• Hi,

    ich bin Kogge, 47 Jahre. Vor jetzt fast exakt 1000 Tagen habe ich für mich den Entschluss gefasst, mein Leben zu überdenken und einen Neustart zu wagen. Was mir für einen Neustart über Jahren im Weg stand, war der Alkohol, der sich viel tiefer in mein Leben gebrannt hatte, als ich es zugeben wollte. Bis ich eines morgens aufstand und beschloss, jetzt ist Schluss.

    Ich habe die Abstinenz selber durchgezogen, - was nicht zwingend vernünftig war -, aber bis heute erfolgreich. Ich habe während dieser Zeit viel im Netz gelesen, ich war also an vielen Stellen "stiller Partizipant" des Austausches.
    Und mir kam der Gedanke, nach 1000 Tagen Jubiläum, das einmal zurückzugeben und einen Rückblick zu schreiben, um vielleicht anderen, stillen Leser- natürlich auch aktiven Lesern, einen Rückblick zu gewähren. Vielleicht mag der eine oder die etwas daraus für sich ziehen.

    Das war an dieser Stelle meine Vorstellung. Sagt gerne Bescheid, wenn Euch meine Geschichte interessiert und ich etwas beitragen kann.

    VG,

    Kogge

  • Hallo und herzlich willkommen, Kogge,

    Danke dir für deine kurze Vorstellung und Danke, dass du deine Erfahrungen mit uns hier teilen möchtest.

    Meine Gratulation zu deinen 1000 Tagen in Freiheit.


    Ich schalte dich gleich für den Austausch im öffentlichen Bereich frei und verschiebe deinen Thread in das entsprechende Unterforum.

    Ein gutes Ankommen hier wünscht

    AmSee als Moderatorin

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo Kogge

    Schön dass du da bist und Gratulation für deinen bisher so erfolgreichen Weg.

    An Berichten über die eigenen Erfahrungen bin ich immer sehr interessiert. Ich habe festgestellt das es ist für beide Seiten sehr heilsam ist. Für den Berichterstatter sowie auch den Leser. Also ein gutes Ankommen hier im Forum und nur raus mit deiner Rückblende.

    Einen verregneten Gruß 🌧️ (der Blick aus dem Fenster)

    Brant

  • Und mir kam der Gedanke, nach 1000 Tagen Jubiläum, das einmal zurückzugeben und einen Rückblick zu schreiben, um vielleicht anderen, stillen Leser- natürlich auch aktiven Lesern, einen Rückblick zu gewähren. Vielleicht mag der eine oder die etwas daraus für sich ziehen.

    Kogge

    Hmm. Irgendwie scheint die Kogge ja auf Grund gelaufen zu sein. Du hast positives Feedback erhalten für dein Vorhaben und jetzt nach Tagen ist noch Leere. Hast du überraschend ein Schweigegelübde abgelegt? Ein paar klärende Worte von dir wären ganz gut.

    Brant

  • Kogge

    Hmm. Irgendwie scheint die Kogge ja auf Grund gelaufen zu sein. Du hast positives Feedback erhalten für dein Vorhaben und jetzt nach Tagen ist noch Leere. Hast du überraschend ein Schweigegelübde abgelegt? Ein paar klärende Worte von dir wären ganz gut.

    Brant

    Da dieser Rückblick für mich kein beiläufiger Kommentar ist, sondern – wenn auch anonym – ein Stück Identität und ein ehrlicher Einblick in meine Gefühlswelt, wähle ich meine Worte mit Bedacht. Ich weiß, Geduld ist im Netz nicht immer die größte Tugend – doch manches will eben reifen, bevor es geteilt wird.
    Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich bin in keiner Weise auf Grund gelaufen. Ich segle weiter hart am Wind, durchpflüge scheidig die Wellen – und suche noch den passenden Hafen, um anzulegen und von meiner Reise zu erzählen.
    Manche legen schon nach dem ersten Wellengang an und nennen das dann Erfahrung. Ich warte lieber, bis die Geschichte auch trägt. Und hätte ich voreilig angelegt, um impulsiv zu erzählen, wäre mir ein kleines Abenteuer entgangen – eines, das nun Teil dieser Reise ist.

    Danke für die Geduld.

  • Das hört sich positiv an. Gehst du deinen Weg alleine ohne Austausch in einer SGH? Oder bist du in einer realen Gruppe?

    Mir war ein Austausch mit Selbstbetroffenen sehr wichtig und hat mir viel gebracht.

  • Das hört sich positiv an. Gehst du deinen Weg alleine ohne Austausch in einer SGH? Oder bist du in einer realen Gruppe?

    Mir war ein Austausch mit Selbstbetroffenen sehr wichtig und hat mir viel gebracht.

    Ich habe alles alleine gemacht, aber in der Tat bin ich aktuell jetzt auch dabei, die ganze Geschichte noch einmal professionell aufzuarbeiten. Und diese Aufarbeitung ist gerade der Impuls bzw. das Hemmnis, in die Rückblende zu gehen. Wobei ich, denke ich, gerade einen guten Einstieg gefunden habe, nachdem ich die ganze Zeit gesucht habe.

  • Prolog:

    Ich drücke auf den Knopf und warte. Es rauscht und ein Takt im Rhythmus von 45 Seiten pro Minuten lässt mich fast 10 Minuten vor dem großen, schwarzen Gerät stehen und spuckt aus, was die letzten drei Monate gänzlich mein Leben bestimmt hat. Seite für Seite legt sich auf einen Stapel, der langsam immer höher wird. Bis ich schlussendlich die erste Kopie in der Hand halte: 389 Seiten Papier, voll bedruckt mit Worten, die sich wie ein Rausch in den letzten Wochen von alleine aus meinem Kopf, über die Hände auf das virtuelle Papier in meinem Computer ergossen haben.

    Manchmal waren meine Hände einfach nicht schnell genug, der Geschichte in meinem Kopf zu folgen, so dringlich war die Flut der Geschichte, die erzählt werden wollte.

