• … liebe Mitleser. Ich bin seit ca. 10 Monaten ein "stiller" Mitleser und ziehe dennoch aus den Diskussionen hier wichtige Erkenntnisse für mich und viele hilfreiche Impulse. Zu mir: Ich bin nun seit ca. 13 Monaten trocken. Ich habe keine klassische Langzeittherapie oder ähnliches gemacht sondern bin irgendwie über andere "Umwege"? zu der Abstinenz gekommen. Dass mit meinem Alkoholkonsum etwas nicht stimmt oder es sich in eine sehr bedenkliche Richtung entwickelt hat, war mir schon länger klar. Nur, wie bei vielen Süchtigen wollte und konnte ich mich dem nicht stellen.
    Ich bin 39 Jahre alt, haben einen sehr guten Job, der mir wirklich Freude macht, bin verheiratet mit einem wunderbaren Mann. Ich habe von außen betrachtet alles - schönes Haus, guten Job, finanziell geht es uns auch gut. Die letzten vier Jahre bevor mein "Zusammenbruch" kam, habe ich sehr viel gearbeitet - eigentlich nur noch gearbeitet. Ich war sehr viel unterwegs und berufsbedingt oft fünf Tage auf Dienstreise. Immer mehr kam dann in den Jahren der Alkohol dazu. Meist abends um vermeintlich fitter, konzentrierter zu sein und es wurde zum Selbstläufer. Ich habe völlig die Kontrolle über meinen Konsum verloren und brauchte immer mehr. Die Arbeit wurde auch immer mehr - ich war nur noch weg. Manchmal sogar froh darüber da ich dann einfach auch trinke konnte wie ich wollte. Parallel bin ich aber auch sehr aktiv - laufe viel und mache sonst viel Sport mit meinem Mann oder allein. Auch das wurde mir dann zu viel - natürlich war ich auch körperlich bald nicht mehr so dazu in der Lage. Schlechter Schlaf, Kater - ich fühlte mich einfach nicht mehr wohl in meiner Haut. Im Nachhinein weiß ich nicht was zuerst da war - die vielen Forderungen im Geschäft, der Alkohol und damit der Drang leistungsfähiger zu sein...? Ich hatte letztes Jahr im Sommer völlig den Draht zu mir verloren. Mir war nur noch schlecht - ich konnte kaum noch etwas essen, war unausgeruht und emotional völlig überfordert. All dies hielt ich bis zu meinem Zusammenbruch vor meinem Mann geheim - ich wollte irgendwie immer funktionieren. Heute weiß ich nicht mehr warum. Im August ging es dann nicht mehr - ich bin in eine Klinik (wir haben die hier bei uns im Ort), von einem Tag auf den anderen. Ich war der Meinung - Burnout - doch in der Klinik wurde durch meine Blutwerte klar, dass ich ein massives Alkoholproblem habe, ein Suchtproblem habe. Ich war dann zur Sicherheit zwei Tage auf der Suchtstation (die Tage waren schlimm). Dann war ich vier Wochen in Therapie aber ich war einfach nicht so weit, wirklich hin zu schauen (heute empfinde ich das so). Ich wollte einfach wieder arbeiten gehen, wollte mein Leben zurück.
    Ich war dann im September drei Wochen wieder arbeiten und ich packte es nicht mehr - griff wieder zum Alkohol und war dann wieder im Oktober in der KLinik (Akutstation). Dann hat es irgendwie "Klick" gemacht. Mir war plötzlich klar - ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich kann nur durch Abstinenz meine vielen Probleme und Themen angehen. Und ich war auch so weit zu sagen: Ich bin auch bereit, meinen Job in Frage zu stellen und ich nehme mir jetzt Zeit so lange wie es dauert. Ich war dann vier Wochen in der KLinik bis Mitte November 2019. Dann war ich bis Januar daheim (hatte viele Hausaufgaben mitbekommen) und im Januar nochmal drei Wochen geplant in der Klinik. Seit März arbeite ich wieder und arbeite weiter an mir Ich bin wöchentlich bei meinem Therapeuten und einmal im Monat bei meiner Suchtberaterin. Ich möchte euch allen danken - ich habe viele eurer Beiträge gelesen. Gerchla, Greenfox etc. - ihr leistet hier viel Hilfe und dafür möchte ich mich bedanken. Vieles verstehe ich in mir immer noch nicht. Ich habe auch sehr große Angst vor einem Rückfall. Bislang habe ich durch die vielen Instrumente, die ich mir mit meinem Therapeuten erarbeite, auch schon viele schwierige Situationen bewältigen können. Mein Mann steht komplett hinter mir - ich kann mit ihm mittlerweile sehr gut reden und muss das auch tun. Ich habe viel zu viel in mich hinein gefressen, um zu funktionieren. Es fällt mir manchmal noch schwer, Gefühle auszuhalten und auch klare Grenzen zu ziehen - im Beruflichen und auch privat. Es ist eine stetige Reise, die mich immer mehr zu mir bringt. So empfinde ich es. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Chance bekommen habe und ich möchte sie gern nutzen.
    Ich war gestern bei meiner Suchtberaterin. Ich habe ihr des Öfteren erzählt, dass ich in dem Forum lese und versuche Dinge zu verstehen (warum geht es mir gerade so, ist das normal... etc.). Sie riet mir, mich doch auch mal aktiv einzubringen und auch mal eine SHG zu besuchen. Die SHG will ich nächsten Montag das erste Mal besuchen. Heute nun das erste Mal eine Vorstellung meinerseits.

