Vater gestorben- so viele Fragen

  • Hallo zusammen,

    mein Vater ist gestern auf der Intensivstation an Organversagen gestorben (Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse etc,) und es bleiben so viele Fragen. Er war wohl über 20 Jahre abhängig, ich habe es erst vor kurzem erfahren. Er wollte sich einfach nicht helfen lassen und hat bis zu letzt alle weggebissen. Er hatte augenscheinlich ein normales Leben, Haus, Auto, Job ...
    Die Fragen, die mir nicht aus dem Kopf gehen: hattet ihr während der Alkoholabhängigkeit ein "glückliches Leben"? Ich meine, habt ihr trotz der Sucht Glück empfunden? Habt ihr die Menschen um euch herum geliebt, auch wenn ihr gemeine Dinge gesagt habt? Wusstet ihr, dass ihr ein Problem habt? Wenn ihr im Krankenhaus oder der Intensivstation wart, hattet ihr Angst? Wenn ihr Alkohol versteckt habt, habt ihr euch geschämt Oder war es eine alltägliche Normalität?

    ich würde mich so sehr über ein paar Antworten freuen <3

  • Hallo Kaaat,

    vorab möchte ich Dir mein Beileid zum Tod Deines Vater ausdrücken. Und Dir sagen, dass es mir wirklich leid tut, dass ich Dir nicht schon früher geantwortet habe. Ich hoffe Du bist noch hier und liest noch im Forum. Keine Ahnung warum ich Deinen Thread erst jetzt entdeckt habe. Muss mir durchgerutscht sein.

    Ich stelle mich ganz kurz vor: Ich bin 50 Jahre alt, Alkoholiker und lebe jetzt schon lange ohne Alkohol.

    So, jetzt will ich mal auf Deine Fragen eingehen, und zwar nur aus meiner eigenen Sichtweise, aus meinen eigenen Erfahrungen heraus. Will damit sagen, dass jemand anderer vielleicht andere Erfahrungen gemacht hat, meist jedoch ähneln sie die "Berichte" von uns Alkoholikern aber schon ziemlich:

    Zitat

    hattet ihr während der Alkoholabhängigkeit ein "glückliches Leben"?


    Also, da muss ich klar NEIN sagen. Wobei ich hier ganz genau unterscheiden muss, um welche meiner Suchtphasen es eigentlich geht. Ich war ja z. B. sehr lange mit ein- oder zwei Bier täglich unterwegs. Das war meine Anfangsphase, also bereits süchtig wie ich heute weiß, aber bei recht geringen Konsum. In diesen Jahren war ich zumindest nicht primär wegen des Alkohols weniger glücklich. Zwar gab es schon in dieser Zeit erste Differenzen mit meiner Frau wegen des Alkohols, jedoch belastet das mein Leben (noch) nicht so stark. Ich war also glücklich oder unglücklich aus Gründen, die bei anderen, nicht Alkoholikern, auch zu finden sind.

    Als es dann mehr wurde und als ich dann begann heimlich zu trinken änderte sich das. Ich nehme jetzt mal meine längste Phase, da trank ich irgendwas zwischen 4 und 6 Bier pro Tag, komplett heimlich. Da funktionierte ich noch prima, hatte auch keine körperlichen Symptome und mein Umfeld war noch weitestgehend intakt. Bereits zu dieser Zeit kann ich keinesfalls mehr davon sprechen, dass ich glücklich gewesen wäre. Mein größtes Glück war bereits zu dieser Zeit, wenn ich in aller Ruhe trinken konnte. Ohne die Angst, dass ich auffliegen könnte. Meine positivsten Phasen in dieser Zeit waren die, wo ich es schaffte Trinkpausen einzulegen und die Hoffnung hegte, ich könnte doch nicht süchtig sein.

    Tja und dann die Endphase, irgendwas um die 10 Bier + X und schon morgens beginnend. Ich glaube da brauch ich nicht weiter drüber schreiben. Ich war todunglücklich und lebte ferngesteuert vom Alkohol.

    Zitat

    Ich meine, habt ihr trotz der Sucht Glück empfunden?


    Glück ist ein großes Wort. Und unterliegt sehr indivudellen Bedingungen. Was für den einen Glück bedeutet, ist für einen anderen etwas ganz normales oder nichts besonderes. Es ist also aus meiner Sicht schwierig das zu verallgemeinern. Jedoch kann ich für mich sagen, dass ich zu jeder Phase meiner Sucht "Glücksmomente" hatte. Mit einem glücklichen oder auch nur zufriedenen Leben hat das aber rein gar nichts zu tun. Je weiter die Sucht fortgeschritten war, desto mehr war der Alkohol selbst für diese Momente verantwortlich. Wobei das Elend nach diesen Momenten dann auch immer schlimmer wurde.

