• Guten Tag, ich nehme mal an, dass ich mich auf dieser Seite vorstellen kann. Ich bin Hanna, eine Angehörige einer schwerst alkoholabhängigen Person und am Ende meiner Weisheit, aber vor allem auch meiner Kraft. Vielleicht kann mir jemand einen Rat geben, was ich tun kann, meiner Verwandten doch noch zu helfen, ohne dabei psychisch selbst draufzugehen oder sogar selbst abhängig zu werden.
    Am besten ich schildere hier gleich, was mich so verzweifeln lässt. Ich habe eine Schwester, sie ist 79 Jahre alt, hat schwere Krankheiten gehabt (Magenkrebs, Brustkrebs) und ist seit Jahren eigentlich alkoholabhängig. Immer wenn sie Probleme hatte, war der Alkohol mit im Spiel. Sie war selten in der Lage, Probleme mal im Kopf zu lösen. Mit der Flasche wurden ihre Probleme aber noch schlimmer. Ich lebe im Norden Deutschlands , sie im Süden. Wir haben aber täglich Telefonkontakt. Seit ca 4 Wochen trinkt sie wieder ganz schlimm - sie hatte schon mehrere Entzüge hinter sich, immer eingewiesen in einer Situation, die sie gar nicht mehr checken konnte. Es ist nun wieder so weit, ich versuche seit wenigstens einer Woche, so auf sie einzuwirken, dass sie sich einweisen lässt. Aber sie verweigert es, isst angeblich nicht mehr, lallt nur noch. Wenn ich ihr sage, dass ich von hier aus einen Arzt an ihrem Ort anrufen werde, der sie in die Klinik einweist, beschimpft sie mich oder wirft den Hörer auf. An manchen Tagen hebt sie nicht ab und ruft dann später bei mir an, um mir gleich wieder zu drohen: wehe, du schickst einen Arzt zu mir. Ich kenne die Zustäde bei ihr, sie ist dann nicht mehr in der Lage, sich zu waschen, kontrolliert Stuhl und Urin auszuscheiden,, ist auch schon gestürzt und hat sie den Oberschenkelhals gebrochen. Da sie allein lebt, hat sie eine gute Bekannte von ihr angerufen, die dann dafür gesorgt hat, dass sie in die Klinik und anschließend in eine Reha kam. Danach war sie wieder für ein knappes Jahr halbwegs trocken. Ich habe ihr gestern auch angeboten, zu ihr zu kommen, obwohl ich durch das ganze Drama selbst eigentlich dringend Hilfe brauchte (Blutdruck steigt, immer wieder Herzrasen, Angst vor den Gesprächen) Auf keinen Fall soll ich kommen! Ich habe vor einem halben Jahr meinen Mann verloren und bin eigentlich auch gar nicht in der Verfassung, mir das Elend live anzusehen. Bitte, was soll, was muss ich tun? Mache ich mich irgendwie strafbar, wenn ich nichts tue? Für einen Rat wäre ich dankbar!
    LG Hanna

  • Hallo Hama
    Erst mal willkommen hier.
    Ich wüste nur den Rat dich mal an eine Suchtberatung zu wenden.
    Die Frage ist nur so wie du das Schilderst,wie kommt sie denn an den Stoff?
    LG
    Daun

    Der Weg ist das Ziel<br />Konfuzius (551–479 v. Chr.

  • Hallo Daun,
    danke für deine Begrüßung und deine Antwort. Meine Schwester hat wie immer vorgesorgt und Dosen mit Prosecco gelagert. Sie war ja schon mindestens vier- bis fünfmal zum Entzug und irgendwann bevor der neue Rückfall kommt, lagert sie schon ein. Sie will also eigentlich überhaupt nicht aufhören zu trinken, den Entzug hat sie jeweils nur widerwillig gemacht, um damit einem Organversagen zuvor zu kommen. Meine Meinung ist wirklich: sie will im Unterbewusstsein nicht aufhören . Aber sie inszeniert das alles so, dass sie mir und auch ihrer Bekannten dauernd ein schlechtes Gewissen macht: " Ich hab schon vier Wochen nichts mehr gegessen" usw. Sie weidet sich ebenso unbewusst daran, dass wir dann natürlich besorgt sind. Ich versuche, mich gefühlsmäßig von ihr abzukoppeln, aber das ist sehr schwer, sie ist immerhin meine Schwester. Bei einer Suchtstation an meinem Wohnort habe ich auch schon angefragt; mir hat man dort gesagt, dass ich mich zurükziehen sollte, wenn mich dieser Zustand so belastet und meinen Blutdruck in die Höhe treibt. Aber das ist nicht leicht.. andererseits macht sie mir den Rest meines Lebens - ich bin auch schon 78 - kaputt. Das möchte ich mir nicht gefallen lassen, zumal ich in den letzten fünf Jahren meinen Mann zu Hause bis zu seinem Tod gepflegt habe und mich jetzt mal wieder um mich kümmern könnte. Aber mein Mann war ein umgänglicher und lieber Mensch, der es mir zu erleichtern versuchte, wie er konnte.
    LG Hama (Hanna)

  • Liebe Hanna,

    ich finde es sehr nachvollziehbar, dass es dir schwerfällt, dich von der traurigen Situation deiner Schwester abzugrenzen.

    Ich kann dir rechtlich nichts sagen - da kenne ich mich nicht ausreichend aus.

    Wenn sie dich kontaktiert und du den Eindruck hast, es besteht Gefahr, dass sie sich verletzt, kannst du den Notarzt rufen. Das kannst du ihr ja auch vorher ankündigen.

    Es ist schrecklich, was eine Suchterkrankung anrichtet, nicht nur für die Süchtigen selbst, sondern auch für die Angehörigen.

    Ich bin selber alkoholabhängig, seit einigen Jahren trocken, und ich bin auch Schwester und kann dich daher gut verstehen.

    Deine erste Verantwortung ist deiner eigenen Gesundheit gegenüber. Du darfst dich abgrenzen.
    Deine Schwester muss sich selber helfen wollen, sonst kann es keiner, auch du nicht.

    Alles Gute, und noch hilfreiche Antworten hier wünsche ich dir.