    Und nun stehe ich da, mit einem riesigen Packen Papier in der Hand, der einen grauen Aktenordner völlig ausfüllt.

    Ohne weiter darüber nachzudenken, starte ich den nächsten Druckvorgang und stehe noch eine Stunde in dem kleinen Raum, dessen Luft sich mit Ozon füllt, während ich weitere Ordner mit der Geschichte fülle.

    Rückblende:

    Vor mehr als 1000 Tagen stehe ich morgens um acht Uhr im eiskalten Westwind der Insel Norderney. Es ist Anfang Dezember, um mich herum weitere Männer, die sich ausziehen und auf Geheiß des Kurarztes gleich für einen kurzen Augenblick in die eiskalte Nordsee zu gehen. Klimatherapie nennen sie das, und es soll für die nächsten drei Wochen mein Begleiter werden.

    Mein Kopf dröhnt, ich merke das Rauschen in den Ohren, den leichten Schwindel, den schalen Geschmack im Mund, ich fühle mich gedämpft.

    Obwohl in der ganzen Klinik striktes Alkoholverbot herrschte, habe ich mich natürlich gestern Abend wieder in den Schlaf getrunken. Mit billigem Wodka, anstatt mit Bier, geht schneller. Und natürlich habe ich wieder „meine Grenze“ überschritten, die ich mir immer wieder setzte, um den nächsten Tag zu überstehen.

    Aber wie eigentlich immer, habe ich die Grenze nicht nur überschritten, sondern weiter verschoben. Immer weiter vor mir her. Schon seit Jahren. Wo es seinen Anfang nahm, weiß ich noch genau.

    Die Kälte des Wassers trifft mich wie ein Schock, umfasst mich, nimmt mir die Luft zum atmen als ich mit den anderen Männern in der eiskalten, grauen Nordsee stehe und untertauchen soll. Kurz untertauchen, kontrolliert atmen, und die Spannung halten, hat uns der Doktor gesagt.

    Ich tauche kurz unter, die See greift nach mir aber mein Körper will nur noch raus. Das Herz rast, der Schwindel wird übermächtig, ich renne so schnell es geht zum Strand. Die steifen Glieder und die Reibeisenhaut schmerzen, der Sand, der sich überall festgesetzt hat, reibt wie Schmirgelpapier an meinem Körper.

    Übelkeit steigt in mir hoch und ergreift meinen ganzen Körper, ich zittere wie Espenlaub. Wilhelm, ein Mann mit einem Zimmer neben mir, schaut mich besorgt an. „Alles gut?“ fragt er, während er sich selber die rote Haut seines kalten Körpers mit einem grauen Handtuch abtrocknet.

    Ich nicke. „Alles gut, vielleicht ein wenig viel für den ersten Tag.“ gebe ich ihm zurück. Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg zurück zur Klinik.

    Der Wind pfeift in den Flaggenmasten, bringt den Draht, an dem normalerweise die Fahnen der Insel hängen, zum singen. Gleichzeitig singt und piept es in meinen Ohren, ich spüre mein Herz im Hals klopfen.

    Mit tauben Füßen in nassen Schuhen schleppe ich mich zurück zur Klinik, gehe auf mein Zimmer und lege mich sofort hin.

    Wie ein Brummkreisel dreht sich das Zimmer um mich und ich komme nicht zur Ruhe. Kurz darauf, schlafe ich ein.

  • Ich möchte kurz anmerken, in dem nächsten Post beschreibe ich explizit was für eine Wirkung Alkohol haben kann, ich muss an dieser Stelle also eine klare Triggerwarnung aussprechen.

    Es ist keine Verherrlichung sondern die "fatale Wirkung." Ich wollte das kurz ankündigen und bitte auf Feedback einer der Mods warten ob das okay ist.
    Ohne diese Beschreibung macht das Kapitel allerdings keinen Sinn, weil es halt den Beginn von allem aufzeigt. Von daher bitte ich einmal um Rückmeldung.

  • Vielen Dank.

    Das Schreiben dieses "Rückblicks" artet anscheinend doch weiter aus, als ich das jemals für möglich hielt. Anscheinend hat mich die "Muse geküsst" und ihr seid live dabei 😂

    Wo das Ganze hinführt, weiß ich jetzt selber nicht. Im März diesen Jahres hatte ich schon einmal so einen "Flash", der dann dazu geführt hat, das ich einen fast 400 seitigen Roman aufs Papier gebracht habe - das Buch, um das es im Prolog geht.
    Allerdings hat der Roman in keiner Weise was mit Alkohol zu tun, sondern ist ein ziemlich tiefer und komplexer Thriller. Das Ding liegt aber gerade auf "Hold" weil ich an einer Stelle festhänge, die ich nach dem Lektorat dringend überarbeiten will. Ist aber nicht so einfach.

    Anyway, dieser Text hier ist komplett autobiografisch und von daher auch sehr sensibel- gleichzeitig kribbelt es in den Fingern das Ganze einmal zu Papier zu bringen.
    Ich hab so das Gefühl, wenn ich die Timeline in meinem Kopf durchgehe, das könnte ziemlich lang werden. Ich bin jetzt schon bei 10 A4 Seiten und habe noch nicht einmal angefangen ;)
    Und so schwanke ich gerade ob ich quasi ein Live-Manuskript veröffentliche oder erst einmal alles runter schreibe. Zumal ich schon im Hinterkopf habe, auch mit Buch 1, zu versuchen damit an die Öffentlichkeit zu gehen- wenns dann mal so fertig ist, dass man es einem Verlag vorlegen könnte.

    Gleichzeitig ist es reizvoll - reizvoll, ein komisches Wort in dem Kontext, live Feedback zu bekommen. Versteht ihr mein Dilemma?

