Gedanken einer Co.

  • Hallo Forum,

    ich habe zwar schon einen Thread mit meiner eigenen Geschichte, das hier soll aber eher ins Allgemeine gehen - falls das trotzdem in eine andere Sparte gehört gerne einfach verschieben. Wie der Titel schon sagt; allgemeine Gedanken zum Dasein als Angehöriger.

    Würde mich freuen wenn andere Angehörige ebenfalls berichten würden. Gerne auch Feedback von Alkoholikern und wie sie dies erleben.

    Bevor ich eine persönliche Beziehung zu einem Alkoholiker hatte, war mein Bild sehr mit Vorurteilen behaftet. Grob zusammen gefasst: Dickbäuche Männer mit roter Nase und fleckiger Jogginghose vor der Couch. Ich lernte, dass dies auch sehr anders sein kann und je mehr ich mich mit dem Thema auseinander setze, umso stärker wird mir bewusst wie viele Facetten dieses Krankheitsbild hat.

    Anfangs war ich sehr blauäugig, dachte, mit etwas Verständnis und gutem Willen "bekommt man das schon hin" :o weit gefehlt wie mir immer mehr klar wurde.

    Mit jedem Rückfall wuchs meine Wut. Ich merkte, wie ich jedes Mal ein Stückchen mehr die Achtung vor ihm verlor. In der Schlussphase hatte das nur noch wenig mit respektvollem, menschlichen Miteinander zu tun. Regelmäßig habe ich ihn in meiner frustrierten und enttäuschten Lage derart runtergeputzt, dass mir am Ende selbst schwindlig war davon. Das Niveau war wirklich unter 0, nicht mal mehr hießige Fernsehsender hätten das noch in Reality Formaten ausgestrahlt. Meine Liste an abwertenden Bemerkungen, Beleidigungen und Anschuldigungen war sehr lang. Ich hatte damals das Gefühl, ich habe das Recht das zu tun, schließlich war er ja der Alkoholiker der nichts tut um gesund zu werden und mir das Leben schwer machte. Jedes Mal fühlte ich mich sehr frei, nachdem ich mir in der Form Luft gemacht hatte und sah wie er, wenn auch nur kurzfristig, niedergeschlagen und beschämt war. Ich fühlte mich erhaben, schließlich war ich ja "die Normale" und konnte ihn verurteilen. Selbst wenn der Fehler mal nicht bei ihm lag wurde er automatisch ihm zugesprochen - schließlich ist er der Süchtige. Regelmäßige Treffen mit seiner Familie, um über den sturen, nicht einsichtigen Alkoholiker zu sprechen und was man denn tun könnte damit er es denn endlich verstehe. Gegenseitiges Bemitleiden, wie schlecht es uns allen durch ihn geht. Und trotzdem immer wieder die Hoffnung, dass es doch besser werden möge. Nach jeder Entgiftung das "in Watte packen", die übermäßige Fürsorge, die vermeintlich noch stärker gewordene Liebe zu ihm, bis der nächste Rückfall kam.

    Skurrilerweise habe ich selbst den ein oder anderen Abend mit einem Glas Wein da gesessen um mich ihm näher zu fühlen, zu versuchen zu verstehen was in ihm beim Trinken vorgeht. Nur um mich im Nachhinein schäbig zu fühlen - ich verurteilte ihn fürs Trinken und kippte das Zeug selbst in mich hinein, obwohl ich nie besonders gern trank.

    Nachdem ich nun ein wenig Abstand zu dem ganzen Wahnsinn gewinnen konnte (wenn auch noch nicht besonders lange) denke ich viel darüber nach, wie ich mich verändert hatte. Gegenüber Freunden und meiner eigenen Familie war ich dieselbe Person wie immer. Doch ihm und seinem Bekannten/Verwandtenkreis gegenüber nicht. Natürlich, diese Krankheit hat sehr viel Unglück gebracht und sehr sehr viel wäre ohne ebenjene nicht passiert und mir erspart geblieben. Dennoch denke ich mittlerweile, dass ich mich als Angehörige völlig falsch verhalten habe. Natürlich kann und will ich seine Sucht nicht unterstützen und habe nach wie vor wenig Verständnis dafür dass er sich so gehen lässt und nichts tut. Aber genau das ist der Punkt. Ich denke oft darüber nach, dass ich als Co. keinerlei Ahnung habe, was ihn im als Abhängigen vorgeht. Ich habe keinerlei Vorstellung davon, was man auf seiner Seite durchmacht. Die Vorwürfe, die er sich vermutlich selbst jeden Tag macht. Warum also habe ich mich nicht einfach um mich selbst gekümmert anstatt sein Problem zu meinem zu machen und ihn dafür dann noch zu beschuldigen nixweiss0 ? Dieser absurde Mix aus völliger Selbstaufgabe und Hilfsbereitschaft gepaart mit Vorwürfen und Gemeinheiten. Klar, letzten Endes ist jeder für sich selbst verantwortlich aber wäre ich an seiner Stelle - jemanden wie mich an seiner Seite hätte ich nicht gewollt.

