkoholiker getroffen, die es jahre-/jahrzehntelang geschafft haben. Aber ich habe die Sucht als mächtig und schwer überwindbar kennengelernt - aus eigenem Erleben (Rückfall, der 4 Jahre dauerte) und auch aus den Erzählungen anderer, die teilweise nach über 10 Jahren Trockenheit einen Rückfall hatten, dessen Verlauf genauso rasant wie meiner und sogar noch schneller ablief. Und für mich hat das die Aussage, dass die Sucht nicht heilbar, aber zu stoppen ist, bestätigt.
    Und selbst wenn die Aussage falsch sein könnte - ich sehe keine Veranlassung, das auszuprobieren und unter Umständen wieder auf der Schnauze/in der Gosse zu landen. Ich bin froh und zufrieden, dass ich nicht mehr trinken muss und vermisse auch NICHTS mehr.

    Ich finde, in den Sendungen werden einige Sachen angesprochen, die aus meiner Sicht wichtig sind und einem helfen können, sich ein Bild von dem Weg zu machen. Aber auch Angehörige, Freunde und Interessierte, die (noch) nicht selbst den Weg in eine SHG wagen wollen, können hier wertvolle Informationen bekommen. Und darum empfehle ich sie.

    Und was die "neuesten" Erkenntnisse anbelangt ... Nicht nur der Dr. Redecker in den Beiträgen, auch andere Suchtmediziner wie z.Bsp. Dr. Loos sagen ja nicht, dass dieser Weg der alleinige Weg, der "Heilige Gral" ist.
    Viele neue Erkenntnisse stellen sich oft als Eintagsfliegen heraus oder kommen alle Jahre wieder - in gleicher Form, nur mit einem anderen Namen.

    Das ist doch das Schöne hier im Forum - jeder kann von seinem Weg, von seinen Erfahrungen berichten. Und die, die noch in der Findungsphase sind, können das Lesen, sich für einen Weg entscheiden - und dann selber feststellen, ob es der für ihn/sie richtige war.

    Gruß
    Greenfox

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

    Einmal editiert, zuletzt von Greenfox (30. Mai 2016 um 03:28)

  • Okay, ich möchte dem ganzen eigentlich auch noch mehr Raum geben, und es gar nicht so sehr an diesem einen Link festmachen. Ich möchte die Leistung der Verfasser nicht schmälern! Es geht eher um das Gesamtbild was sich ja an vielen Stellen so zeigt.

    Danke für die Bergriffsklärung. Ich hatte es irgendwie nebenbei mal so gelesen dass die hausärztliche Begleitung auch dazu gehört. Auf der Seite steht ja auch: "Der Beginn einer erfolgsversprechenden Alkohol(auch Drogen) Entwöhnungstherapie sollte grundsätzlich eine Qualifizierte Entgiftung vorausgehen." Um meinen Suchtausstieg zu realisieren habe ich, neben vielen anderen guten Dingen, nach vier Monaten nüchternem Leben unterstützend dann ebenfalls für 12 Wochen eine sogenannte Tagesreha wahrgenommen. Die hat mir auch durchaus in bestimmten Punkten geholfen und weitere gute Pluspunkte gebracht. Für mich hat dazu eben die Begleitung meiner Hausärztin, zu der ich im Übrigen auch eine sehr gute Vertrauensbasis habe, allerbestens ausgereicht :)

    Lese ich die Ausführung von Keppler, dann bestätigt das für mich eigentlich meinen bisherigen Gesamteindruck der Seite, und dass diese sich überwiegend an Menschen in sehr weit fortgeschrittenen Phasen der Sucht wendet.

    Ich selbst bin jetzt 37. Als ich (endlich) ausgestiegen bin war ich 35. Noch vor gut drei Jahren oder auch unmittelbar vor meinem Ausstieg hätte ich bei alle dem was ich auf der Seite sehe, oder auch in anderen Beispielen (wie z.B. der Film 'Alltag eines Alkoholikers' in der Linksammlung) sofort mit felsenfester Sicherheit gesagt: "Was?! Nein, so einer bin ich nicht!!".

    Jetzt habe ich mich zwei Jahre lang mit dem Thema beschäftigt, und kann einigermaßen was damit anfangen.