    Was ich auf jeden Fall ausschließen kann, als ich mich hier angemeldet habe, um eigentlich mal ein Rückblick auf 1000 Tage ohne Stoff zu geben, dass ich ein Jubelmanifest in Kombination mit den Hinweisen auf die Hürden dabei runterschreibe. Aber ich fühle das nicht, das ist viel mehr. Das ist eher so, wenn die Geschichte jetzt einmal erzählt ist, dann ist auch endgültig an allem ein Haken dran.

    Deswegen schwanke ich gerade so hin und her. Wie ich oben schrieb, ich bin mitten auf den Wellen, in voller Fahrt Richtung Hafen ;)

    Okay, ich schick dir hier mal ab und poste euch mal das Skript bis zum aktuellen Stand, dann muss ich mal überlegen.

    Ich habe den Prolog und Kapitel 1 schon wieder umgeschrieben, deswegen "lohnt" es sich, ggf. von vorne zu lesen.

  • Prolog

    Ich drücke auf den Knopf und warte. Es rauscht und ein Takt im Rhythmus von 45 Seiten pro Minute lässt mich fast 10 Minuten vor dem großen, schwarzen Gerät stehen und spuckt aus, was die letzten drei Monate gänzlich mein Leben bestimmt hat. Seite für Seite legt sich auf einen Stapel, der langsam immer höher wird. Bis ich schlussendlich die erste Kopie in der Hand halte: 389 Seiten Papier, voll bedruckt mit Worten, die sich wie ein Rausch in den letzten Wochen von alleine aus meinem Kopf, über die Hände auf das virtuelle Papier ergossen haben.

    Manchmal waren meine Hände einfach nicht schnell genug, der Geschichte in meinem Kopf zu folgen, so dringlich war die Flut der Geschichte, die erzählt werden wollte.

    Und nun stehe ich da, mit einem riesigen Packen Papier in der Hand, der einen grauen Aktenordner völlig ausfüllt.

    Ohne weiter darüber nachzudenken, starte ich den nächsten Druckvorgang und stehe noch eine Stunde in dem kleinen Raum, dessen Luft sich mit Ozon füllt, während ich weitere Ordner mit der Geschichte fülle.

    Zufrieden betrachte ich die nun fünf prall gefüllten Ordner und mache mich auf den Weg nach Hause.

    Kurz bevor ich ankomme, biege ich noch einmal ab und stehe vor einem typischen Einfamilienhaus. Es ist weiß geputzt, kontrastiert mit roten Klinkern im Sockelbereich, der Rasen ist kurz gestutzt und zeigt die Sorgfalt seines Besitzer, ihn zu pflegen.

    Auf der Rückseite des Hauses ist eine Terrasse, auf die ich zugehe. Dort sitzt ein Mann um die fünfzig mit einem freundlichen Gesicht, einem hellen Dreitagebart und schlanker Statur. Er blickt auf, in seinem Gesicht zeigt sich ein breites Lächeln.

    „Thomsi,“ begrüßt er mich fröhlich.

    „Röschen,“ antworte ich ebenso fröhlich, „das ist das Ding,“ und drücke ihm den Ordner in die Hand.

    Er öffnet den grauen Deckel und blättert durch die Seiten.

    „Wow, wenn man es erst einmal in der Hand hält, fühlt es sich ganz anders an, als auf dem Computer.“

    Ich nicke zustimmend und füge hinzu: „Ein Wahnsinnsgefühl. Und du bist nicht unschuldig daran.“

    „Na ja,“ antwortet Röschen, „geplant war eine Kurzgeschichte. Dass du gleich einen ganzen Roman daraus machst, konnte ja niemand ahnen. Wie lange hast du jetzt gebraucht?“

    „Drei Monate“, antworte ich. „und jetzt gebe ich es aus der Hand. Das ist ein komisches Gefühl, es ist wie ein Baby wegzugeben und auf ein Urteil zu warten, ob man es richtig erzogen hat. Aber ich glaube daran, es ist richtig geiler Scheiss, die Story ist gut.“

    „Vielleicht wirst du ja noch ein richtiger Schriftsteller,“ grinst Röschen.

    „Abwarten, das Skript muss erstmal durch das Lektorat des schärfsten Hundes, den ich so kenne,“ und nicke Röschen zu.

    Er ist nicht nur ein sehr guter Freund, er ist auch gleichzeitig der Mann mit dem spitzesten, roten Stift, den ich kenne. Und nebenbei auch noch Deutschlehrer und ein herausragender Wortakrobat, dessen Satzzauberei mich immer wieder staunen lassen, wenn ich etwas von ihm lese.

    Ich stehe für einen Moment da und schüttele den Kopf.

    „Plötzlich war es da, es wollte einfach raus. Der ganze Prozess fühlte sich an, als ob ich Zuschauer in meinem eigenen Film gewesen bin. Ein schönes Gefühl.“

    „Ich muss los,“ holt mich Röschen aus meinen Gedanken, „ich melde mich bei dir. Das wird ein paar Tage brauchen.“

    „Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst, ich bin dir einfach dankbar, dass du dir das antust.“

    „Keine Ursache, ich melde mich.“ Mit den Worten dreht er sich um, nimmt den Aktenordner und geht zurück ins Haus.

    Ich gehe über den weichen Rasen zurück zu meinem alten Auto und steige ein. Der Weg führt mich nicht direkt nach Hause, vorher fahre ich noch bei meinem Stammbäcker vorbei und hole mir einen Café Crème.

    Das Kaufen und Trinken eines Café Crème ist bei mir schon fast ein ritueller Akt – mit dem heißen Getränk in der Hand, am Steuer meines alten Volvos fahre ich dann immer noch einen größeren Umweg, und hänge meinen Gedanken nach.

    Während ich über die Landstraße der typischen, hannoverschen Tiefebene rolle, meine Hand wie ferngesteuert das Lenkrad bedient, bekomme ich einen Kloß im Hals und meine Augen werden feucht.