    Mir ist bewusst, dass ich auf mich aufpassen muss und ich sehe auch, dass das vergangene Jahr - trotz all der Fragen, die ich für mich beantworten musste - ein wunderschönes war. Ich genieße es, abstinent zu leben und einen klaren Kopf zu haben. Gerchla hat es mal beschrieben, dass das erste Jahr geprägt war für ihn von den vielen Themen, die ihn beschäftigt haben - auch mir geht es so. Manchmal - zum Beispiel letztes Wchenende - merke ich, dass sich die Sucht in mir meldet und sagt "He - ich bin da. wie sieht es aus mit uns beiden?". Ich versuche in den Momenten das anzunehmen und den inneren Dialog zu führen und auch zu hinterfragen, warum der Gedanke plötzlich aufkommt. Was steckt dahinter. Ich habe viele Dinge verändert: Ich reise weniger - weil ich es nicht mehr will, weil ich gern daheim bin, weil ich diese Sicherheit brauche. Ich mache viel Sport. Ich bin gern und viel in der Natur mit unserem wunderbaren Hund, den wir seit einem Jahr haben. Ich verbringe bewusster Zeit mit meinem Mann - ich versuche zu verstehen, was ich will, wer ich bin und warum ich so bin und viel wichtiger: Ich habe gelernt, dass ich ein guter Mensch bin, dass ich es wert bin geliebt zu werden. Und das ist ein Prozess, den ich ganz bewusst wahrnehme und bei dem ich viel Unterstützung durch meinen Therapeuten erfahre.

    Das war jetzt sehr viel und ich hatte nun einfach mal den Gedanken: jetzt schreib doch mal. Jetzt zeig dich doch mal. Hab ich lange vor mir her geschoben. Vielen Dank vorab fürs Lesen. Und nochmals danke an alle, die in den letzten Monaten mit ihren Beiträgen mir geholfen haben. Vielleicht - so war auch mein Gedanke - kann ich auch jemandem mit meinem Beitrag helfen.

  • Hallo Larry,
    ich habe gerade deinen Beitrag gelesen und möchte nicht ohne eine Antwort vorbeigehen.
    Herzlich Willkommen hier im öffentlichen Bereich! :welcome:
    Ich bin beeindruckt von deiner Vorstellung. Du wirkst sehr reflektiert und das, was du über deinen jetzigen Zustand schreibst, klingt hoffnungsvoll.
    In Manchem, sowohl Negativem als auch Positivem, erkenne ich mich gut wieder.
    Nur ganz kurz zu mir: Ich bin w, 48 Jahre alt, glücklich verheiratet, kenne aber leider Depressionen ziemlich gut und arbeite seit vielen Jahren daran, diese Krankheit zu bewältigen.