    Herzlichen Gruß
    Camina

  • Liebe Camina,

    vielen Dank für deine freundliche und klare Antwort, die mich auch etwas ruhiger macht. Es ist so, dass ich psychisch durch den Verlust meines Mannes selbst noch sehr angeschlagen bin und glaube, dass ich das Elend nicht verkraften würde, das ich antreffen würde, wenn ich zu meiner Schwester reiste. Spontan hatte ich ihr das am Telefon ja angeboten. Aber sie hat vehement abgelehnt: Bleib bloß da, ich lasse dich nicht rein. Sie weiß, dass ich dann etwas unternehmen würde, damit sie in eine Klinik kommt. Sie sagte, sie könne alles selbst entscheiden, sie sei nicht unmündig. Ich fühle mich inzwischen auch gefährdet und nehme Beruhigungsmittel, weil ich die Angst und die Spannung sonst kaum ertrage und auch nachts keine Ruhe bekomme. Ich will aber nicht selbst von irgendetwas abhängig werden, von Alkohol sowieso nicht, weil ich ihn überhaupt nicht vertrage und sofort spucken muss. Ich bin zwischen Mitleid mit meiner Schwester und echte Wut auf sie hin und her gerissen. Ich KANN meiner Schwester nicht helfen, ich ginge über kurz oder lang selbst drauf! Das spüre ich ganz deutlich.

    Liebe Camina, alles Gute für dich und nochmals vielen Dank für deine Antwort!

    Herzliche Grüße
    Hama

  • Guten Morgen Hanna,

    herzlich Willkommen hier im Forum.

    Es fällt mir jetzt gar nicht so leicht, meine Gedanken an Dich in Worte zu fassen. Ich selbst habe viele Jahre getrunken und lebe jetzt aber schon lange ohne Alkohol. Ich kenne also die Seite des Trinkers sehr gut und kann Dir auch "nur" aus dieser Perspektive heraus antworten.

    Was Du schreibst deutet darauf hin, dass Deine Schwester nicht ernsthaft vor hat, mit dem Trinken aufzuhören. Es trotz ihrer zahlreichen Entgiftungen auch nie vor hatte. Darauf deutet ja die Tatsache hin, dass sie bereits vor den Entgiftungen schon den Alkohol für danach besorgt hat. Es ging ihr also scheinbar "nur" darum, einfach mal zu entgiften, sich etwas zu erholen um dann wieder trinken zu können. Und das hast Du ja auch bereits erkannt, Du schreibst es ja im Grunde auch so.

    Das ist etwas, was gar nicht so selten vor kommt. Ich weiß aus persönlichen Berichten, dass in Entgiftungsstationen regelmäßig Menschen sind, die sich dort nicht deshalb einfinden, weil sie ernsthaft dauerhaft ohne Alkohol leben wollen. Sondern einfach um zu entgiften, sich zu erholen und dem Körper eine Pause zu "gönnen". Und die, sobald sie raus sind, sofort wieder mit dem Trinken beginnen und auch nie etwas anderes vor hatten.

    Aus der Sicht eines Menschen, der selbst jahrelang abhängig getrunken hat, kann ich dazu nur sagen: Wenn das so ist, wenn das auch bei Deiner Schwester so ist oder war, dann kann niemand etwas dagegen machen. Kein Außenstehnder hat die "Macht" einen Trinker zum Aufhören zu bewegen. Es wäre schön, wenn es anders wäre und wir hätten dann wahrscheinlich auch nicht diese fast 2 Millionen aktiv alkoholabhängigen Menschen in Deutschland. Aber leider ist eben genau das, das Problem. Nur der Betroffene selbst kann etwas an seiner Situation ändern. Nur Deine Schwester selbst, wäre in der Lage etwas an ihrer Situation zu verändern. Wenn sie es denn wollte, wenn sie einen Sinn darin sehen würde.....

    Wenn ich da auf mich zurück blicke, dann war ich damals Anfang 40, als ich aufgehört habe. Trotz dieser vergleichsweise noch "jungen Jahre", war ich aber bis zum Schluss der Meinung, dass es für mich keinen Sinn macht mit dem Trinken aufzuhören. Die letzten 2 - 3 Jahre meiner Sucht trank ich sozusagen hemmunglos mit dem Gedanken im Kopf, dass ich mich dann eben zu Tode trinken werde, wenn es denn so kommen sollte. Ich hatte nicht mal mehr die "Lust" oder Kraft, Trinkpausen einzulegen, auch keine ganz kurzen. Ich sah keinen Sinn mehr darin, ich konnte und wollte mir ein Leben ohne Alkohol nicht mehr vorstellen. Und das, obwohl ich Familie hatte, und Kinder die noch "klein" waren, noch nicht erwachsen und die ihren Papa gut hätten brauchen können.

    Ich schreibe Dir das, weil ich Dir damit zeigen möchte, wie mächtig diese Sucht ist und wie ohnmächtig selbst der Trinker hier manchmal ist. Als Angehöriger ist man da dann einfach komplett außen vor. Leider nur was den Einfluss auf die Sucht betrifft, ansonsten hängen die Angehörigen voll mit in dieser Sucht und leiden fürchterlich, gerade eben an dieser Ohnmacht. Du selbst erlebst das ja schon seit Jahren bei Dir....

    Vielleicht denkst Du jetzt: Aber du hast es doch geschafft weg zu kommen vom Alkohol. Ja, das habe ich. Aber das war kein Verdienst meines Willens oder weil ich so einen tollen Plan gehabt hätte. Letztlich kann ich Dir nicht genau sagen, warum es dann tatsächlich so gekommen ist. An dem Tag, an dem ich aufhörte mit dem Trinken, hatte ich alles Mögliche vor, aber mit dem Trinken aufhören gehörte nicht dazu. Es hat einfach Klick gemacht und ich habe dazu selbst erst mal nichts beigetragen. Und anschließend hatte ich viel Glück auf meinem Weg und wohl auch Gottes Segen in der Hinterhand.