    Unwillkürlich muss ich zurückdenken.

    Das Buch, das ich gerade zur Korrektur und zur Kritik gegeben habe, ist schlichtweg ein Resultat meines wachen und wachsenden Geistes, meiner Kreativität, die sich nach Jahren der Dunkelheit wieder ihren Weg an die Oberfläche gebahnt hat.

    Doch über dieser Kreativität lag für lange Zeit eine schwere Decke, die ich nicht entfernen konnte. Lange war alles zugedeckt, jetzt nicht mehr.


    Kapitel 1: 2006

    „Hat niemand mitbekommen, wie schlecht es Ihnen ging?“

    Ich schüttle den Kopf. „Mitbekommen weiß ich nicht, gesagt hat auf jeden Fall niemand etwas. Ich war mit meiner Angst und meinen Erlebnissen ganz alleine.“

    Ich stehe in einem Meer von Menschen. Das Niedersachsenstadion ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Es spielen Mexiko gegen Angola, das einzige Spiel der Fußball-WM 2006 – dem berühmten Sommermärchen, in dem kein Tor gefallen ist.

    Und ich mitten drin. Ausgerechnet ich. Ein Mann, der nahezu seit sechs Jahren nicht mehr das Haus verlassen hatte, aus Angst, ich könne, sobald ich den Fuß vor die Tür setze, sterben. So tief hat sich in mir eine Angst manifestiert, eine Angst, die nichts anderes ist als eine offene, blutende Wunde meiner Seele, die meine Erlebnisse aus dem Zivildienst ein paar Jahre vorher nicht verarbeiten konnte.

    Plötzlich war sie da diese Wunde, brach unvermittelt und übermächtig über mich herein und ließ mich nicht mehr los. PTBS – wie es in der Fachsprache heißt, eine posttraumatische Belastungsstörung, die mich über Jahre an meine Wohnung fesselte und mir die Jahre meiner Jugend raubte.

    Während andere feierten, Spaß hatten, sich austobten, Dates und wilden Sex hatten, saß ich in dem kleinen Arbeitszimmer, vor einem übervollen Aschenbecher und blickte in den Rechner. Meinen einzigen Kontakt zur Außenwelt.

    Und so grenzte es fast an ein Wunder, dass ich mich inmitten dieser rauschenden Party der Kulturen wiederfand, bei einem mittelmäßigen Fußballspiel. Dennoch, war es die größte Party meines Lebens und sowohl der Beginn meiner Heilung, gleichzeitig aber auch der Beginn meines Absturzes. Beides gleichzeitig.

    Um Ausreden war ich die Jahre nie verlegen, warum ich an unterschiedlichsten Veranstaltungen nicht teilnehmen konnte. Entweder hatte ich einen wichtigen Telefontermin, mein Auto sei kaputt, ich hätte einfach gerade keine Lust oder im schlimmsten Falle war ich krank. Kranksein war die ultimative Ausrede, die auch niemand in Frage stellte.

    Die Jahre zu Hause hatten mich einsam gemacht, meine sozialen Kontakte schliefen immer weiter ein. Wenn, dann lud ich zu mir ein, Pizza und Kino auf der großen Leinwand, meiner Leidenschaft. In Filmen konnte ich mich vergessen, ein Held sein, die großen Abenteuer erleben. Wenn der Film vorbei war, dann war ich wieder alleine, in meiner Wohnung.

    Ein kleiner Impuls in mir sorgte aber dafür, dass ich nicht ganz zu Hause gefesselt war. Mir war immer wichtig, einen „Safespace“ zu haben, einen Ort, an dem ich mich sicher fühlte und die Angst zwar da, aber beherrschbar war.

    Ein kleines Ladengeschäft im Norden Hannovers war so ein Ort, eine typische „Fernsehbude“, wie es sie damals in jedem größeren Ort gab, als das Internet noch keine Rolle spielte. Und genau dort traute ich mich hin, um wenigstens ein bisschen soziale Luft zu schnuppern. Das Geschäft und die Leute dort kannte ich gut, drei Jahre habe ich dort meine Ausbildung gemacht, Geld bekam ich nicht viel dafür, mein Geld verdiente ich mit meinem Computer. Aber ich durfte mir Ware mitnehmen, der Grund, warum ich zu Hause ein hochwertiges Heimkino hatte, als sozialen Treffpunkt für Freunde, die ab und zu bei mir Filme schauten.

    „Du kannst zur Roadshow von Premiere fahren, ich habe keine Zeit“, sagte mein Chef und drückte mir zwei Karten in die Hand.

    Roadshow vom PayTV Sender Premiere, zur Vorbereitung auf die WM 2006. „Du kannst dort Karten für ein Spiel gewinnen, vielleicht hast du ja Glück.“

    Glück? Ich? Die zwei Karten in meiner Hand waren kein Glück, in meiner Welt waren sie Pech. Wie soll ich Angsthase nach Hannover kommen? Auch wenn das leckere Essen dort lockte, der VIP Status verlockend war, so war das Ziel für mich unerreichbar. Oder?

    Ich rufe meinen Bruder an: „Sag mal, fährst du mit mir am Samstag nach Hannover? In die Arena? Roadshow von Premiere, wir sind VIP, können uns vollstopfen bis zum Rand.“

    „Ne lass mal,“ sagt mein Bruder, „keinen Bock!“

    „Man kann Karten für die WM gewinnen,“ füge ich hinzu.

    Es wird kurz still in der Leitung. „Okay, ich komm mit, aber…“

    Ich schneide meinem Bruder das Wort ab. „…du fährst, mein Auto ist kaputt…“

    „Immer muss ich fahren,“ mault mein Bruder zurück.

    „Ich zahle dir den Sprit und du kannst Karten für die WM gewinnen, wenn das kein Deal ist, weiß ich auch nicht,“ locke ich ihn.