    Ich bin gespannt, mehr von dir zu lesen, und wünsche dir viel Erfolg auf deinem weiteren Weg.
    Viele Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo, Larry wikende091

    Herzlich Willkommen im sichtbaren Teil des Forums :welcome:

    Ich finde, Du hast schon eine Menge erreicht! Und wie fühlt es sich an, das auch mal rauszulassen? Sich zu artikulieren und zu sagen "Ich hatte zwar ein Problem - aber ich hatte auch den Arsch in der Hose, dieses Problem anzugehen! Und schaut Euch an, was ich geschafft habe!"


    Vielleicht - so war auch mein Gedanke - kann ich auch jemandem mit meinem Beitrag helfen.

    Nicht nur vielleicht - bestimmt sogar!

    Ich freue mich darauf, demnächst mehr von Dir zu lesen!

    Gruß
    Greenfox

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Danke Greenfox und Am See für eure Antworten und eure warme Begrüßung. Wie fühlt es sich an, das auch mal rauszulassen, fragst du Greenfox? Es fühlt sich gut an. Ich tue mich so schwer damit, mir auch mal selbst auf die Schulter zu klopfen. Es ist eines meiner Themen mit meinem Therapeuten. Irgendwie hat es sich immer so angefühlt, wie, wenn ich es laut sagen würde - könnte es ganz schnell vorbei sein mit dem guten Gefühl und zu viel Eigenlob ist nicht gut und wägt nur in Sicherheit.

    Ich kann sehr streng mit mir sein - und das hat mich auch gerade am Anfang viel beschäftigt. Die Schuldgefühle - die Frage warum ich so lange mich selbst gequält habe und so lange es habe so "hin werden lassen" auf der Reise in den Abgrund... Mit dem Versuch "gut zu mir zu sein" werde ich noch lange üben müssen. Das ist mir bewusst. Auch mit meinem Mann zu reden - über uns, über mich und wie es mir geht muss ich noch üben. Wir sind herrlich gut im organisieren: des Jobs, seiner Kinder (die zur Hälfte bei uns leben), unsers Lebens - dabei vergessen wir gern uns selbst.

    Ich habe auch viel Glück gehabt, dass nach der Klinik auch gleich die therapeutische Anbindung geklappt und - das ist ja auch nicht leicht - ich mich mit ihm sehr wohl fühle. Ich habe in der Klinik viele Leitsätze für mich erarbeitet, die ich mir versuche möglichst jeden Tag in das Gedächtnis zu rufen. Es gibt immer aber oft Momente, wo mich der Suchtgedanke quält. Mittlerweile nicht mehr so oft.

    In der Klinik sagte meine Therapeutin immer: und dann fühlen Sie mal in sich hinein - und ich dachte: Was soll der Quatsch? Was soll ich denn da fühlen... Jetzt mit der Zeit fühle ich tatsächlich Dinge und zwar ganz bewusst. Darüber bin ich glücklich.

    Dennoch habe ich auch Angst und Sorge weil ich manchmal so viel denke. Ich glaube manchmal ich denke zu viel. Ich bin ein unheimlich viel grübelnder Mensch und muss über alles nachdenken - was war, was ist und was werden wird. Auch über meine Sucht denke ich viel nach. Das belastet mich manchmal sehr und ich rede viel mit meinem Therapeuten und auch mit meiner Suchtberaterin darüber, wie schwer es mir fällt das Grübeln zu durchbrechen.

    Durch den Austausch hier erhoffe ich mir auch ein wenig, die Dinge mal "rauszulassen" - vielleicht auch mal aus meinem Kopf hier reinzuschreiben und dann sind sie hier drin und raus aus meinem Kopf. Ähnliches erhoffe ich mir auch von nächsten Montag wenn ich in die SHG gehe. Ich bin da sehr gespannt drauf, ob es ein weiterer Baustein werden kann auf "meiner Reise"...