    Was ich sagen will, es liegt einfach nicht in Deiner Hand. Und ich schreibe jetzt ganz viel aber will eigentlich nur sagen: So schwer es Dir auch fällt, weil es Deine Schwester ist und Du helfen möchtest (was ich absolut allumfänglich nachvollziehen kann): Lass sie los, lass sie in Liebe los. Und kümmere Dich um das, wofür Du die Verantwortung hast. Und das ist Dein Leben und Dein Wohlbefinden. Ich weiß, es ist leicht geschrieben von mir und so schwer in der Realität umzusetzen. Aber wenn Du das nicht tust, bleibt die Sucht und der Schmerz Deiner Schwester auch Deine Sucht und Dein Schmerz. Jedoch ohne das Du dagegen etwas tun könntest und ohne das Du dafür die Verantwortung trägst. Und wie Du ja selbst schreibst: Der Rest Deines Lebens wird durch die Sucht Deiner Schwester kaputt gemacht, wenn Du es zu lässt. Und genau das nicht zuzulassen, ist im Bezug auf die Sucht Deiner Schwester das einzige, was Du selbst in der Hand hast. Lass sie in Liebe los und lebe Dein Leben.

    Ist mir jetzt sehr schwer gefallen die richtigen Worte zu finden, und ich kann nur hoffen, dass es auch die richtigen waren.

    Was das "Rechtliche" betrifft, so bin ich hier kein Experte. Da Du ja aber im Norden lebst, Deine Schwester im Süden, ihr also räumlich extrem weit getrennt seid, wüsste ich jetzt nicht, welche rechtlichen Konsequenzen Dir wegen was auch immer drohen könnten. Ich meine, am Ende ginge es ja dann irgendwie um unterlassene Hilfeleistung. Würdest Du jetzt in der Wohnung Deiner Schwester auftauchen und sie in einer akuten Notsituation aufgrund ihres Alkoholkonsums vorfinden und es unterlassen z. B. den Notarzt zu rufen, dann wäre das sicher ein Problem. Du jedoch telefonierst mit ihr, Du kannst die Situation via Telefon gar nicht so exakt einschätzen. Klar, wenn Sie Dir jetzt z. B. am Telefon, sozusagen live, kollabieren würde, dann müsstest und würdest Du sicher auch handeln, sprich den Notartz anrufen. Ansonsten kannst Du ja nichts tun, Du kannst sie ja auch nicht gegen ihren Willen irgendwo einweisen lassen, zumindest so lange nicht, so lange sie noch bei Sinne ist.

    Wie gesagt, dass sind jetzt nur meine Gedanken dazu, ohne Anspruch auf Richtigkeit. Ich bin da rechtlich leider nicht so bewandert.

    Ich wünsche Dir aus tiefsten Herzen, dass Du einen Weg für Dich finden kannst. Lies Dich hier auch mal durch den Anhörigenbereich, Du wirst feststellen, dass Du nicht alleine bist, vielleicht hilft Dir das auch wenig. Alles alles Gute für Dich!

    Liebe Grüße
    Gerchla

  • Grüß Dich ganz herzlich Gerchla,

    als ich Deinen Beitrag gelesen hatte, habe ich erst mal geheult. Wenn man sich so allein und isoliert mit dem Problem fühlt und dann kommt von irgendwo ein Echo, eine echte Antwort, ein Trost, eine Hilfe, egal wie man das jetzt nennen will, dann spürt man plötzlich, dass man nicht allein auf weiter Flur dasteht, es entspannt sich der gesammelte Stress erst mal und das Heulen tut sooo gut! Ich danke Dir schon allein dafür und auch, dass Du Deine eigene Situation so offen beschrieben hast. Wie schön, dass Du es geschafft hast, obwohl Du Deine Lage ja auch damals wohl als aussichtslos angesehen hast. Dieser "Klick", der Dich gerettet hat, vielleicht wirklich eine Botschaft und ein Anker von irgendwo da oben!? Wer weiß das schon... . Ja, wie sehr die Sucht einen Menschen im Griff haben kann, das sehe resp. höre ich jetzt auch wieder täglich. Und das habe ich schon x-mal mit Unterbrechungen oft sogar von einem Jahr mitbekommen. Man hofft und denkt, es ist vorbei, sie hat es geschafft!, und dann kommt die kalte Dusche unweigerlich irgendwann wieder. Ich kann den Beteuerungen "nächste Woche höre ich auf" nie mehr glauben, obwohl es ja auch Beispiele wie das von Dir gibt, die fast an ein Wunder grenzen. An einem Punkt hast Du den Willen aufgebracht, das Wunder geschehen zu lassen. Dafür hast Du meine ganze Achtung und Anerkennung. Ich danke Dir auch für die Hilfestellung, die Du mir für künftige Entscheidungen gegeben hast, wenn Du betonst, dass ich auch eine Pflicht mir gegenüber habe, dass ich mein Leben wegen des Dramas meiner Schwester nicht entgleisen lassen sollte. Ich hoffe, dass ich mich daran halten kann, damit ich die Ablösung von ihr schaffe, in Liebe sie loslassen kann. Vielleicht löst sich dann auch dieses Wutknäuel auf, dass ich neben dem Mitleid immer wieder spüre. Ihr soziales Umfeld existiert praktisch nicht mehr; FreundInnen haben Abstand genommen und die Nachbarschaft hat sie durch ihr abweisendes Verhalten wohl auch verschreckt. Wenn ich sie danach frage, wird sie aggressiv. Sie macht sich vor, dass niemand von ihrer Abhängigkeit weiß, dabei ist sie sturzbetrunken auch schon gestürzt und man musste ihr wieder auf die Beine helfen.

    Vielen Dank noch einmal und für Dich und Deine Dir Nahestehenden alle meine guten Wünsche!
    Hama

  • Liebe Hanna,

    ich freue mich sehr, dass Dich meine Gedanken erreichen konnten. Und Du sie für Dich nutzen kannst. Und ja, Du bist nicht allein, wirklich nicht. Wenn Du wüsstest wie viele da draußen noch sind, die Ähnliches erleben wie Du, die täglich damit konfrontiert sind, die täglich darunter leiden, weil z. B. der eigene Mann oder die eigene Frau trinkt... Oder das eigene Kind... die Geschwister wie bei Dir.... Und bei den allermeisten da draßen wird darüber geschwiegen, es wird verschwiegen, vertuscht, es wird mit allen Mitteln versucht nach Außen eine heile Welt aufrecht zu erhalten. Der Trinkende wird geschützt, für ihn/sie wird gelogen, oft aus Scham, es wird versucht so zu tun, als ob doch alles ok wäre. Und dabei gehen dann sowohl der Trinkende als auch die oft Co-Abhängigen Angehörigen zu Grunde, leider....