    Zitat

    Habt ihr die Menschen um euch herum geliebt, auch wenn ihr gemeine Dinge gesagt habt?


    Also ich war auch im Suff niemand, der gemeine Dinge gesagt hat. Jedenfalls nicht bewusst. Ich wurde nicht ausfällig, hab meine Frau und Kinder nicht beschimpft oder so. Aber die Sache mit der Liebe.... Ich sag's mal so: Ich dachte, ich wüsste was Liebe ist und ich dachte, ich würde lieben. Heute weiß ich aber, dass ich keine Ahnung von Liebe hatte. Was ich jedoch als Ausnahme sehen möchte, war die Liebe zu meinen Kindern: Ich liebte sie über alles, wirklich, und davon bin ich nach wie vor überzeugt, dass dieses Gefühl wirklich Liebe war, trotz Suff. Jedoch war diese Liebe trotzdem nicht stark genug um mich dazu zu bewegen mit dem Trinken aufzuhören. Aber wiederum stark genug, mich nicht von meiner Frau zu trennen weil ich mir nicht vorstellen konnte, ohne meine Kinder leben zu können. Die Trennung von meiner Frau fand dann nach meinem Ausstieg statt und war deshalb notwendig, weil ich mir sicher war (bin), dass ich anderfalls nicht trocken hätte bleiben können. Randnotitz: Das hatte aber nichts damit zu tun, dass meine Frau eine böse Frau, Furie oder sonst was gewesen wäre. Im Gegenteil. Es hat einfach schon länger nicht mehr gepasst und meine Sucht hatte auch mich und meinen Charatkter enorm verändert. Sie hat sich weiter entwickelt, ich mich zurück.

    Zitat

    Wusstet ihr, dass ihr ein Problem habt?


    Klar wusste ich es. Und zwar schon relativ früh. Schon in den noch "schönen" Phasen meiner Sucht. Nur war mir anfangs die Dimension meines Problems nicht bewusst. Und mir war auch nicht bewusst, in welche brutale Abwärtsspirale diese Sucht führt. Die letzten Jahre, also die ganz schlimmen, waren dann eher von Kapitulation geprägt. Wollte ich früher immer wieder mal wenigstgens versuchen weniger zu trinken oder aufzuhören, so war mir das dann zum Ende hin völlig egal. Ich wollte dann einfach trinken und ich sah einfach keine Perspektive mehr. Ich habe nicht mal mehr versucht irgendwas zu unternehmen, mal weniger zu trinken oder so. Mir war es dann eigentlich egal, und dass, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt auch schon ziemliche körperliche Probleme hatte.

    Zitat

    Wenn ihr im Krankenhaus oder der Intensivstation wart, hattet ihr Angst?


    Kann ich nicht mitreden, denn ich war dort nicht. Jedoch machte es mir schon Angst, wenn ich mich auf den Bauch legte und dann diesen ganz erheblichen Schmerz spürte. Oder wenn mein Magen schmerzte, ich nur noch Durchfall hatte, ständig geschwollene Lymphknoten hatte etc. Aber ich trank trotzdem ganz "normal" weiter.

    Zitat

    Wenn ihr Alkohol versteckt habt, habt ihr euch geschämt Oder war es eine alltägliche Normalität?


    Diese Frage stellst Du hier dem Richtigen. Mein ganzes Alkoholikerleben war genau darauf ausgerichtet. Anschaffen, verstecken, trinken und entsorgen. Bei geringen Mengen funktioniert das ja noch ganz geschmeidig, wenn du aber jeden Tag 10 oder mehr Flaschen Bier trinkst und diese dann auch irgendwie verstecken aber auch entsorgen musst, dann wird das zu einer der Hauptaufgaben. Ein ganz enormer Stressfaktor, vor allem deshalb, weil ich tags darauf manchmal nicht mehr wusste, wo ich das Zeug versteckt hatte. Also dann die leeren Flaschen, die letzten 3 oder 4 Bier.... Und wenn meine Frau diese gefunden hätte (hat sie auch ab und an mal), tja dann war ja wieder kreatives Lügen gefordert. Was auch wieder mega gestresst hat.

    Und natürlich hat all das Trinken, all das heimliche Trinken ein permanentes schlechtes Gewissen erzeugt und klar habe ich mich geschämt. Und trotzdem war es Normalität. Je nach Alkohollevel variierte der Grad des Schämens. Da half es dann nur, erst mal ein paar Bier zu trinken und das wieder zu verdrängen...