    Danke für eure Zeit

  • Hallo Larry,
    du schreibst,


    Ich kann sehr streng mit mir sein

    Das kenne ich selbst nur zu gut. Inzwischen nenne ich die Stimme in mir „der innere Kritiker“.
    Hast du dich schon mal mit der psychologischen Theorie, die dahinter steht, beschäftigt? Mein „Innerer Kritiker“ war riiiiieeesig, ziemlich laut, immer vor mir da und nie mit dem zufrieden, was ich leistete. Und ich HABE geleistet und wie. Ich war stets bemüht, alles hundertprozentig zu machen. Ich war Perfektionist. Es hat meinem Kritiker nie gereicht, der fand immer was zu meckern. Und irgendwann war ich dann am Ende.
    Ich bin dann in eine Klinik gegangen, in eine offene Station für an Depressionen Erkrankte.
    Ein Suchtproblem hatte ich damals zum Glück noch nicht.
    Dort hat man uns übrigens stets dazu angehalten, das Wort „müssen“ aus unserem Vokabular zu streichen und durch „dürfen“ zu ersetzen. Das klang am Anfang reichlich merkwürdig und mehr als einmal haben wir uns darüber lustig gemacht, aber nach und nach habe ich begriffen, was dahinter steht. Heute benutze ich das Wort „müssen“ sehr viel seltener und bewusst und das entlastet mich spürbar.
    Das „gut zu sich sein“ habe ich auch erst lernen und lange üben müssen. Ich kann dir aber Mut machen, dass es leichter wird, je länger du das übst. Und ich versichere dir, dass das gut und richtig ist und du das „darfst“. ;)

    Zitat


    In der Klinik sagte meine Therapeutin immer: und dann fühlen Sie mal in sich hinein - und ich dachte: Was soll der Quatsch? Was soll ich denn da fühlen... Jetzt mit der Zeit fühle ich tatsächlich Dinge und zwar ganz bewusst. Darüber bin ich glücklich.

    Das kommt mir seeehr bekannt vor!

    Ich bin auch ein viel grübelnder Mensch, bin es fast schon immer gewesen. Hast du schon Tricks oder Übungen gelernt, wie du das durchbrechen kannst?
    Du weißt, dass man sich durch dieses Grübeln in eine Abwärtsspirale bewegen kann? Hast du Achtsamkeits-Training gemacht?

    Mir hat der Austausch mit anderen hier sehr geholfen. Es ist manchmal überaus hilfreich, die Dinge eben nicht mit sich selber auszumachen.

    Viele Grüße
    AmSee

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo Am See,

    tatsächlich arbeite ich sehr viel meinem Therapeuten an diesen "vielen Stimmen" die in mir wohnen. Ja der "innere Kritiker" (ich habe ihn Johhny Controlletti getauft) hat bei mir einen groooooße Anteil und hinterfragt eigentlich alles - stets und ständig - privat und beruflich. Er sorgt auch dafür, dass ich ständig in Bewegung bin und ja auch nicht nachlasse. Ich habe früher Leistungssport gemacht und bei mir ist der Leistungsgedanke sehr stark ausgeprägt. Aber ich war und bin überrascht, wie viele andere "Stimmen" noch dazu in mir wohnen - das innere Kind, z.B.

