Ein Käfig ging einen Vogel suchen

  • „Ein Käfig ging einen Vogel suchen. (16)“
    Dieser Aphorismus von Kafka begleitet mich seit gut drei Jahren auf meinem Weg.
    Er zeigt mir meine Zerrissenheit zwischen Sicherheitsdenken und Risikobereitschaft, zwischen Kontrolle und Ungewissheit. Dabei geht es gar nicht explizit um Alkohol (oder besser gesagt nicht mehr), sondern um manchmal ganz alltägliche Entscheidungen.
    Immer wieder ertappe ich mich in Situationen, wo es lediglich darum geht den Riegel am Käfig der selbst auferlegten Beschränkungen umzulegen und auszubrechen oder lieber still auf „meiner Stange“ hocken zu bleiben, um zu bewahren, was bei offener Türe mit verloren gehen kann.
    Oder eben bei „bewährten“ Verhalten, wo mir die Ergebnisse (auch die unangenehmen) bekannt erscheinen und dem Einfach-mal-anders-machen – wo der Ausgang eben nicht vorhersehbar ist.
    Es ist mir wichtig den Riegel gefunden zu haben. Schon allein der Gedanke daran, dass ich auch anders handeln kann, hat was Erhebendes. Das sei ein „Abbau von Gedankenverboten“ hat ein Freund mal zu mir gesagt. Und es zeigt mir, dass es meiner eigenen Verantwortung unterliegt, wie und ob ich etwas anpacke. Und die Konsequenzen des Handelns wie des Nichtstuns ebenso.
    Wenn ich meine Geschichte anschaue ist es nicht selbstverständlich, mir meine Freiheiten langsam zurückzuerobern. Irgendwie bin ich in diesen Käfig, der mich nunmehr verfolgt, hineingeboren worden. Die suggerierte offene Tür war lediglich ein Blick aus dem Drahtgestell. Und später das Suchtmittel ein verlässliches Angebot mich wegzuträumen – ohne tatsächlich beweglich sein zu müssen. Anpassung verspricht zwar Sicherheit – aber keinen Fortschritt.
    Nun ist wieder so ein Punkt erreicht, wo mir Kafka nahe ist. Wo ich entweder vorm „Gericht“ (Neuer Herausforderung) einfach warten kann – ohne am „Wächter“ vorbeizukommen - meiner Furcht vor dem Unbekannten die mich hemmt. Oder wo ich mir ein anderes Zitat von Franz K. zu Herzen nehmen kann: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern. (26)“ - es bleibt spannend.
    Gruß - Uwe

  • Hallo Uwe,

    ich habe mir Deinen Text ein paar Mal durchgelesen. Du hast das sehr schön geschrieben. Ich liebe Metaphern, Bilder, Vergleiche. Und mir ist der gute Herr Kafka seit gestern immer wieder im Kopf. Eine zeitlang hat dieser Mensch mich sehr beeinflusst. Ich liebte seine Geschichten, seine Bücher, sein Wesen... Ein anderes gute Zitat von Kafka: "Verbringe die Zeit nicht mit der Suche nach einem Hindernis. Vielleicht ist keines da." Oder: "Verzweifle nicht. Nicht einmal an der Tatsache, dass Du verzweifelst."

    Lieber Gruß
    Pinguin

    „Erfolg ist nicht auf Erfolg aufgebaut. Er ist auf Fehlern aufgebaut. Er ist auf Frustration aufgebaut. Manchmal ist er auf Katastrophen aufgebaut.“

  • Hallo Uwe

    Du hast deinen Thread "Ein Käfig ging einen Vogel suchen" genannt.
    Für dich ein Spiegel der Zerrissenheit zwischen Sicherheitsdenken
    und Risikobereitschaft, zwischen Kontrolle und Ungewissheit.
    Das sind jetzt deine Worte. Soweit sind wir eins.

    Jetzt hast du in einem anderen Thread, wo es um Vertrauen innerhalb
    bestimmter Suchthilfeeinrichtungen geht einen bemerkenswerten Satz
    geschrieben:

    Zum anderen ist es tatsächlich jedem freigestellt, in wie weit
    er/sie sich einer Identifizierung durch andere aussetzt.