    Alkohol ist eine verdammte Droge, die gefährlichste überhaupt. Weil sie legal ist, weil sie überall präsent ist und weil sie von unserer Gesellschaft zum Kulturgut empor gehoben wird und schon immer wurde. Dabei ist Alkohol nichts anderes als Zellgift.... Du merkst, ich werde gerade emotional und das will ich eigentlich nicht, weil es niemanden hilft.

    Ich habe Dir eigentlich alles geschrieben, was ich Dir schreiben wollte. Aber ich möchte eines noch sagen: Ich verstehe all Deine Gefühle, vor allem auch das Gefühl der Wut, das sich bestimmt auch aus dieser Ohnmacht heraus ergibt. Der Gedanke daran, dass sie ja "nur" endlich mit dem Trinken aufhören müsste, dass sie doch sehen muss, was sie damit anrichtet und dass sie trotzdem weiter trinkt. Dieser Gedanke kann aus Hilflosigkeit und Verzweiflung schnell auch Wut werden lassen. Und weißt Du was: Das ist völlig in Ordnung. Diese Gefühle, all die Gefühle die Du hast, die sind absolut ok. Lass sie zu, aber erlaube ihnen nicht, Dein Leben zu dominieren. Erlaube z. B. der Wut nicht, Dein ganzes Wesen über einen längeren Zeitraum einzunehmen. Gib diesen Gefühlen einen Raum, einen zeitlich begrenzten Raum, wo sie sein dürfen. Verdrängen wäre falsch, mit diesen Gefühlen aber dauerhaft leben wäre genauso falsch. Durchlebe sie, akzeptiere sie und schließe dann Deinen Frieden mit diesen Gefühlen in dem Du Frieden mit der gesamten Situation schließt, in dem Du Frieden mit Deiner Schwester schließt.....

    Auch wieder so leicht geschrieben und so schwer im echten Leben umgesetzt. Ich habe das damals bei mir so erlebt. Von der anderen Seite her. Ich hatte unglaubliche Schuldgefühle nachdem ich aufgehört hatte zu trinken. Plötzlich nahm ich nämlich wahr, was ich angerichtet hatte, plötzlich stand ich vor dem Trümmerfeld, welches ICH hinterlassen hatte. Ich hatte damals mehrere "Pläne", wie ich mit diesen Schuldgefühlen (und noch ein paar negative andere Gefühle mehr) umgehen könnte. Einer davon war der Plan, mich abzulenken. Ein anderer war, sie einfach nicht zuzulassen und sofort zu verdrängen. Entschieden habe ich mich dann letztlich dafür, und das ganz bewusst, diesen Gefühlen einen Raum zu geben. Sie zuzulassen und auch auszuhalten. So machte ich z. B. in den ersten Monaten ohne Alkohol fast täglich einen längeren Spaziergang, wo ich ganz bewusst, also von mir selbst herbei geführt, all diese Gefühle und Probleme durchdachte. Da gab ich ihnen Raum und Zeit. Das war nicht immer schön, es war sogar meistens nicht schön. Aber für mich so unglaublich wichtig um aufarbeiten zu können.

    Natürlich kamen solche Gefühle auch mal aus dem Nichts, z. B. vor dem Einschlafen oder so. Und da habe ich sie dann schon weggedrückt, denn ich wollte ja nicht, dass sie immer präsent sind. Sie bekamen ihren Raum, aber eben nicht immer.

    Weißt Du, ich kenne Dich ja nicht, nicht Dein Umfeld und Deine Lebensumstände. Aber vielleicht ist es Dir ja möglich, auch im realen Leben mit Menschen über Deine Situation zu sprechen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das unglaublich viel helfen kann. Wie Du selbst geschrieben hast, einfach das Feststellen, dass man nicht alleine ist. Vielleicht gibt es in Deiner Nähe eine reale Selbsthilfegruppe für Angehörige.Viele Selbsthilfegruppen für Alkoholiker haben auch ein Angebot für Angehörige. Vielleicht wäre das was für Dich, damit Du das nicht alles mit Dir alleine ausmachen musst. Wie gesagt, vielleicht ist es ja gar nicht so und Du kannst z. B. mit einer Freundin sprechen. Ich wollte Dir das einfach noch schreiben.

    Alles alles Gute für Dich!

    Liebe Grüße
    Gerchla

  • Lieber Gerchla,

    ja, Deine Worte haben etwas in mir bewirkt; ich fühle mich nicht mehr so isoliert mit meinem Problem. Ich stimme Dir zu, Alkohol ist wirklich ein Verhängnis, nicht nur ist er überall toleriert und zu haben, sondern die Gesellschaft - also eigentlich wir - haben ihn salonfähig gemacht und , wie Du richtig sagst, zum Kulturgut erhoben. Bis er dann jemand - und das sind offenbar viele - zum Verhängnis wird und ein Gebäude aus Lügen und Vertuschung um dieses "offene Geheimnis" zum Schutz des/der Betroffenen errichtet wird, bis auch das zusammenbricht. Genau so erlebe ich das gerade auch. Was Du über die Gefühle von Ohnmacht , Wut und Verzweiflung sagst, hat mich sehr beeindruckt, besonders wie Du damit umgegangen bist. Sie zuzulassen, sie zu durchleben, da besteht bei mir noch viel Lernpotential. Ich hoffe, dass mir das eines Tages - nicht erst, wenn es zu spät ist - auch gelingen kann. Jedenfalls macht mir dieser Gedanke Mut.
    Dein Vorschlag, vielleicht in eine Selbsthilfegruppe zu gehen, wäre schon möglich, in meiner Stadt gibt es so etwas. Allerdings hat das bis jetzt für mich eine riesige Hürde bedeutet, mich dort anzumelden. Deshalb habe ich es auch erst einmal anonym über dieses Forum versucht und hatte das Glück, dass Du mir geantwortet hast. Vor allem Deine Empathiefähigkeit hat mich sehr beeindruckt und mir gut getan. Dafür danke ich Dir; es ist mir heute Abend etwas leichter ums Herz.