    Liebe Kaaat, jetzt hast Du Antworten. Ich weiß aber nicht ob und wie Dir diese helfen sollen. Wenn ich Dir etwas raten dürfte, dann das, dass Du diese psychische Belastung, unter der Du durch das Trinkverhalten Deines Papas leidest (ich gehe mal davon aus, dass es so ist, Du Dir vielleicht sogar Vorwürfe machst) aufarbeitest. Idealerweise mit professioneller Hilfe. Öffne Dich diesbezüglich einem Arzt gegenüber, ein guter Psychologe kann Dir hier sicher helfen. Vielleicht auch eine SHG, eine reale, für Angehörige. Ich weiß, dass Kinder von Alkoholikern enormes zu Verarbeiten haben. Wir sind damals mit unserer Tochter auch zum Psychologen. Mach das nicht mit Dir selbst aus, öffne Dich und arbeite es auf. Und, was ganz wichtig ist: Du hast für nichts eine Verantwortung. Dein Papa war für sein Leben ganz allein verantwortlich. Er allein hatte es in der Hand, niemand sonst. So wie ich eben auch. Ich konnte glücklicherweise die Notbremse ziehen, bei vielen ist der Alkohol leider stärker.

    Bitte entschuldige nochmal die späte Reaktion auf Deinen Post. Ich hoffe Du bist noch da. Alles alles Gute wünsche ich Dir.

    LG
    gerchla

  • Vielen lieben Dank für deine Antwort! Sie hilft mir denke ich schon weiter, vor allem wenn du sagst es war seine eigene Entscheidung. Auf die grosse Frage des „warum“ werde ich eh nie eine Antwort finden. Aber der Austausch und die Sichtweise von jemandem mit der gleichen Krankheit wie mein dad sie hatte, hilft mir sehr!!! 1000 Dank!

  • Liebe Kaaat,

    es ist wirklich so. Es war seine Entscheidung, genau wie es meine war. Es ist auch egal, was er Dir möglicherweise im betrunkenen Zustand diesbezüglich an den Kopf geworfen hat. Da fallen ja schnell mal so Sätze wie "ich sauf ja nur wegen Dir/Euch" oder "anders würde ich das Leben mit Euch ja gar nicht aushalten" usw.

    Ich weiß nicht, wie das bei Dir wir, vermute aber aufgrund Deiner Zeilen, dass etwas in diese Richtung gefallen sein könnte. Vergiss das, Du brauchst das nicht anzunehmen. Das hat der Alkohol aus Deinem Papa gemacht. Die vielen Jahre der Sucht haben ihn verändert. Seinen Charakter, sein Denken. Und so kommen dann solche oder andere, teils noch verletzendere, Aussagen zustande.

    Aber es ist einfach nur so: Er war ein erwachsener Mann und für sein Leben selbst verantwortlich. Wie Du und ich auch. Und ich bin mir sicher, dass ihm niemand mit vorgehaltener Pistole den Alkohol eingeflößt hat. D. h. er hat sich selbst dafür entschieden, warum auch immer das so war. Er hätte so viel Hilfe haben können, denn wir haben in diesem Land ein gut vernetztes Hilfangebot für alkoholkranke Menschen. Aber man kann leider niemanden zur Annahme von Hilfe zwingen, zumindest nicht dauerhaft. Und genau darauf kommt es eben bei dieser Sucht an. Es geht um langfristige Therapien um diese Sucht überhaupt zum Stillstand bringen zu können und um überhaupt eine Chance dazu zu haben, brauchts idealerweise eine hohe Selbstmotivation, sprich: Der Alkoholiker muss selbst weg wollen von dem Zeug, nicht gezwungenermaßen und auch nicht irgendjemand zu Liebe.

    Dein Papa hat sich für den Alkohol entschieden. Deine Rolle ist dabei die einer leidenden Tochter, die völlig hilflos war, denn es lag nicht in Deiner Hand und schon gar nicht in Deiner Verantwortung.

    Ich schreibe Dir das aus vollster Überzeugung und aus meinen eigenen Erfahrungen heraus.

    Alles alles Gute!

    LG
    gerchla

  • Danke Gerchla,

    du hast mich wirklich sehr motiviert - toll, dass du das hier so machst, dir die Zeit nimmst und so viel schreibst. Das ist so viel Wert!

    Vielen lieben Dank. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute!
    LG KAAA

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!