    Meine Erfahrung ist eine andere. Klar geht das eine Weile.
    Doch ich bin ja in der Hilfe gelandet weil die ewig alten Tricks
    und Bluffs meines inneren kleinen, miesen Alkis immer weniger
    funktionierten.
    Ich liess mich durch die Andere entschuldigen, ging bestimmten
    Menschen aus dem Weg, einfach weil ich nicht fähig war mich
    nackig zu machen, mich einer unangenehmen Wahrheit zu stellen.
    Das Versteckspiel war ständig mit denselben abgedroschenen
    Verhaltensweisen, und Lügengebäuden überlagert.
    Verharmlosung, Verniedlichung, Verleugnung, Selbstmitleid,
    Ãœberheblichkeit, Gejammere, Kontrolle, Eifersucht, Drohungen,
    Belehrungen, Machtgebärden oder auch das beliebte Aussitzen.

    Als ich das Trinken aufhörte waren dieses Verhalten natürlich
    noch da. Das Ausblenden des Unangenehmen war jetzt nicht
    mehr so einfach. Die Wunderwaffe Alkohol, die den Müll
    zudeckte, fehlte.
    Suchtverlagerungen hin zu Arbeit, Beziehungen und ähnlichem,
    wo ich mit ständigen neuen Aktivitäten keine Gedankenpause
    aufkommen liess spielten keine grössere Rolle. Gut ich bin kein
    Heiliger. Heute bin ich dankbar das ich die Möglichkeit nutzte
    einfach nur auf dieses Loch zu starren, das der weggelassene
    Alkohol in mir hinterliess.
    Ich denke diese innere Haltung führte mich in den Gruppenprozess
    der Hilfe. Klar bei wieviel hast du getrunken und ähnlichem war
    es möglich zu kontrollieren wieweit ich gehen wolle.

    Doch die erfahrenen Hasen waren da nicht so dran interessiert.
    Ihr Augenmerk lag da schon eher bei der Fragestellung:
    Wer ist der Vogel, der da im Käfig sitzt ?
    Das ist die letzte Zwickmühle. Eine Verweigerung nach dem
    von mir dargelegten Muster würde mich unweigerlich wieder
    in die Fänge des Alkohols treiben. Das wusste ich.
    Ein Hineinfallen in gefühlte hunderttausend Jahre
    unterdrücktem Kerkerdasein war mit Angst, Scham
    und Schuld verbunden. Beim Öffnen dieser Käfigtür
    war keine von dir angesprochene Kontrolle (wie weit jemand
    gehen möchte) mehr möglich. Dem steht die Struktur des
    endlich Loslassen könnens entgegen.

    Gelobt sei Jesus Christus. Ich habe mich für die zweite
    Möglichkeit entschieden. Das machte mich authentischer,
    in gewisser Hinsicht zu einem buntem Vogel.
    Ich brauche mich heute nicht mehr entschuldigen lassen,
    mich wegducken. Was da zum Stillstand gekommen ist
    ist echt und nicht ausgeblendetes Pseudo

    Gruss Of Tzu

  • Hallo Of Tzu
    Ich persönlich sehe in diesem Bild des Käfigs eine gar nicht so negative Kraft. Zumindest solange sie mich nicht vor Angst erstarren lässt. Ich sehe den Käfig für mich lediglich als Zeugnis meiner persönlichen Hemmungen. Diese gilt es allerdings zu hinterfragen. Das heißt zu schauen, ob da nicht Fähigkeiten verdeckt werden, die mir durchaus dienlich sein können. Mit dem öffnen des Riegels, der mir die (unwirkliche) Kontrolle über mich und die Anderen vorgaukelt, kann ich mich dem Leben stellen.
    Die gespürte Unsicherheit, als Preis der inneren Freiheit, will allerdings ausgehalten werden. Im Bezug auf das Thema Alkohol holt mich kein Zwang mehr ein. Die anfängliche Beklommenheit mit der Abstinenz hat sich zu einer persönlichen (un-missionarischen) Lebensphilosophie gemausert.
    In anderen Lebenslagen ist mir der „Verfolger“ immer noch nahe. Kein Grund zur Aufregung – sondern ein unliebsamer Begleiter. Und manchmal auch bedingungsloser Rückzugsort. Sicher, dass mag auch einer individuellen Feigheit geschuldet sein. Solange ich das weiß – bleibt die Türe offen.
    Lieben Gruß - Uwe

  • hi uwe

    es ist ein anschauliches bild das wahrscheinlich sehr gut zu
    deinem biographischen hintergrund und werdegang passt.
    es spiegelt und fördert die heilenden kräfte, die den alten
    märchen und mythen zugrunde liegen. vermutlich könntest
    du deine seelenwelt auch entkleidet im sinne eines alten
    wiener koksers niederlegen. das bringt so manchen vorteil,
    doch mit dem leichteren eintauchen und zugang zu
    den inneren seelenwelten könnte es schwieriger sein.