    Liebe Grüße und alles Gute
    Hanna alias Hama

  • Liebe Hanna,
    auch ich möchte dich in unserer Online-Selbsthilfegruppe herzlich Willkommen heißen.

    Wie gut, dass Gerchla dir mit seiner einfühlsamen Art schon etwas Entlastung schaffen konnte.
    Auch ich möchte dir sagen, dass du nicht allein bist, und dass es sehr gut ist, dass du dir Hilfe gesucht hast. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hilflos man sich als Angehörige fühlt, und wie leicht man sich in die Co-Abhängigkeit verstrickt aus Liebe und Verantwortungsgefühl.

    Du hast wirklich für deine Schwester getan, was du nur konntest. Es ist das fürchterlich Traurige an der Sucht, dass nichts fruchtet, wenn der Süchtige nicht wirklich aussteigen will. Diese Erfahrung machen leider sehr, sehr, sehr viele Angehörige und es tut furchtbar weh und es macht auch wütend, mitanzusehen, wie der Mensch, dem man sich verbunden fühlt, sich sichtlich zugrunde richtet.

    Ich selbst habe meinen Vater zugrunde gehen sehen, er wurde nur 43 Jahre alt. Die Zeit mit ihm hat meine Familie letztlich krank gemacht. Er hat immer wieder Versuche unternommen, der Sucht zu entkommen, aber aus irgendwelchen Gründen, die ich bis heute, 33 Jahre nach seinem Tod, nicht verstehen kann, ist er wieder und wieder und wieder abgestürzt.

    Ich selbst, inzwischen Ende 40, bin schließlich alkoholabhängig geworden, begriffen habe ich das erst vor über acht Monaten und ich arbeite seither an meiner Trockenheit. Dazu gehört für mich auch, mich intensiv mit dieser Erkrankung zu beschäftigen und für MICH zu sorgen.

    Deine Schwester zeigt keinerlei Anzeichen, dass sie mit dem Trinken aufhören will, und so, wie du sie schilderst, gibt es nichts, was du für sie tun kannst. Sie selbst lässt deine Hilfe auch gar nicht zu.
    Daraus folgt, dass du letztlich wirklich nur für DICH sorgen kannst. Und du bemerkst ja selbst, was ihre Erkrankung mit dir macht.
    Hilfreich ist da wirklich, sich mit anderen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder machen, auszutauschen. Das kann dir etwas Halt geben und es kann dir eine Hilfe sein, wenn du dich wieder in die Gedanken verstrickst, etwas tun zu müssen, und dabei Raubbau an dir selbst zu betreiben.

    Gerchla spricht von „in Liebe loslassen“. Und da ist eine ganze Menge dran, so schwer das auch ist.
    Ich selbst habe eine jüngere Schwester, ob sie bereits alkoholabhängig ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass sie und auch ihr Mann viel zu viel Alkohol trinken und ich weiß, dass sie ernsthafte Probleme hat. Gesund ist sie jedenfalls nicht. Besondere Sorgen mache ich mir in diesem Zusammenhang um ihre beiden Kinder. Ich liebe meine Schwester sehr und auch ihre beiden Kinder, aber sie stößt mich immer wieder von sich weg. Wie sie mit mir umgeht, tut mir furchtbar weh. Bislang hatte ich versucht, trotzdem für sie da zu sein, ich hab ihr auch gesagt, dass ich für sie da bin, wenn sie Hilfe braucht. Sie aber hat mir mehrfach deutlich gesagt, das sie meine Hilfe nicht will und nicht braucht.
    Ich leide unter diesem Zustand, aber ich kann nichts tun. Besonders auch nicht, weil ich selbst krank bin, ich habe schwere Depressionen und MS.

    Meine eigene Erkrankung hat mich aber auch gelehrt, dass ich für mich selbst sorgen muss und sogar darf. Ich habe eine Verantwortung für mich und ich habe inzwischen auch verinnerlicht, dass ich das wert bin. Ich bin durch das Leben in einer alkohohlkranken Familie innerlich sehr verletzt und geprägt worden. Auf mich selbst habe ich nie Rücksicht genommen, nicht Rücksicht nehmen können. Andere waren immer wichtiger als ich. Das hat schließlich dazu geführt, dass ich selbst schwer krank geworden bin.

    Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen rate ich dir daher, für dich zu sorgen. Dazu gehört auch, mit deiner Schwester nur dann zu telefonieren, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Ich hab das für mich auch erst lernen müssen.

    Wenn sie Hilfe braucht und annehmen möchte, wird sie sie gewiss von dir bekommen. Ob es dazu kommt? Wer weiß? Solange du ihr immer wieder abnimmst, was sie für sich tun sollte, wird sie nicht wirklich auf die Idee kommen, für sich selbst zu sorgen, aus verschiedenen Gründen.

    Ihre Reaktionen auf deine Angebote sind mir von vielen anderen Erfahrungsberichten vertraut.

    Was den Umgang mit Gefühlen betrifft, von dem Gerchla dir erzählt hat, kann ich auch noch etwas beitragen: Es hat seinen Grund, warum Gefühle auftreten. Nach meiner eigenen Erfahrung und Beobachtung wollen sie dir etwas mitteilen. Gefühle wegzudrängen oder als etwas Schlechtes abzutun, hilft nicht wirklich weiter. Unbeachtete, unbearbeitete Gefühle kommen irgendwo anders an die Oberfläche. Schlimmstenfalls kommt es zu Dissoziation und selbstverletzendem Verhalten.
    Wut äußert sich zum Beispiel in Magenbeschwerden und anderswo. Ich hatte sehr oft Migräne, Rückenschmerzen und Magen-Darm-Beschwerden.
    Frag dich doch mal, was deine Wut dir mitteilen will und ob sie nicht vielleicht doch berechtigt ist.
    Sie hat mit dem Gefühl von Ohnmacht und Enttäuschung zu tun, nicht wahr?