    Mir wird immer mehr bewusst, wann die "Stimme" mit welchen Forderungen auftaucht. Aber auch hier übe ich noch.
    Bezüglich Achtsamkeits-Training: Ja, auch hier probiere ich mich aus. Ich habe Phasen (meist ist es einen Tag ganz besonders schlimm und zwei Tage danach wird es besser), wo es mir auch körperlich schlecht geht. Mir ist dann übel, ich habe ganz viel Unruhe in mir und dann beginne ich Panik zu entwickeln. Das ist das Gefühl wie damals als ich in die Klinik bin, wo es mir ganz schlecht ging. Und wenn es mir so geht (es war das letzte Mal so vor zwei Monaten und davor immer so alle anderthalb Monate) dann kommt der Gedanke: Trink jetzt was, dann geht es dir besser und dann bekomme ich noch mehr Panik. Ich habe dann bislang immer meinen Therapeuten angerufen (der rief dann zurück) und ich bin, um mich abzulenken, mit unserem Hund in den Wald und habe ganz bewusst einen Spaziergang gemacht. Ich versuche dann Laub in die Hand zu nehmen, die Rinde anzufassen, zu riechen und zu spüren (die Temperatur, den Wind - alles). Das hilft mir dann immer und die Panik wird weniger. Überhaupt hilft es mir rauszugehen in die Natur. Auch funktioniert bei mir PMR ganz gut - aber unter Anleitung geht es am besten. Auch rufe ich immer meinem Mann an, der dann meist auch schnell nach Hause kommt und dann einfach da ist wenn ich in Panik verfalle (wie gesagt es kommt nicht jede Woche vor und im Moment habe ich das Gefühl die Abstände werden größer). Mein Therapeut meint, das seien wie so emotionale ZUsammenbrüche. Ich denke dann sofort, ich kann nichts mehr, ich stehe wieder ganz am Anfang und steigere mich rein...

    Manchmal finde ich das alles sehr mühsam aber wenn ich mich dann bei mir selbst beklage muss ich auch in mich hinein lächeln und stelle fest: Mir geht's gut. Mir geht es viel besser und das gefällt mir einfach.

    Ich kann es einfach nicht besser ausdrücken aber so fühle ich es. Vielleicht ist es auch so, dass ich jetzt erst lerne, die Dinge so richtig zu fühlen und Worte dafür zu finden für mich. Dadurch kommt mir alles manchmal auch ganz neu vor. Ich weiß nicht, ob das jemand von euch kennt.

  • Manchmal finde ich das alles sehr mühsam aber wenn ich mich dann bei mir selbst beklage muss ich auch in mich hinein lächeln und stelle fest: Mir geht's gut. Mir geht es viel besser und das gefällt mir einfach.

    Ich kann es einfach nicht besser ausdrücken aber so fühle ich es. Vielleicht ist es auch so, dass ich jetzt erst lerne, die Dinge so richtig zu fühlen und Worte dafür zu finden für mich. Dadurch kommt mir alles manchmal auch ganz neu vor. Ich weiß nicht, ob das jemand von euch kennt.

    Ja, das ist etwas, das ich auch erst wieder lernen musste: Gefühle zulassen und auch Gefühle benennen. Denn früher habe ich die eigentlich immer nur betäubt und ertränkt - egal, ob es positive oder negative Gefühle waren.
    Ich habe alles in mich hineingefressen und, da es natürlich irgendwann zu viel wurde, mit Alkohol zugeschüttet.

    In der Therapie fragte der Therapeut immer: Wie geht es Ihnen heute? Meist lautete unsere Antwort standardmäßig: Gut! Und dann kam das Nachbohren: Was meinen Sie mit 'Gut'? Wie geht es Ihnen wirklich? Was fühlen Sie?
    Wir wurde regelrecht "gezwungen", uns mit uns selbst zu beschäftigen, in uns hineinzuhören - und es auch rauszulassen, zu äußern.
    "Nur wenn man dem Anderen sagt, dass es Einem nicht gut geht, kann er auch sein Verhalten dementsprechend ändern."

    Also gib auch dem Anderen eine Chance. Und damit auch Dir selbst.

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Ich kenne diese Zustände, die du beschreibst, selbst sehr gut. Nach allem, was ich bislang darüber weiß, und ich arbeite schon eine ganze Weile an dem Thema, bist du schon auf einem ziemlich guten Weg und auch schon recht weit gekommen.

    Dass du die Stimmen bereits identifizieren kannst und sogar immer mehr weißt, wann die jeweilige Stimme mit welcher Forderung kommt, ist schon ein Riesenfortschritt.