    Und so finde ich mich einige Monate später in einer Wohnung in Hannover Linden wieder. Die Karten, die mein Bruder tatsächlich gewonnen hatte, hängen über Monate wie eine Warnung an der Pinnwand in meiner Küche.

    Wenn etwas unerbittlich ist, dann ist es die Zeit. Jeder Tag bringt mich diesem Großereignis näher. Und während mein Bruder Tag für Tag immer aufgeregter wird und seine Vorfreude steigt, keimt in mir jeden Tag mehr die Angst auf.

    In meinem Kopf gehe ich tausende Ausreden durch, aber mein Bruder ist unerbittlich: „Du kommst mit. Punkt. Ende der Diskussion.“

    Ich komme aus der Situation nicht raus, mein Bruder hat mich im Würgegriff der Zusage. Das einzige, was ich vielleicht hätte machen können, wäre mir einen Finger abzuschneiden. Aber auch wenn ich dazu bereit gewesen wäre, hätte er vermutlich ein Pflaster drüber geklebt und mich dennoch zum Stadion geschliffen.

    Und so sitzen wir in der kleinen Wohnung in Hannover Linden, seine Freundin hat uns abgeholt. Mein Bruder hat einen Sechserträger Bier dabei, um sich für das Spiel schon einmal warmzutrinken. Alkohol habe ich bis dato nahezu strikt vermieden, ich bin mir unsicher, was der mit meiner Angst machen würde. Wenn ich schon Angst haben werde, dann möchte ich sie auch wenigstens irgendwie beherrschen, so mein Gedanke.

    Aber auch mit dieser Abwehrhaltung komme ich nicht weiter, auch da ist mein Bruder gnadenlos. Und ich gebe meinen Widerstand auf. Wenn das Leben es so wollen wird, dass ich sterbe oder zumindest vor tausenden Leuten einen Zusammenbruch bekomme, dann heute. Und außerdem, so mein Kopf, ein Zusammenbruch wäre gar nicht so schlecht, dann hätte ich vielleicht die Chance wieder nach Hause zu kommen.

    Ich ergebe mich also meinem Schicksal. Und mit einer Flasche Bier im Bauch und einer weiteren in der Hand, gehen wir zu Fuß in Richtung des Fußballstadions. Die Stadt ist merkwürdig leer, jedenfalls erinnere ich mich kaum an Menschen. An was ich mich noch erinnere, ist der Stopp an einem Kiosk. Hannover hat eine Kiosk-Kultur, an jeder Ecke ist so ein Laden, an denen man teilweise 24 Stunden am Tag einkaufen kann, meistens Alkohol. Und so hatte ich zum Bier noch einen kleinen Schnaps in der Hand.

    In der Nähe des Rathauses biegen wir aus einer Nebenstraße plötzlich auf die Hauptstraße in Richtung des Stadions ein. Und aus der leeren Stadt wird plötzlich ein Getümmel von Mexikanern. In Trikots, geschminkt in ihren Landesfarben, manche Fans hatten riesige Pfauenfedern auf dem Kopf. Eine junge, hübsche Mexikanerin malt uns unvermittelt mit einem speziellen Stift Landesfarben auf die Wangen: Eine deutsche Fahne, eine mexikanische. Und damit ist klar, für wen wir heute Abend unserer Unterstützung geben werden.

    In mir wird es warm, die Masse der Menschen, die Impulsivität, die warmen Körper überall, der Menschenstrom ziehen mich in ihren Bann, fesseln mich, ergreifen Besitz von mir. Wie ein gigantischer Sog zieht es uns in Richtung Stadion, die „Schüssel“, wie wir es nennen.

    Die Plätze sind fantastisch. Direkt an der Treppe und direkt hinter uns der Bierstand. Ich atme tief durch. Für mich ist ein sofortiger Fluchtweg verfügbar, in alle Richtungen, aber auch, dank unseres VIP-Status, der Zugriff auf Getränke und Essen in sofortiger Reichweite.

    Was mich aber umso mehr beeindruckt, ist die Aussicht auf 45.000 Menschen. Eine grüne Wand feiernder Menschen und Ausgelassenheit.

    Die Mexikaner sind klar in der Übermacht, aber dieses Spiel, was eigentlich an Langeweile nicht zu überbieten war, ist getragen von Ausgelassenheit, Freude und Völkerverständigung. Und ich mittendrin und genieße den Rausch der Endorphine, die nach jahrelanger Abstinenz meinen Körper durchfluten.

    Mit Drogen hatte ich nie was zu tun, aber wenn es einen Drogenrausch, getragen von Alkohol und körpereigenen Drogen gegeben hat, dann an diesem Abend, von dem ich hoffe, er würde niemals enden.

    Und so feiern wir nach dem Spiel am Maschsee weiter, dieses Mal mit den Angolanern. Kräftige Männer, mit freiem Oberkörper und Trommeln spielen den Rhythmus, der unsere Körper zum Tanzen bringt, stundenlang. Ich sauge jede Sekunde auf, genieße die Welle der Emotionen, Tränen schießen in meine Augen. Und in meinem Kopf manifestiert sich ein Gedanke: So krank kannst du gar nicht sein, wenn du diese Party hier feiern kannst.

    Und was dann folgt, ist die Spirale, die mich auf Wolken hebt und gleichzeitig dafür sorgt, dass ich nach und nach tiefer rutsche, als ich vorher war.


    Kapitel 2: Norderney, Dezember 2022

    Ich stehe morgens um acht Uhr im eiskalten Westwind der Insel Norderney. Es ist Anfang Dezember, um mich herum weitere Männer, die sich ausziehen und auf Geheiß des Kurarztes gleich für einen kurzen Augenblick in die eiskalte Nordsee gehen. Klimatherapie nennen sie das, und es soll für die nächsten drei Wochen mein Begleiter werden.

    Mein Kopf dröhnt, ich merke das Rauschen in den Ohren, den leichten Schwindel, den schalen Geschmack im Mund, ich fühle mich gedämpft.