    Ich hoffe, ihr nehmt diese Worte hier nicht falsch auf. Ich wollte hiermit nur einmal aufzeigen, dass die Angehörigen zwar immer Mitleidende sind, dies jedoch auch umschlagen kann bzw. man lieber den Weg geht den Kranken als Sündenbock darzustellen anstatt seinen eigenen Weg zu gehen, da dies oftmals viel schwieriger ist. Natürlich wünscht man sich, dass der Alkoholiker es schafft und würde, typisch Co., alles dafür tun. Solange eine Änderung aber nicht in Sicht ist, ist es oftmals angenehmer und auch nach außen hin besser dargestellt sich zu kümmern, zu verharren, anstatt "hart" zu sein und den Süchtigen "hängen zu lassen".

    Ich weis nicht, ob ich all das richtig ausgedrückt habe, ich will damit keinesfalls jemandem auf den Schlips treten oder angreifen sondern habe ganz ehrlich geschrieben, was in mir ablief.

    Einen guten Start ins Wochenende wünsche ich euch allen!

    Ira Jean

  • Guten Morgen Iran Jean!

    Wow – kann ich da nur schreiben! Respekt!
    Für eine Co, die noch gar nicht so lange versucht sich wieder auf sich selbst zu konzentrieren, hast Du eine beeindruckende, zumindest gedankliche Entwicklung gemacht.

    Ich bin ja auf der einen Seite trockener Alkoholiker, aber andererseits schon seit meiner Kindheit (Eltern beide massive Alkoholprobleme) und durch das Miterleben und Mitleiden von vielen, aus meiner Sicht heraus viel dramatischeren Alkoholikerkarrieren, als es meine war, auch Co gewesen. Und als trockener Alki auch heute immer wieder in Gefahr, zumindest ansatzweise trotz allem Wissen und aller Erfahrung in und mit der Sucht, Züge von Co-Abhängigkeit an den Tag zu legen.

    Zu Deiner „Phasen“-Schilderung, also die Phasen, die Du durcherlebt hast, hier ein Link zu den drei Phasen, die Co-Abhängige i.d.R. durcherleben.

    Zitat

    Klar, letzten Endes ist jeder für sich selbst verantwortlich aber wäre ich an seiner Stelle - jemanden wie mich an seiner Seite hätte ich nicht gewollt.

    Als betroffener Alkoholiker kann ich dazu nur schreiben: Wenn ich auf „Sauftour“ war, wenn ich einen meiner fürchterlichen Rückfälle hatte, dann wollte ich bei genauer Betrachtung überhaupt niemand an meiner Seite. Bestenfalls ab und an halt genauso Säufer, wie ich einer war.
    Aber andererseits, damals, als ich meine eigenen Verantwortlichkeit für meine Sucht noch nicht erkannte und Gründe brauchte, weswegen ich mich jeden Tag zulaufen ließ, da brauchte ich alleine schon zur Rechtfertigung für mein Saufen jemand Schuldigen an meiner Seite. In meinem Fall eine Frau. War sie bei mir – dann soff ich, weil sie bei mir war, mir Druck machte, und überhaupt, weil ich es mit ihr nur aushalten konnte, wenn ich soff.
    War sie, bzw. ich weg von ihr, dann soff ich, weil sie weg war, weil sie mir fehlte und weil ich mich im Stich gelassen fühlte.
    (Es würden mir noch viel mehr Gründe einfallen, aber aus meiner heutigen Sicht hatte ich genau 7: Mo., Di., Mi., Do., Fr., Sa., Sonntag! Und manchmal das Wetter und im Allgemeinen mein unsäglich schweres Leben … )

    Eine sehr ähnliche Schuldzuweisung für das eigene Leid und die Unfähigkeit in diesen Situationen die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, und die Verantwortlichkeit des Anderen bei ihm zu belassen, geschieht auch bei den Cos.

    Ich finde, Du hast Dich ganz hervorragend artikuliert! Jedenfalls ich habe es verstanden, und es freut mich jedes Mal, wenn ich bei Angehörigen solche Entwicklungen, wie jetzt bei Dir miterleben darf!

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