    Was diese Phasen betrifft, an denen es dir dann auch körperlich schlecht geht, die kenne ich auch. Positiv darfst du schon mal betrachten, dass diese „nur“ drei Tage andauern. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass das eine Besserung bei dir ist. Ich kenne ebenfalls solche Phasen. Mir hilft dann Rückzug und möglichst das zu tun, was ich gerade brauche. Meine beiden Hunde sind mir da eine ganz besondere Hilfe.
    Du schreibst von diesen Panikmomenten. Definitiv hast du da ein paar sehr gute Coping-Strategien. Dass sich der Gedanke an Alkohol aufdrängt, ist bei deiner Geschichte nicht verwunderlich. Du kennst dich schon mit biochemischen Prozessen im Gehirn aus? Dein Therapeut wird dir gewiss versichert haben, dass es auf Dauer leichter wird, wenn du stur dabei bleibst, nicht Alkohol zu trinken. Du bemerkst ja auch schon, dass die Abstände größer werden.
    Hast du dich schon mal mit Zugangskanälen und Anspannung beschäftigt? Je höher die Anspannung, desto mehr Zugangskanäle schließen sich. Ich habe für solche Fälle sogenannte Skills kennengelernt und eine Skillskette erstellt. Laub in die Hand zu nehmen und dergleichen sind solche Skills.
    Dass du in solchen Phasen das Gefühl hast, am Anfang zu stehen, kenne ich auch. Das scheint sozusagen normal zu sein. Ich rufe mir in solchen Fällen in Erinnerung, dass ich nicht am Anfang stehe und dass diese Phase immer wieder vorbei geht. Das tut sie nämlich immer und umso leichter, je weniger ich mich unter Druck setze.
    Dass du PMR nutzt, ist prima. Wenn’s jetzt noch unter Anleitung besser geht, gut, es gibt auch Anleitungen im Netz. Mit Übung wirst du es immer besser hinbekommen und irgendwann auch gut allein.

    Empfehlen kann ich dir sonst noch, dich in Dankbarkeit zu üben. Gemäß Gehirnforschung reicht es sogar schon, sich nur darum zu bemühen, etwas zu finden. Überlege dir am Ende eines Tages oder zwischendurch immer wieder, wofür du dankbar sein könntest. Ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass das echt gut funktioniert und auch durch dunklere Phasen hindurch trägt.

    Viele Grüße

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Hallo am See,

    Nun schrieb ich Montag, dass die letzte Panikattacke fast anderthalb Monate her ist und nun erwischt es mich heute. Ich war heute morgen mit dem Hund laufen im Wald und daheim beim duschen habe ich es schon gemerkt: unruhe, Angst und ein dickes Kribbeln im Bauch (wie bei Aufregung oder Anspannung). Ich konnte dann auch kaum was essen und es kam wieder Übelkeit und Panik. Auch eine regelrechte Verzweiflung. Blöderweise hatte ich heute wichtige geschäftlich Termine ( zwar per Telkos aber ich musste konzentriert sein). Mein Mann war auch daheim, hatte aber selbst eine wichtige telko, in der er im Lead war. Ich habe mich dann also gezwungen, mich durch das geschäftliche Tun, wo ich selbst mich nicht rausnehmen konnte, abzulenken und habe auch bewusst tief geatmet.

    Es ging dann nach ca. Anderthalb Stunden besser. Aber in dem Moment: Panik pur, in den Momenten muss ich ganz oft an den Alkohol denken und gegen den Wunsch was zu trinken damit das Gefühl aufhört. Ich habe immer das Gefühl ich könne das nicht aushalten. Es ist dann schon ein Kampf.

    Jetzt heute Abend bin ich total platt. Mein Mann sagte auch ich sehe müde aus. Ich verstehe es manchmal nicht: ich gehe wirklich früh zu Bett, bewege mich viel und gut an der frischen Luft, versuche auf mich zu achten und dennoch muss ich mich manchmal so durchkämpfen.

    Die Dankbarkeitsübung mache ich übrigens auch sehr oft, eigentlich jeden Tag denke ich bewusst darüber nach für was ich dankbar bin und schätze. Mir fällt das auch nicht schwer denn es gibt da sehr viel. Heute bin ich dankbar, dass ich den Moment geschafft habe und stark geblieben bin, dass ich den Arbeitstag geschafft habe und heute Abend war ich mit unserem Hund lang noch draußen und habe die Kinder mit ihren bunten Lichtern bestaunt.