    Obwohl in der ganzen Klinik striktes Alkoholverbot herrschte, habe ich mich natürlich gestern Abend wieder in den Schlaf getrunken. Mit billigem Wodka, anstatt mit Bier – geht schneller. Und natürlich habe ich wieder „meine Grenze“ überschritten, die ich mir immer wieder setzte, um den nächsten Tag zu überstehen.

    Aber wie eigentlich immer, habe ich die Grenze nicht nur überschritten, sondern weiter verschoben. Immer weiter vor mir her. Schon seit Jahren. Wo es seinen Anfang nahm, weiß ich noch genau.

    Die Kälte des Wassers trifft mich wie ein Schock, umfasst mich, nimmt mir die Luft zum Atmen, als ich mit den anderen Männern in der eiskalten, grauen Nordsee stehe und untertauchen soll. Kurz untertauchen, kontrolliert atmen, und die Spannung halten, hat uns der Doktor gesagt.

    Ich tauche kurz unter, die See greift nach mir aber mein Körper will nur noch raus. Das Herz rast, der Schwindel wird übermächtig, ich renne so schnell es geht zum Strand. Die steifen Glieder und die Reibeisenhaut schmerzen, der Sand, der sich überall festgesetzt hat, reibt wie Schmirgelpapier an meinem Körper.

    Übelkeit steigt in mir hoch und ergreift meinen ganzen Körper, ich zittere wie Espenlaub. Wilhelm, ein Mann mit einem Zimmer neben mir, schaut mich besorgt an. „Alles gut?“ fragt er, während er sich selber die rote Haut seines kalten Körpers mit einem grauen Handtuch abtrocknet.

    Ich nicke. „Alles gut, vielleicht ein wenig viel für den ersten Tag.“ gebe ich ihm zurück. Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg zurück zur Klinik.

    Der Wind pfeift in den Flaggenmasten, bringt den Draht, an dem normalerweise die Fahnen der Insel hängen, zum singen. Gleichzeitig singt und piept es in meinen Ohren, ich spüre mein Herz im Hals klopfen.

    Mit tauben Füßen in nassen Schuhen schleppe ich mich zurück zur Klinik, gehe auf mein Zimmer und lege mich sofort hin.Wie ein Brummkreisel dreht sich das Zimmer um mich und ich komme nicht zur Ruhe. Kurz darauf, schlafe ich ein.

    Ich sitze auf einer Schaukel eines verlassenen Spielplatzes am Strand der Nordseeinsel. Es ist Freitag, die Kuranwendungen sind alle vorüber und es herrscht Wochenendstimmung. Oder was heißt Wochenendstimmung, jeder macht das, was er will und eigentlich zieht die Langeweile ein, nach einer Woche, die vollends durchgetaktet gewesen ist.

    Ich bin an dieser Stelle ganz froh, mit den anderen Patienten nichts zu tun zu haben, meine Tochter und ich sind nahezu alleine in einem Nebengebäude der Kurklinik.

    Außer in den gemeinsamen Aktivitäten des Klinikalltags habe ich wenig Berührungspunkte mit den anderen, mich interessieren auch ihre Geschichten nicht wirklich. Ich bin wegen mir hier, einzig und alleine wegen mir. Und meiner kleinen Tochter, die gerade mit anderen Kindern auf dem Klinikgelände spielt.

    Die einzige Person, mit der ich tieferen Kontakt habe, ist Wilhelm, der Mann von neulich am Strand. Wilhelm kommt aus dem Ruhrpott, er ist ein Russlanddeutscher, ein geduldiger Mann mit einem einzigartigen Dialekt.

    Ich muss immer schmunzeln wenn Wilhelm redet, er neigt dazu, in der deutschen Sprache immer alles zu verniedlichen. „Chen“ ist seine Lieblingsendung. Wenn wir gemeinsam walken gehen, nehmen wir immer unsere „Stöckchen“ mit.

    Wilhelm, der mit seinen beiden Söhnen auf der Insel ist, sagt mir keinen richtigen Grund, warum er da ist. Seiner Aussage nach will er überprüfen, ob alles, so wie es gerade bei ihm ist, in Ordnung ist.
    Einfach mal abklopfen, ob es bei ihm läuft. Wilhelm bringt eines mit: Eine unheimliche Geduld und gibt mir unendlich viel Raum. Auf langen Spaziergängen oder auch einer sehr langen Wanderung, rede ich mir alles von der Seele, was auf mir lastet.

    Der Wind von Norderney weht meine Geschichte über die Insel, die Sandkörner geben die Worte nicht preis. Und Wilhelm hört einfach zu und hat die Gabe, Fragen zu stellen. Fragen, die ich mir selber nicht gestellt habe. Doch eines erzähle ich Wilhelm nicht: Der eigentliche Grund, warum ich auf dieser Insel bin, die schwerste Last, die ich mit mir herumtrage, dieser verdammte Alkohol, der sich in mein Leben geschlichen hat.

    Ich traue mich nicht, mir ernsthaft ins Gesicht zu schauen, doch dass ich nun stehe wo ich stehe, und dass es einen klaren, direkten Zusammenhang gibt, das weiß ich. Deswegen bin ich hier.

    Während die Schaukel, auf der ich sitze, die Bewegungen der Wellen nachahmt, muss ich kurz über die Patienten nachdenken. Einer von ihnen ist ehemaliger Soldat und war in Afghanistan. Er erzählt nicht viel von dem, was er dort erlebt hat, nur, dass es etwas gegeben haben muss, was ihn sein Leben lang nicht losgelassen hat.

    Nicht losgelassen hat......

