Hallo Stephan,
herzlich Willkommen bei uns im Forum.
Bevor ich Dir meine Gedanken schreibe, stelle ich mich kurz vor:
Ich bin Anfang 50, Alkoholiker und lebe jetzt schon lange ohne Alkohol. Davor habe ich weit über 10 Jahre abhängig getrunken, die meiste Zeit davon heimlich. Ich hatte Familie (Frau und 2 Kinder) und habe bis zum Schluss irgendwie funktioniert. Letztlich war ich dann selbst derjenige, der sich geoutet hat und damit dann die Wende eingeleitet hat.
Ich möchte Dir meine "Geschichte" zum Thema Ausdauersport schreiben. Ich habe dazu auch eine Geschichte, die auch in unmittelbarem Zusammenhang mit meiner Alkoholsucht steht. Ich schreibe Dir heute als jemand, der jetzt seit vielen Jahren läuft, bevorzugt Langstrecke ab 10 km aufwärts bis hin zur Halbmarathondistanz, die ich normalerweise jeden Sonntag absolviere.
Ich schreibe das jetzt nicht, um als besonders sportlicher oder besonders "toller" disziplinierter Mensch rüber kommen zu wollen. Ich schreibe Dir das eigentlich nur, weil mich diese Zeilen von Dir nachdenklich gemacht haben:
Zitat
Einer der Hauptteile der Therapie war Sport und Aktivität an sich. Daher bin ich auch zum Sport gekommen. Ohne ist es undenkbar. Zum Beispiel hatte ich vor zwei Wochen einen kleinen Muskelfaserriss und war gezwungen nicht aktiv zu sein. Dies war auch ein Faktor meines Rückfalls.
Sogar sehr nachdenklich, wenn ich ehrlich bin. Aber ich denke, das sollte ich Dir erklären.
Als ich damals mit dem Trinken aufgehört habe, brach bei mir und vor allem auch bei meiner Familie die gesamte (gedachte) Zukunft zusammen. Auch meine Familie wusste nicht, dass ich Alkoholiker war und vor allem wusste meine Frau nicht, dass ich nebenher noch ein Doppelleben geführt habe. Als ich mich outete, machte ich reinen Tisch und ich habe wirklich alles offenbart, was es zu offenbaren gab. Und da waren wirklich ungeheuerliche Dinge dabei, für dich mich heute noch so schäme, dass ich manchmal gar nicht glauben kann, dass das wirklich ich getan habe. In der letzten Konsequenz bedeutete das dann, dass es zur Trennung zwischen meiner Frau und mir kam, welche zwar letztlich von mir ausging (sie wäre durchaus bereit gewesen den Weg aus der Sucht mit mir zu gehen), was es aber für mich und auch alle anderen Beteiligten nicht besser machte. Vor allem meine Kinder litten fürchterlich und ich litt vor allem wegen meiner Kinder.
So kam es also, dass ich bereits kurze Zeit nachdem ich nicht mehr trank, auch die gemeinsame Wohnung verließ und in eine kleine Wohnung in die große Stadt zog. Auf einmal war bei mir plötzlich alles anders und es war plötzlich auch so, wie ich es mir vorher nicht hätte vorstellen können und wie ich es auch nie hätte haben wollen. Nicht mehr auf dem Lande, nicht mehr den großen Garten und das Haus, nicht mehr meine Kinder um mich sondern einfach eine kleine Altbauwohung in einem nicht besonders hoch angesehenen Wohnviertel in der Stadt.
Das saß ich also nun mit meinen Gedanken. Ein Anker war damals eine SHG, die ich bereits am ersten Abend ohne Alkohol aufgesucht hatte und die dann tatsächlich sogar in Fußnähe meiner neuen Wohnung war. Dort war ich dann jeden Abend zugegen. Ich hatte keine Therapie wie Du, war aber absolut bereit eine zu machen, sollte ich (oder der Arzt/Psychologe) der Meinung sein, es wäre notwendig oder der richtige Weg. Also saß ich jetzt da und hatte vor allem mit meinen Schuldgefühlen zu kämpfen. Schuldgefühle, weil ich meine Familie verlassen hatte, weil ich überhaupt zum Säufer wurde, weil ich jahrelang ein Doppelleben geführt hatte und weil ich gelogen und betrogen hatte, was das Zeug hält. Und weil ich meine Frau bis zum Schluss in dem Glauben gelassen habe, dass alles gut wird und alles soweit in Ordung ist (sie hat natürlich was gemerkt, wusste es nur nicht zu deuten).