    sigi hat grosses geleistet. vor seiner zeit war die
    urkraft der bilder schon soweit instrumentalisiert
    das es kaum mehr als eine welt aus blindem
    kadavergehorsam gab. kein damaliger humanist
    und aufklärer hat jedenfalls im grösseren kontext
    widersprochen als karl es mit dem opium für das
    volk auf den punkt brachte.

    was ich mich jedoch frage ist ob der käfig immer
    wieder zu betrachten ist. gut ignorieren oder
    verleugnen ist damit nicht gemeint. es zielt
    eher darauf ab ob die menschheit einen kollektiven
    punkt erreicht hat wo jegliches gefühl für das
    lebendige und ursprüngliche so tief eingemauert ist,
    das es gar nicht mehr als menschliches erbrecht
    erkannt wird.

    der eremit und poet han shan hat in einem seiner
    felskritzeleien ein sinniges gedicht verfasst
    über einen wasser trinkenden und gräser
    fressenden hirschen, der im tiefen wald frei von
    leidenschaften lebt.
    doch sperrte man den hirschen in eine prächtige
    halle und böte ihm köstlichste leckereien
    würd er den ganzen tag nicht fressen wollen
    und immer mehr abmagern und verfallen.

    die zenleute haben zu dem problem einen ausspruch:

    zuerst ein berg
    dann kein berg
    dann

    schönes we

    of tzu

  • Hallo Uwe

    Anhang

    Ein Käfig ging einen Vogel suchen

    oder

    Ein Bierkasten ging einen Of Tzu suchen

    und

    Eine Flasche ist ja ein Käfig

    und

    Zuletzt eine Gans ist ein Vogel


    Riko, ein Beamter, sehr philosophisch, bat einmal
    den eigenwilligen Zen-Meister Nansen, ihm das alte
    Koan von der Gans ist in der Flasche zu erklären.

    Wenn man ein Gänseküken in eine Flasche steckt,
    sagte Riko, und es füttert, bis es ausgewachsen ist,
    wie kann man dann die Gans herausholen, ohne sie
    zu töten oder die Flasche zu zerbrechen?

    Nansen klatschte kräftig in die Hände und rief: Riko!
    Ja, Meister, schreckte der Beamte auf.
    Siehst du, sagte Nansen, die Gans i s t draußen.

  • Of Tzu, ich denke nicht die Flasche (und deren alkoholischer Inhalt) ist der Käfig, sondern das, wofür sie steht.
    Es ist der Zweck, den sie für mich erfüllt hat.
    Nicht die Flasche, sondern die ungenutzten Möglichkeiten und das Fehlen von Sinnhaftigkeit. Auch die Unfähigkeit meine eigenen Wertvorstellungen angemessen (d.h. im Bezug eines realistischen Rahmens) umzusetzen.
    Ich weiß gar nicht mehr genau wer oder was bei mir „geklatscht“ hat, damit erschrocken gackernd mein großer, dummer, weißer Vogel aus der Flasche sprang – es waren wohl mehrere „Weckrufe“ notwendig, um der Enge zu entkommen.
    LG. - Uwe

  • Hi Uwe

    Ich habe über bestimmte Dinge nur durch die
    Blume gesprochen. Jetzt in diesem letzten
    enthüllenden Moment hier möchte ich dem
    Menschen aus tiefstem Herzen danken, der
    meine begrenzte Wirklichkeit knackte und
    mich stets emutigte wieder und wieder zu
    fliegen.

    Wir leben im Käfig,
    und wissen es nicht,
    der Käfig ist die Welt, die wir kennen,
    die vertraut ist,
    wo wir unsere Freunde und Familie treffen,
    eine begrenzte Wirklichkeit,
    und wir wissen es nicht.
    Wenn wir herauskommen
    können wir frei fliegen.
    So lässt die Wildgans die Flasche
    hinter sich, in der sie eingesperrt war.
    Wie?
    Indem man sich selbst außerhalb davon
    findet, immer und immer wieder.
    Kümmere dich nicht um das Wie,
    Wir wissen den Weg.
    Manchmal wirst du springen

    Manchmal werden wir dich herausziehen,
    Viele Male wirst du dich frei fühlen,
    Die Gans ist draussen!
    Sie war nie wirklich drin.

    Mike Barnett

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