    Frag dich, welchen Handlungsimpuls dein Gefühl Dir vorschlägt und ob dieser Handlungsimpuls angemessen ist. Wenn ja, gib ihm nach. Das kann Schreien im Wald sein oder mit einem geknoteten Handtuch aufs Bett einschlagen (da geht nix kaputt).
    Sind es zwei Gefühle, die nicht gleichzeitig ausgelebt werden können, horch in dich hinein, welches das primäre Gefühl ist und gib dessen Handlungsimpuls nach, wenn er denn angemessen ist.

    Gerne kannst du berichten, was funktioniert und was nicht. Davon können du und andere profitieren.

    Wenn keine Zeit für ein Gefühl ist, verpacke ich das gedanklich in eine Schachtel oder eine Schublade und verspreche mir, meinem Inneren, dass ich mich damit beschäftige, wenn Zeit dafür ist. Das funktioniert bei mir inzwischen recht gut.

    Herzliche Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

    Einmal editiert, zuletzt von proky (9. Juli 2021 um 07:18)

  • Liebe Hanna,

    danke für Deine lieben Zeilen.

    Ich möchte Dir bezüglich "Deiner" Hürde, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen, noch ein paar Gedanken von mir schreiben:

    Ich glaube, es ist ziemlich normal, oder besser gesagt, menschlich, dass man nicht hurraschreiend in eine Selbsthilfegruppe rennt. Vielen Alkoholikern geht und ging es da genauso, vor ihrem ersten Besuch in einer SHG. Und für ganz viele scheint diese Hürde so hoch zu sein, dass sie es gar nicht erst versuchen. Aus meiner Sicht ist das eine verlorene Chance, denn es gibt wohl kaum ein niederschwelligeres Hilfsangebot, welches für viele Betroffene aber eine ganz hohe positive Wirkung hat. Letztlich trifft man dort auch Menschen, die ähnliches erlebt oder durchgemacht haben wie man selbst. Wo könnte man besser verstanden werden als bei solchen Menschen?

    Ich kenne mehrere Alkoholiker, darunter auch wirklich ehemals Schwerstabhängige (auf die niemand einen Pfifferling gesetzt hätte), die nach ihrer Entgiftung ausschließlich durch den Besuch "ihrer" SHG dauerhaft vom Alkohol weggekommen sind. Natürlich gibt es auch andere, die nach dem Besuch einer SHG festgestellt haben, dass das nichts für sie ist und es sie nicht weiter bringt. Zu dieser Gruppe gehöre übrigens ich. Mein erster Gang, nach gerade mal 24 h ohne Alkohol, war der zu einer SHG. Ich wurde dort offen aufgenommen und ich will sagen, dass ich die ersten Wochen und Monate dort eine Art Heimat oder Zuflucht gefunden hatte.

    Plötzlich nämlich waren da Menschen um mich herum (ich lebte damals in einer großen Stadt und konnte täglich die Gruppe besuchen), die alles verstanden was ich sagte. Die mich nicht verurteilten, sondern die im Gegenteil, Verständnis zeigten. Die mir durch ihre eigenen Erfahrungen wertvolle Tipps gaben. Und, das ist auch ganz wichtig, die mir zeigten, dass es möglich ist, ein neues Leben ohne Alkohol zu führen. Denn viele dort, lebten schon sehr lange ohne Alkohol.

    Trotzdem, liebe Hanna, bemerkte ich nach einigen Wochen, dass das nicht das ist, was ich letztlich auf Dauer brauchte. Das lag nicht daran, dass diese Gruppe schlecht gewesen wäre, nein, absolut nicht. Es lag schlicht an mir und meiner Persönlichkeit, an meinen Erwartungen und wohl auch daran, dass ich für meinen Weg aus der Sucht einfach andere Hilfsangebote benötigte. Meine SHG für die erste Zeit gut, war ein Anker in den ersten Wochen. Später bemerkte ich, dass sie mir nicht mehr die Antworten geben konnte, nach welchen ich jetzt, also nach ein paar Monaten ohne Alkohol, gesucht habe.

    Und dann war es plötzlich ein Mönch (lange Geschichte), der mein Begleiter wurde und mir letztlich zurück ins Leben half. Und schau, liebe Hanna, auch hier wieder die Hürde, mich gegenüber einem wildfremden Menschen zu öffnen, ihm meine Geschichte inkl. meiner unglaublichen Schuld zu erzählen. Und mit ihm wieder und wieder darüber zu sprechen. Hätte ich es nicht getan, hätte ich diese Hürde nicht überwunden, ich weiß nicht ob ich Dir heute hier schreiben würde.

    Ich schreibe das so ausführlich, weil ich Dir damit etwas sagen möchte. Ich will Dir sagen, dass ich Dich verstehen kann. Ich kann verstehen, dass das eine Hürde für Dich ist und ich finde es super, dass Du Dich hier geöffnet hast, denn auch das ist vielen nicht möglich. Ganz viele lesen auch einfach nur still mit und melden sich hier nie an. Oder melden sich an aber schreiben nicht. Du hast das getan und es hilft Dir, das ist wunderschön und genau dafür sind wir da.

    Mein Gefühl (ja, es nur ein Gefühl) sagt mir aber, dass es Dir wahnsinnig gut tun könnte, wenn Du Menschen hättest, also im realen Leben, mit denen Du Dich regelmäßig austauschen könntest. Weißt Du, in diesem Austausch könntest Du Deinen Gefühlen, Deinen Sorgen und Deinen Ängsten einen Raum und eine Zeit geben. Dort könntest Du sie zulassen und mit anderen (welche Dich verstehen werden weil sie selbst betroffen sind) darüber sprechen.

    Ich habe meine Spaziergänge, von denen ich Dir schrieb und die ich nutzte um meinen Gefühlen eine Zeit zu geben, nicht selten mit einer vertrauten Person gemacht. Einfach auch deshalb, um eine andere Meinung zu bekommen, oder einfach jemanden zu haben der mir zuhört oder einfach auch mal jemanden zu haben, der mich tröstet. Wobei ich ja Täter war und meine Familie Opfer. Trotzdem gab es manchmal Situationen, wo es einfach nur gut tut, wenn da jemand ist, der Dich in den Arm nimmt und sagt: Hey, du bist auf dem Weg, alles wird gut werden.