    Für mich war die Sucht nicht wirklich schwer überwindbar. Ich war sogar ein wenig überrascht wie verhältnismäßig einfach es war. Ich glaube eine der größten Hürden die ich mir jahrelang in den Weg gelegt habe war, dass ich mir einredete es sei schwer.

    Dazu mein persönlicher Ausstiegspunkt: Zum Ende meiner Sucht hin wurde ich wegen bestimmter Lebensumstände immer depressiver. Ich versuchte das mit Alkohol zu kompensieren. Ab einem gewissen Punkt aber war das dann wie zu versuchen ein Feuer mit Benzin zu löschen. Ich redete mir nur immer mehr ein wie schwer und aussichtslos meine Lebensituation doch sei. Das ging eine Weile so. (nüchtern dachte ich meist anders) Um mich von der Ausweglosigkeit meines Lebens zu überzeugen machte ich mir dann eines Abends im Rausch eine LISTE. Ich wollte so richtig schön Schwarz auf Weiß den ganzen erdrückenden Berg meiner Probleme und Schwierigkeiten vor mir sehen. Und die waren nicht wenig. Schulden, Arbeitslosigkeit, Auto kaputt, Gesundheitliches, eine Reihe aufgeschobener Verbindlichkeiten,… Ich wollte mich so richtig schön selbstmitleidig darin suhlen.
    Am nächsten Tag nüchterte ich tagsüber wieder aus und es fiel mir diese Liste in die Hände. Ich betrachtete sie und machte mir so meine Gedanken. Da begann ich die Punkte auf einem neuen Blatt zu sortieren, von leicht nach schwer. Und da wurde mir klar, dass es nicht ein Berg ist, sondern dass es viele einzelne Dinge sind. Und jeder Punkt für sich: eine Chance. Wenn ich mit den kleinen Dingen beginne, dann werden bereits in den nächsten Tagen und im Laufe des Monats die ersten Punkte von der Liste weg und die ersten Chancen genutzt sein. Für langfristigere Punkte gibt es für jeden einzelnen Bereich eigentlich Hilfsangebote.

    Ich beschloss die Sache nüchtern anzugehen. Dabei machte ich mir aber keinen Kopf um irgendein Suchtgedächtnis oder was auch immer. Ich sagte mir JETZT gehe ich die Sache mal für eine Weile nüchtern an. Jedenfalls erstmal ein par Wochen oder so. Und dann werde ich weitersehen.

    Ich denke dieser Punkt an dem ich meine HANDLUNGSFÄHIGKEIT und meine verantwortungsbewusste ENTSCHEIDUNGSKRAFT im hier und jetzt wiedererkannte, war einer der wenigen wirklich wichtigen Punkte, an dem es mir gelang meine Sucht zu überwinden. Der Rest war/ist eher reine Umsetzung.

    Und von da an ist mein Leben bis heute mit jedem Tag ein kleines Stückchen schöner, und besser und einfacher geworden ! :D

    Ist der aktive Suchtausstieg schwer? Ich sehe es so: entweder man tut es, oder man tut es nicht! So einfach ist das. Ich habe es getan und es hat mich unglaublich voran gebracht. Mein Leben ist viel einfacher geworden, und ich habe bis hier her eigentlich ausschließlich nur Bereicherungen meiner Persönlichkeit und viele Vorteile daraus gezogen. Es gibt seit dem wieder sehr viele wirklich glückliche Momente in meinem Leben 44.

    Zitat

    Das ist doch das Schöne hier im Forum - jeder kann von seinem Weg, von seinen Erfahrungen berichten. Und die, die noch in der Findungsphase sind, können das Lesen, sich für einen Weg entscheiden - und dann selber feststellen, ob es der für ihn/sie richtige war.

    Das sehe ich auch so und ich bin auch sehr, sehr dankbar um den offenen Austausch hier im Forum. Denn der zeigt eben auch auf, dass es neben einer Sichtweise noch viele, viele andere Aspekte und Geschichten und Wege und Möglichkeiten gibt!

    viele gute Grüße, LiS

    Einmal editiert, zuletzt von Land-in-Sicht (31. Mai 2016 um 14:26)

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