    So ein Tag mit so einer Attacke schlaucht mich immer brutal. Ich bin am Freitag wieder bei meinem Therapeuten und werde diese Situation mit ihm besprechen. Ich habe mir das auch heute im Kalender notiert und will beobachten, wie sich das entwickelt. Ich hoffe ich muss nicht mehr so viel eintragen. :-\...

    Ich wünsche euch einen schönen Abend.

  • Hallo Larry,
    natürlich ist das alles andere als schön, dass du heute wieder eine Panikattacke hattest.
    Dass und wie du aber diese Panikattacke durchgestanden hast, verdient wirklich Respekt.
    Mensch, so weit bist du schon, dass du das geschafft hast! Du hast deine geschäftlichen Termine bewältigt und das ohne Hilfe! Chapeau!!
    Dass du jetzt müde bist und dich solche Attacken brutal schlauchen, ist überhaupt nicht verwunderlich. Das weißt du gewiss, oder? Bei einer Panikattacke steht der ganze Körper unter enormer Anspannung, das kostet so richtig Energie. Hast du am Folgetag auch Muskelkater?
    Dass dein System in dieser Situation an das Mittel denkt, das es leider als hochwirksam und schnell wirkend kennengelernt hat, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Das weißt du gewiss auch, oder?
    Fakt ist aber: DU hast dich durch diese Gedanken nicht verleiten lassen. Du hast die Kontrolle behalten. Glaub mir, eine deiner inneren Stimmen ist mächtig stolz auf dich und das darf sie auch sein.
    Du hast heute eine hilfreiche Coping-Strategie gehabt. Vielleicht findest du ja noch weitere gute Strategien, möglicherweise auch auf weiteren Zugangskanälen.

    Gut, dass du gleich Freitag mit deinem Therapeuten darüber sprechen kannst. Möglicherweise findet ihr zusammen auch einen Grund, warum es heute passiert ist, und du lernst, was du tun oder vermeiden musst, damit es nicht mehr soweit kommt. Haben dir vielleicht die anstehenden Termine zugesetzt? Wollte etwas in dir diese Termine nicht? - Das musst du hier übrigens nicht beantworten.

    Ich wünsche dir natürlich, dass du solche Attacken nicht mehr so häufig eintragen musst.

    Erhol dich gut!

    Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern,
    aber du kannst jetzt neu anfangen und das Ende ändern.

  • Jetzt heute Abend bin ich total platt. Mein Mann sagte auch ich sehe müde aus. ...

    Hast Du mit Deinem Mann auch darüber geredet, wie es Dir geht? Im Allgemeinen und in diesem Moment im Besonderen?
    Oder frisst Du alles in Dich hinein und versuchst, es ganz alleine hinzukriegen?

    Letzteres wird höchstwahrscheinlich irgendwann in einer Katastrophe enden - in der Form, dass Du es nicht alleine hinkriegen wirst und irgendwann "platzen" wirst, d.h., zusammenbrechen und/oder doch zur Flasche greifen wirst.
    Denn irgendwann ist nun mal das Fass voll - also hilft es, den Druck gleich rauszunehmen.

    So ist MEINE Erfahrung.

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Hallo Greenfox,

    danke für deine Nachricht. Ja, ich rede mit meinem Mann darüber - auch gestern. Wir haben am Abend dann noch ausführlicher geredet. Er kennt auch meine Pläne am Montag in die SHG zu gehen und findet das gut. Er ist schon sehr für mich da und ich beziehe ihn auch ein - gerade auch in solchen Momenten.
    Manchmal nimmt er mich dann einfach in den Arm oder wir reden darüber was mir helfen würde - gestern zum Beispiel Termine absagen oder es versuchen...

    Ich versuche schon und zwinge mich auch dazu ihn teilhaben zu lassen, gerade auch in solchen Momenten.