    Weißt Du was ich sagen möchte? Du hast absolut nichts zu verlieren, Du kannst nur gewinnen. Niemand kann Dich zwingen dort zu bleiben, wenn Du Dich nicht wohl fühlst. Niemand kann Dich zwingen, dort ein zweites Mal hinzugehen, wenn Du selbst das nicht möchtest. Du hast es alleine in der Hand. Wenn Du Dich aber wohl fühlst, wenn Du merkst, dass es Dir gut tut, dann hast Du so eine wertvolle Hilfe an Deiner Seite, die Dein ganzes Leben positiv beeinflussen wird.

    Nur wenn Du es erst gar nicht probierst, wirst Du es nie wissen und lässt vielleicht eine große Chance/Hilfe liegen. Das würde ich als unglaublich schade empfinden.

    Aber bitte verstehe mich nicht falsch. Ich will Dich zu nichts überreden oder bequatschen. Ich schreibe Dir das nur, weil ich so oft schon von Betroffenen gehört habe, dass sie so froh waren, ihre Ängste und Bedenken überwunden zu haben und die diesen Schritt zu einer SHG dann gemacht haben. Und das sagen auch viele von jenen, die dann doch nicht geblieben sind und einen anderen Weg gingen. Aber sie haben dann die Klarheit, dass dieses Angebot für sie nicht das richtige ist und "brauchen" auch nicht weiter darüber nachdenken.

    Wie auch immer, hier bei uns kannst Du Dich auf jeden Fall jederzeit melden und Deine Gedanken schreiben. Ich wollte Dir einfach mal meine Sicht schreiben und vielleicht ein wenig dazu beitragen, dass Deine Ängste oder Bedenken weniger werden, Dich dazu ermutigen, es einfach mal auszuprobieren mit so einer SHG. Nach dem Motto: Ich geb der SHG mal eine Chance. Und wenn wir nicht zusammen passen, dann halt nicht. Auch gut.

    Bis bald mal und

    ganz liebe Grüße
    Gerchla

  • AmSee, ich grüße dich herzlich,

    und vielen Dank für das freundliche Willkommen hier im Forum. Zunächst lass mich sagen, wie leid es mir tut, dass du MS hast und dazu noch eine schwere Depression kommt. Deine Geschichte hat mich sehr berührt, sowohl die Abhängigkeit, in die du durch das Beispiel deines Vaters geraten bist, als auch das ablehnende Verhalten deiner Schwester dir gegenüber. Ich wünsche dir sehr, dass du es schaffst, ganz aus der Sucht herauszukommen. Wie schwer so etwas ist, erfahre ich täglich durch meine Schwester, wobei diese ganz offenbar gar nicht ernsthaft da herauskommen will. Sie konnte schon immer schlecht für sich selbst sein und brauchte immer eine Art Publikum, wenn man so will. Durch Corona war sie, wie ich ja auch, wegen ihres/unseres Alters schon sehr gefährdet und gezwungenermaßen mehr oder weniger isoliert. Das war bestimmt mit ein Auslöser, dass sie wieder angefangen hat zu trinken. Trotz unserer täglichen Telefonate habe ich nicht erfahren, wie sie an so eine Menge Alkohol kam, da sie ja selbst ihn gar nicht hätte besorgen können. Sie hat wohl dauernd reichliche Vorräte davon; jeden Tag hatte ich mehr und mehr den Eindruck - unsere Anrufzeit ist ca 15 Uhr - dass sie schon wieder ordentlich zugelangt hatte, ihre Sprache war verwaschen, die Zunge schwer, wie man sagt und ihre Gedanken sehr sprunghaft. Am Anfang wollte ich das nicht wahrhaben "bitte nicht schon wieder!" Ich habe es also wie sie selbst gemacht, den Kopf in den Sand gesteckt, weil ich wusste, dann kommen bei mir auch wieder die Depressionen, dann steigt mein Blutdruck an, dann fühle ich mich wie gelähmt. Gerade eben das Gespräch ging auch wieder voll daneben: "lass mich in Ruhe! Kannst du nicht mal was Vernünftiges sagen? Lass uns Schluss machen, ich leg jetzt auf." Ich würde sie ja gar nicht mehr anrufen, da sie aber allein lebt, habe ich Sorge, dass sie stürzt und dann hilflos in der Wohnung liegt. Ich bin jetzt fest entschlossen, es mir nicht mehr "unter die Haut" gehen zu lassen. Ich WILL nicht mehr abends eine Schlaftablette nehmen müssen, damit ich abschalten kann und ich will keinesfalls von Tabletten abhängig werden. Gerchla`s und deine Vorschläge zum Umgang mit Gefühlen wie Mitleid und Wut werde ich beherzigen und für mich einen Weg finden, weil ich ja ohne Schuldgefühle meine Haut "retten" darf. Es muss mir also gelingen, mich ihr gegenüber nicht schuldig zu fühlen. Das wird schwer genug, denn wenn ich einen Rückblck auf unser beider Leben werfe , so muss ich zugeben, dass mir lange nicht so dicke Brocken in den Weg gelegt wurden wie ihr, die viele schwere Hürden nehmen musste. Daher resultiert bei mir auch das Mitleid, das die Wut immer wieder überspielt.
    Ich bedanke mich ganz herzlich bei dir für die Offenheit und die hilfreichen Worte und wünsche dir alles Liebe und Gute!

    Herzliche Grüße
    Hanna

    Einmal editiert, zuletzt von AmSee13 (8. März 2022 um 13:22)

  • Grüß Dich Gerchla,

    gestern hatte ich den Eindruck, dass ich das Problem "Alkohol" bei meiner Schwester mit mehr Abstand sehen kann, heute sieht das schon wieder anders aus. Irre hoher Blutdruck, Panikattacken, gegen beides wieder Pillen geschluckt! Ich habe mich nun doch entschlossen, in eine Selbsthilfegruppe für Angehörige zu gehen. Ein unmittelbarer Austausch mit anderen Betroffenen ist vielleicht eine Chance, mein allmählich gravierender werdendes eigenes Problem, auf die Dauer von Medikamenten abhängig zu werden, verhindern zu können. Ich brauche wohl wirklich ein Ventil, wo ich Luft ablassen kann und ein unmittelbares Echo bekomme. Ich danke allen, die mir geantwortet haben, besonders auch Dir, dass ihr auf mein Problem so detailliert eingegangen seid. Vielleicht melde ich mich demnächst wieder, um über meine Erfahrungen in der Gruppe zu berichten. Dir wünsche ich, dass Du auf dem Weg bleiben kannst, den Du seit so langer Zeit jetzt gehst und hoffe, dass Du ein unterstützendes intaktes Umfeld hast.