    Ich schaukel weiter und meine Gedanken gehen zurück an den Tag, an dem wirklich alles seinen Anfang genommen hat:


    Kapitel 3: 1999, Ein Kinderpflegeheim für schwerstbehinderte Kinder

    „Sie haben sich ihre Dienststelle nicht vorher angeguckt?"
    „Nein, ich war froh, dass ich überhaupt was heimatnahes gefunden hatte..“

    Ich betrete das Gebäude. Was heißt Gebäude, von außen ist es eine schmuckvolle, gepflegte Villa. Innen ist es ein Kinderheim. Ein Kinderpflegeheim für schwer- und schwerstbehinderte Kinder.

    Mein erster Dienst in einem neuen Lebensabschnitt, der Beginn meines Zivildienstes. Dass ich hier stehe, ist eigentlich meiner eigenen Schludrigkeit zu verdanken. Ich habe mich auf das Versprechen des Roten Kreuzes verlassen, um dort ein wenig Essen auszufahren oder herzkranken Menschen beim Turnen zuzugucken.

    Bis plötzlich ein Brief eintraf: „Sie haben keine heimatnahe Dienststelle angegeben, Sie haben noch drei Wochen Zeit, ansonsten sind Sie in der Altenpflege in Bad Tölz eingesetzt.“

    Panisch suchte ich mir eine Zivildienststelle in meiner Region, doch alle „guten Plätze“, die die Aussicht hatten, ein lockerer Job zu sein, waren belegt. Einzig und alleine ein Kinderheim in meiner direkten Nachbarschaft hatte eine Stelle zu vergeben. „Es ist ganz okay da,“ sagte Peter, ein damaliger guter Freund, der ebenfalls dort seinen Dienst verrichtete. Dass dieser Dienst auch sein Leben entscheidend verändert, ist mir nicht klar.

    Peter, eigentlich ein herausragender Literat und Sprachkünstler der englischen Sprache, wollte nun eine Ausbildung zum Kinderkrankenpfleger machen. Ein Job, dem er auch bis heute nachgeht. Auf der einen Seite eine gute Sache, auf der anderen Seite hat Peter wohlmöglich auch niemals das gemacht, was er vielleicht hätte tun müssen. Schreiben.

    Und so trat ich auf Empfehlung von Peter meinen Dienst an. Die Tinte unter dem Vertrag war kaum getrocknet, da öffnete ich die schwere Holztür zum Kinderheim. Der scharfe Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase, der Boden aus pflegeleichtem Kunststoff oder Linoleum, wie in einem Krankenhaus eben.

    Ich blickte in einen großen, gekachelten Raum, in der Mitte eine große Badewanne, daneben Pflegetische mit weißen, abwischbaren Pflegematratzen.

    Es war kaum etwas zu hören, nur etwas, was wie gedämpftes Stöhnen klang. Ich betrat das Treppenhaus und ging in den zweiten Stock. Station 2, dort sollte ich mich melden. Eine große Glastür mit strukturiertem Milchglas war vor mir und ich drückte auf den Schalter an der Wand, auf dem „Öffnen“ stand.

    Mit einem Summen ging die Tür auf. Vor mir standen mehrere Rollstühle. Kinder, mit seltsam deformierten Köpfen und krummen Körpern saßen darin. An den Rollstühlen waren Stative befestigt, an denen Beutel hingen, dessen Schläuche irgendwie zu den Kindern führten. Der eine blonde Junge, er zuckte so komisch.

    Ich hatte sowas noch nie gesehen und war zutiefst erschrocken. Eine Pflegerin kam zu mir, sie stellte sich als Schwester Marion vor. Eine sympathische, gut gelaunte Frau mit ostdeutschem Dialekt.

    „Du musst Niels sein. Du kannst gleich mit anfassen, die Kinder müssen zur Schule.“

    Zur Schule? Diese Kinder gehen zur Schule? Neben mir röchelt etwas. Tanja, ein kleines Mädchen, musste husten. Grüner Schleim kommt aus der Kanüle aus ihrem Hals.

    „Mensch, Tanja, bist du wieder verschleimt, was?“ sagte Marion fröhlich und schob Tanja in ihrem Rollstuhl in die Ecke. Ein surrendes Geräusch erklang, dazu ein Schmatzen und etwas, was wie Husten klang.

    Marion kam zurück. „Tanja hat ein bisschen Husten, ich habe sie schnell abgesaugt.“ Mir wurde schlecht.

    Ich drehte mich um, sagte irgendwas von, „ich muss kurz was holen“ und lief die Treppe hinunter, aus dem Haus hinaus zu meinem Auto. Mit zitternden Händen zündete ich mir eine Zigarette an, die ich gierig rauchte.

    Den Schreck musste ich erst einmal verdauen. Während ich am Auto stehe, kommt Bewegung in diesen Morgen. Die Türen des Gebäudes öffnen sich an unterschiedlichen Stellen und Kinder in Rollstühlen werden hinausgeschoben. Manche Kinder können laufen, scheinen im Grad ihrer Behinderung nicht so extrem eingeschränkt wie andere.

    Minibusse fahren vor und die Kinder werden mitsamt der Rollstühle über Hebebühnen in die Autos verfrachtet, um dann zur Schule gebracht zu werden.

    Marion kommt zu mir und blickt mich besorgt an. „Geht es dir gut?“, fragt sie.

    „Na ja“, sage ich, „das Ganze kommt gerade ein wenig unvorbereitet. Sowas habe ich noch nie gesehen.“

    „Ach was, die sind alle total lieb. Komm rein, dann zeige ich dir Station 2 und stelle dich den anderen vor.“

    Gemeinsam betreten wir wieder Station 2. Marion stellt mich den anderen Krankenschwestern vor, die dort arbeiten. Rosi, eine ebenfalls fröhliche, etwas aufgedrehte Person und eine weitere, an deren Namen ich mich nicht erinnere.

    Wir gehen gemeinsam durch die Zimmer der Kinder. In jedem Raum sind vier bis fünf Kinder untergebracht, die in metallenen Pflegebetten liegen. Nahezu alle Betten sind leer. Bis auf drei:

    Lars. Ein achtzehnjähriger Jugendlicher, dessen Oberkörper so vom Liegen eingedrückt war, dass er so deformiert war, dass ich das kaum beschreiben kann. Der Kopf ebenso. Lars kann nur liegen, Sitzen war für ihn unmöglich.