Jetzt sah ich, immer wenn ich meine Kinder traf, welch unglaubliches Leid ich angerichtet hatte und das hat mich ziemlich niedergedrückt. Ich hatte wirklich Angst, dass ich an dieser Schuld zerbrechen könnte, was dann gleichbedeutend gewesen wäre mit "wieder zur Flasche greifen".
Was also tun? Und da kam mir der Sport in den Sinn. Dazu musst Du wissen, dass ich als Jugendlicher und junger Erwachsener, also bevor ich süchtig wurde, bereits ein begeisterter Läufer war. Dieser Sport hat mir damals wahnsinnig viel gegeben und ich hatte auch sowas wie Talent und ich wusste, dass ich in diesem Sport einen Ausgleich finden könnte. Ich wusste, wie er auf mich "wirkt".
Und genau deshalb, habe ich mich damals GEGEN ihn entschieden. Denn ich hatte genau vor dem große Angst, was Dir jetzt passiert ist. Ich hatte Angst davor, dass ich durch den Sport meine Sucht nicht so aufarbeite, wie es nötig wäre um mit ihr "abschließen" oder sagen wir, wenigstens mit ihr leben zu können. Ich hatte Angst davor, dass ich mich in den Sport flüchte und dass, sollte ich ihn nicht mehr ausüben können (wie Du von Dir berichtest), ich Gefahr laufe, in ein Loch zu fallen und dann wieder zum Alkohol zu greifen.
Ich wollte aber mein Wohlbefinden nicht von irgendeinem äußeren Einfluss abhängig machen. Ich wollte eigentlich von innen heraus soweit mit mir im Reinen sein, dass ich von mir aus nicht mehr trinken will. Damals waren meine Gedanken bei weitem nicht so klar, wie ich sie hier jetzt forumiliere. Es war alles zu frisch und ich war hin und her gerissen. Dennoch war mir irgendwie klar, dass ich nicht von der einen Sucht in die nächste fliehen wollte. Wobei ich jetzt bei "Sport machen" nicht gleich von Sportsucht sprechen möchte, wirklich nicht. Die gibt es ja auch, aber die schaut dann nochmal ganz anders aus und ist ebenfalls eine fürchterliche Krankheit. Nein, ich meine damit, dass ich eben mein Wohlbefinden nicht unmittelbar abhängig machen wollte davon, dass ich Sport machen kann.
Man kann das übrigens auch ganz anders sehen (wie Deine Therapeuten ja scheinbar auch), denn alles ist besser als weiter zu trinken. Und wenn Sport beim Aufhören hilft dann ist das per se nicht schlecht. Ich hatte damals diese eben geschilderten Bedenken oder Ängste und fing deshalb nicht mit dem Laufen an.
Trotzdem hatte ich ja aber diese großen und wirklich abstinenzgefährdenden Probleme mit meinen Schuldgefühlen und natürlich auch der ganzen, für mich völlig belastenden, neuen Situation. Ich musste also was tun, nur (weg-)laufen kam für mich nicht in Frage. Die Alternative konnte dann ja nur ein ganz bewustes Außeinandersetzen mit der Situation und meiner Lage sein. Und auch ein Zulassen und auch aushalten der damit verbunden Gefühle, welche überwiegend negativ waren. Aber ohne Hilfe schien mir das nicht zu schaffen zu sein. Letztlich kam ich dann an einen Mönch (lange und abgefahrene Geschichte), der mir statt eines Psychologen (welchen ich ganz klassisch vorher "probiert" hatte), zur wichtigsten Stütze bei der Aufarbeitung meiner Sucht wurde. Und vor allem ein zuverlässiger Begleiter auf meinem Weg zurück ins Leben bzw. in ein neues Leben ganz ohne Alkohol.
Falls Du jetzt denkst "Mönch, bleib mir damit vom Leib, mit der Kirche habe ich nichts am Hut", dann will ich einfach noch sagen, dass das bei mir damals ganz genauso war. Ich war weder religiös noch hatte ich sonst irgendwas mit der Kirche im näheren Sinne zu tun. Dieser Mönch war einfach jemand, den ich mal paar Jahre vorher zufällig wo erlebt hatte und der mich damals (obwohl ich bestimmt einiges Intus hatte) sehr beeidruckt hatte. Ich dachte damals, der hat so eine Ruhe und wirkt so zufrieden, so möchte ich auch sein. Das hatte ich nie vergessen und obwohl ich noch nicht mal seinen Namen wusste, dachte ich mir, mit dem würde ich gerne über meine Situation reden. Naja, ist ne längere Geschichte mit ein paar Hindernissen aber am Ende war er auch bereit mit mir zu reden und daraus wurden dann viele Gespräche. Übrigens keines davon drehte sich um Gott oder Glauben sondern es ging immer um den Sinn meines Lebens, um meine Schuld und wie ich damit zukünftig leben kann bzw. was ich aus meinem "neuen" Leben machen kann. Und auch darum, was ich aus meiner Vergangenheit lernen könnte. Es ging also genau um die Dinge, die mich belastet haben.