    Ganz liebe Grüße
    Hanna

  • Liebe Hanna,

    es freut mich, dass Du es mal mit einer SHG vor Ort versuchst. Du kannst nur gewinnen!

    Danke Dir für Deine lieben Wünsche. Man weiß nie wie es im Leben kommt, was auf einem zu kommt, was einen vielleicht auch mal aus der Bahn werfen kann. Ich hoffe und vertraue darauf, dass ich ggf. stark genug sein werde, meinen Weg weiter zu gehen. Mein Umfeld ist ein ganz tolles Umfeld, das macht es sicher einfacher, aber am Ende bin ich ganz alleine für mich und mein Leben, mein Handeln verantwortlich. So war es ich als ich trank und so ist es selbstverständlich auch heute noch.

    Würde mich freuen, wirklich sehr freuen, wenn Du ab und an mal hier berichtest, wie es Dir geht. In der großen Hoffnung, dass Du uns dann viele positive Zeilen schreiben kannst.

    Alles Gute für Dich und auch für Deine Schwester.

    Liebe Grüße
    Gerchla

  • Liebe Hanna,
    vielen Dank für dein Mitgefühl mit mir. Ich denke, ich bin da inzwischen auf einem ziemlich guten Weg und das Leben nimmt ja nun einmal nicht immer die gerade Bahn, nicht wahr?
    Entscheidend ist, was man für sich selbst daraus macht und dass man für sich selbst Verantwortung übernimmt. Ich selbst übernehme jedenfalls diese Verantwortung und interessiere mich für Lösungen, die zu MIR passen.

    Du schreibst, dass du heute wieder irre hohen Blutdruck und Panikattacken hattest. Gab es dafür direkte Auslöser oder sind das verspätete Nachwirkungen von etwas?
    Panikattacken sind mir vertraut, sie treten bei mir in der Regel auf, wenn ich eh schon recht angespannt bin und dann noch etwas oben drauf kommt.
    Es gibt allerdings auch Trigger, die bei einer generalisierten Angststörung auftreten können. Bei solchen Menschen reicht zum Beispiel schon das Splittern von Glas.
    Wie ist das bei dir?

    Warum auch immer deine Schwester wieder dem Trinken angefangen hat, du musst wissen, wer trinken will, findet immer einen Grund. Und gerne wird die Schuld dafür dann anderen gegeben.
    Das ist etwas, was sich in sehr vielen Erfahrungsberichten finden lässt.
    Üblich ist übrigens auch, die wahre Menge zu verheimlichen.

    Selbst wenn deine Schwester es in ihrem Leben schwerer hatte als du, kannst du das nicht dadurch wettmachen, dass du dich selbst „opferst“.
    Was du über dich erzählst, klingt aber danach, dass du mehr von dir verlangst, als gesund für dich ist.
    Du spürst, dass deine Depressionen wieder kommen und stellst sogar eine Verbindung zu der wieder auftretenden Alkohol-Erkrankung deiner Schwester her. Du fühlst dich gelähmt, schreibst du.
    Ich sehe darin ein Zeichen: Deine Psyche spürt, dass du an deine Grenzen stößt und sie wehrt sich gegen die Überforderung. Denn egal, was du auch tust, deine Schwester lässt sich nicht helfen, sie weist dich sogar schroff ab und sie entscheidet sich für das Trinken.
    Letztlich bist du ja auch gelähmt.

    Ich hab selbst auch immer wieder gegen solche Windmühlen gekämpft. Erst, als ich Gelegenheit hatte, das mal von Außen zu betrachten, wurde mir bewusst, wie aussichtslos mein Kampf ist und warum mein Körper und meine Psyche mich schließlich gebremst haben.
    Da erst konnte ich anfangen, mir das, was ich mir sozusagen auf die Schulter geladen hatte, von dieser herunter zu nehmen und ich konnte aufhören, gegen unüberwindliche Windmühlen anzukämpfen und anfangen, tatsächlich für mich zu sorgen.

    Sich aus einer Verstrickung wie deiner zu lösen, geht nicht von jetzt auf gleich. Es hat ja schließlich auch eine ganze Weile gedauert, bis du da hineingeraten bist. Sich diesbezüglich Hilfe zu holen, ist völlig in Ordnung und sogar sinnvoll.

    Dass du nun zu einer SHG vor Ort gehen willst, könnte tatsächlich so eine Hilfe sein. Vielleicht ergeben sich dadurch für dich auch noch weitere Möglichkeiten.

    Du rufst deine Schwester täglich an, um dich zu versichern, dass sie nicht gefallen ist und hilflos in ihrer Wohnung liegt. Die Anrufe aber tun dir nicht wirklich gut.
    Gibt’s keine anderen Möglichkeiten, wie gesichert werden könnte, dass deine Schwester Hilfe bekommen kann, falls sie fällt? - Meine Oma zum Beispiel, die trotz ihres Lungenkrebs bis zum Schluss in ihrer Wohnung leben konnte und auch ab und zu mal gefallen ist, hatte so einen Notfall-Knopf an einem Band um den Hals. Mit diesem konnte sie ggf. Hilfe rufen.
    Hat deine Schwester einen Pflegegrad und somit Anspruch auf Hilfe?
    Solche Dinge können angeleiert werden und ihr könnt euch diesbezüglich beraten lassen.
    Wenn deine Schwester aber tatsächlich gar keine Hilfe will und sie noch in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden, kannst du darüber unendlich traurig sein, aber letztlich nichts weiter tun, als auf für dich gesunden Abstand zu gehen.

    In der Therapie habe ich den Unterschied gelernt zwischen Mitfühlen und Mitleiden. Mitfühlen ist in Ordnung, denn dann bleibe ich bei mir. Mitleiden gilt es zu vermeiden.

    Herzliche Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

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