    Ein weiteres Kind, ich weiß den Namen nicht mehr, nennen wir ihn Mirko: Ebenfalls schwer deformiert wie Lars, seine Beine so verbogen, dass sie aussahen wie die Beine eines Grashüpfers, ebenfalls nicht in der Lage, zu sitzen.

    Dazu ein Mädchen, ebenfalls knapp 18 Jahre alt, nennen wir sie Elise. Groß, schwer, und am ganzen Körper komplett steif. Elise lautet immer, egal ob sie sich anscheinend freute oder Stress hatte, „Roller, Roller“, was mir bis heute in den Ohren klingt.

    Lars prustet immer und spuckt dabei quer durchs Zimmer. Mirko liegt einfach nur da und röchelt, der Schleim läuft ihm in Fluten aus dem Tracheostoma.

    „Diese Kinder bleiben hier, solange sie leben,“ erklärte mir Marion. „Ab 18 kommen sie eigentlich in ein Altenheim, aber diese Verlegung würden sie nicht überleben, deswegen bleiben sie hier und haben lebenslanges Aufenthaltsrecht.“

    Ein weiteres Kind, ein kleines blondes Mädchen mit einem Schlauch im Kopf, saß fröhlich in ihrem Stuhl und wackelte hin und her. Ute, wie man mir sagte, und anscheinend der Liebling der Station. Dazu noch Arben, ein kleiner, praller Junge, dessen schwere Behinderung man ihm kaum ansah.

    „Arben muss gewickelt werden, willst du das machen?“ fragte mich Marion.

    Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hab das noch nie gemacht,“ antworte ich schüchtern, „aber ich kann das mal probieren.“

    Ich hob Arben aus dem Bett und während ich ihn hochhob, schlug sein Kopf nach hinten. Marion hatte das geahnt und blitzschnell ihre Hand parat. „Er hat keine Kopfkontrolle, darauf musst du aufpassen“, erklärte Marion mir und zeigte mir fachkundig, wie man Arben tragen musste. „Diesen Griff kannst du bei fast allen Kindern anwenden, wenn du sie anhebst,“ erklärte sie mir weiter, während ich Arben vorsichtig zum Wickeltisch trug.

    Zaghaft zog ich ihn aus und ein stechender Geruch nach Kot schoss mir in die Nase. „Du kommst genau richtig,“ grinste Marion „heute ist Abführtag.“

    Scheiße, dachte ich, und genau das war es auch. Braune, weiche, stinkende Scheiße. Eine Scheiße, aus der ich nicht mehr herauskam.

    Nach und nach gewöhne ich mich ein: Ich lerne die Kinder und ihre Besonderheiten kennen. Ich lerne sie nicht nur kennen, ich entwickle langsam etwas wie Zuneigung zu den hilflosen Geschöpfen, die entweder von Geburt an oder durch schreckliche Unfälle schwerst behindert wurden. Oft waren die Kinder Opfer von Ertrinkungs- oder Erstickungsunfällen. Das eine Kind war in einer Sandgrube vom Sand verschüttet worden, ein anderes im Schwimmbad ertrunken und wiederbelebt.

    Ob die Wiederbelebung und das Leben dieser Kinder wirklich lebenswert gewesen ist, kann ich nicht beurteilen, es ist eine zutiefst moralische Frage.

    Ein Kind ist mir an dieser Stelle am meisten im Kopf geblieben, war Fabian. Ein bildhübscher blonder Junge, mit beeindruckend blauen Augen. Fabians Leben besteht aus zwei Dingen: Schlafen, schwere Krampfanfälle durchleiden oder mit schwersten Medikamenten ruhiggestellt zu sein. Wenn Fabian krampft, dann weint er laut, er schreit oftmals so lange und so herzerreißend, bis sich endlich jemand erbarmte, dem armen Jungen Chloralhydrat oder direkt Diazepam zu geben.

    Das Schreien von Fabian war der Alltagssound der Station. Und wenn Fabian krampfte, musste er trotzdem gepflegt werden. Ich war fassungslos und erstaunt, wie stark Fabian war, wenn ich ihn trug, trug man wahrlich ein Brett durch die Station, so steif machte er sich. Er hatte ständig blutige Hände, weil sich seine Fingernägel tief in sein Fleisch gruben, wenn er wieder einen Anfall hatte. Ein Krampfanfall als Dauerzustand, ständig massives Gewitter im Gehirn. Deswegen war es oberste Regel, bei Fabian immer die Fingernägel kurz zu halten. Das ging aber nur wenn er schlief oder aber unter Medikamenten stand. Ansonsten war es schier unmöglich, die kleinen Fäuste zu öffnen.

    Was ich nur weiß, ich steigere mich mehr und mehr in die Helferrolle hinein. In mir steigt die Meinung auf, ich wäre für diesen Job geschaffen und es wäre sogar meine Aufgabe, mich aufopfernd um diese Kinder zu kümmmern. So, wie jeder es tat, für viele war es mehr als ein Beruf, es war eine Lebensaufgabe.
    Aber im Hintergrund konnte man das Rauschen der Fluktuation der Mitarbeiter hören, das Pflegeheim sucht immer Mitarbeiter.

    Die ersten ungefähr zwei Monate erlebe ich einen fordernden, aber dennoch, eigentlich erfüllenden Job. Ich komme um acht Uhr morgens, helfe mit, die Kinder für die Schule fertigzumachen, lege Wäsche, scherze mit der Küchendame – die immer einen Snack für mich hatte –, pflege ein bis zwei Kinder pro Tag und mache um 16 Uhr Feierabend.

    Mein anfänglicher Schockzustand weicht einer Routine, mit der ich mich mittlerweile gut arrangieren konnte.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!