Als ich dann, nach ca. einem Jahr, alles soweit mal aufgearbeitet hatte und sozusagen mit dem Gröbsten durch war, begann ich mit dem Laufen! Und es kam wie es kommen musste. Es ließ mich nicht mehr los, bis heute. Nur das Laufen für mich heute nicht mehr das ist, was es früher einmal war.
Früher ging es mir um die Fitness, um die Leistung, mich auch mal auf Wettkämpfen mit anderen messen, immer versuchen noch einen ticken besser zu werden. Und stolz zu sein, dass ich so fit war und so ein guter Läufer, der immer im vorderen Drittel, manchmal auch ganz vorne in den Finisherlisten zu finden war.
Heute laufe ich, um mit mir und der Natur verbunden zu sein. Um einfach mal eine Stunde oder auch zwei, denken zu können. Um mit mir alleine sein zu können und meinen Tag durchdenken zu können (ich laufe bevorzugt morgens vor der Arbeit). Das schließt nicht aus, dass ich auch mal Bock darauf habe, "einen raus zu hauen", wo ich mal teste, ob ich die 10 km noch unter 45 Min laufen kann. Aber das steht überhaupt nicht im Fokus, dass ist dann eher der Spaßfaktor bei der Geschichte. Auch laufe ich meist einmal im Jahr einen Marathon, einfach nur um ihn mit meinem besten Freund zusammen zu laufen, wovon wir die ersten 30 km komplett verquatschen und die letzten 12 vor uns hin röcheln. Es geht nicht mehr um die Finisherliste, darum besonders toll oder gut zu sein. Es geht nur noch darum, Spaß zu haben wenn ich mal mit anderen unterwegs bin und Zeit für mich zu haben, bei den vielen Läufen die ich morgens absolviere. Und klar, es ist schön fit zu sein, es ist toll essen zu können was man will, aber am Ende sind das die "Nebenwirkungen", nicht die Motivation.
Was ich sagen will: jetzt ist der Sport, in meinem Fall das Laufen, ein toller Ausgleich, etwas das mir Ruhe gibt, auch Zufriedenheit. Es gibt mir die Möglichkeit mit mir selbst zu sein, draußen in der Natur zu sein und auch ganz viel Dankbarkeit spüren zu können, dass ich das alles tun kann.
Aber, ich brauche es nicht um trocken zu bleiben. Ich hatte auch schon Zeiten, wo länger nix ging. Einmal hat mich ein Infekt fast 2 Monate lahm gelegt, aber sowas von. D. h. , von 4 - 5 mal die Woche laufen zu gar nicht mehr laufen. Da merkte ich, dass ein einfacher Sparziergang, den aktuellen Kräften angepasst, genauso "befriedigend" ist, wie ein Lauf. Ich merkte auch, dass ein "einfaches sich Zeit für die eigenen Gedanken nehmen", weil auch ein Spaziergang nicht drin war, ebenso befriedigend sein kann, wie ein Lauf oder ein Spaziergang. Am Ende geht es immer darum, dass man mit sich selbst im Reinen ist. Und mit sich und seinem Leben zufrieden ist. Ist das der Fall, wozu soll dann Alkohol noch gut sein?
Letztlich haben wir ihn doch alle deshalb getrunken, weil wir etwas verändern wollten, mit seiner Hilfe. Oder weil wir es in unserem "nüchternen Zustand" nicht ausgehalten haben. Weil wir dachten, er würde uns helfen, zu entspannen, zu entfliehen, etc. Aber wenns nix zum Entfliehen und zum Entspannen gibt, wenn Du mit dem was gerade ist abslout zufrieden bist, vielleicht sogar glücklich, wozu soll Dir dann der Alkohol noch nützlich sein? In den vielen Jahren ohne Alkohol habe ich gerlernt, dass es "nur" darum geht sein eigenes Leben so zu gestalten, dass man damit zufrieden ist. Gerne zwischendrin auch mal glücklich, aber mindestens zufrieden. Und zwar von innen heraus, mit sich selbst. That's it, ich habe aber auch gelernt, dass der Weg dort hin ein langer ist und dass jeder seinen eigenen finden darf.
So, das waren jetzt mal meine Gedanken. Bisl pathetisch wie so oft bei mir, aber vielleicht kannst trotzdem was damit anfangen, würde mich freuen.
Alles Gute für Dich und super, dass Du nicht aufgegeben hast und Dich wieder auf den Weg in ein Leben ohne Alkohol machst.
LG
Gerchla