    Liebe Grüße

  • Hallo liebe mitlesen,

    Erst einmal wünsche ich allen ein gesundes neues Jahr! Ich habe heute morgen den Beitrag eines Schreibers hier gelesen, der nun ein Jahr trocken ist aber eben auch Höhen und Tiefen durchlebt und haarscharf an einem Rückfall vorbei geschlittert ist. Ich bin nun auch seit fast 15 Monaten abstinent und die letzten Tage, dir letzten zwei, waren wieder geprägt durch innere Unruhe und Panik. Das gute ist, ich merke es wird besser, die Abstände größer und auch die Übelkeit nicht mehr so groß. Dennoch belastet mich das sehr. Ich habe oft solche Angst vor einem Rückfall und kann mich in Gedanken dort so sehr reinsteigern. Ich könnte dann heulen und habe solche Angst und Panik, die mir fast die Luft nimmt und mich fast lähmt.
    Ich lese hier oft, dass es eine Reise ist und je zufriedener man mit sich und seinem Leben ist auch die Gedanken an Alkohol abnehmen. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich habe einen tollen und sehr liebevollen Mann, einen guten Job und ein schönes Haus mit Garten. Wir haben viele Hobbies und ich bin gern aktiv draußen. Ich mache viel Sport, bin gern in der Natur und mit unserem Hund draußen.

    Ich merke dennoch wie mich der shutdown belastet. Und finde das zugleich unfair da es so viele Menschen gibt denen es schlecht geht. Ich habe ein gutes Leben und frage mich in solchen Situationen was mir fehlt, was ich besser und anders machen kann. Bin ich zu ungeduldig? Bin ich zu unzufrieden?

    In solchen Momenten versuche ich mit meinem Mann zu reden, mir klar zu machen, was ich erreicht habe. Und jetzt schon hilft es mir hier zu schreiben, die Gedanken zu formulieren. Manchmal bin ich schon verzweifelt weil ich gefühlt unter mir selbst leide. Ich frage mich nur warum?
    Ich versuche viel für andere da zu sein, die Familie, die Kinder meines Mannes, für die Freunde. Ich versuche ein guter Mensch zu sein. Ich hoffe sehr diese Unruhe in mir wird irgendwann gehen. Es packt mich manchmal einfach und gibt mir ein Gefühl der Panik und Hoffnungslosigkeit, die ich wenn mein Kopf eingeschalten ist nicht nachvollziehen kann.

    Ist hier jemand der mich verstehen kann, der das kennt?

    Danke euch fürs lesen

    Euer Larry

  • Hallo, Larry_2019!

    Auch Dir ein gesundes Neues!

    15 Monate sind doch schon mal eine ziemliche Hausnummer 44. Glückwunsch :blumen: :blumen3:
    Und doch stehst Du da doch noch irgendwie "am Anfang" des Weges. Du merkst selbst die deutlichen Höhen und Tiefen.

    Trotzdem schreibst Du

    Ich versuche viel für andere da zu sein, die Familie, die Kinder meines Mannes, für die Freunde. Ich versuche ein guter Mensch zu sein.

    In meiner Selbsthilfegruppe/-verein haben wir eine Maxime: Niemand sollte eine Funktion übernehmen, der nicht MINDESTENS ein Jahr, besser zwei Jahre trocken ist. Denn diese Zeit braucht er, um sich UM SICH SELBST zu kümmern und sich an sein neues Leben zu "gewöhnen".

    Natürlich gibt es Viele, die anfangs euphorisch sind und "die Welt retten" wollen. Aber dann kommen die Tiefpunkte, die von Dir beschriebenen Panikgefühle etc ... Damit muss man erst einmal klarkommen, mit sich selbst, seinem neuen Ich - und DANN, wenn man stabil ist, dann kann man anfangen, sich um Andere zu kümmern.

    Ich selbst habe damit erst angefangen, als ich etwa 2 Jahre trocken war. Dann fühlte ich mich stabil genug. Bis dahin habe ich mich nur um mich und meine Trockenheit gekümmert.
    Denn wenn ich mich um andere kümmere, ihnen helfen will, dann habe ich es wieder mit Problemen zu tun - mit Problemen, die noch nicht mal die meinen sind. Da muss ich zuerst meine im Griff haben.
    Das nenne ich "gesunden Egoismus".

    Ich wünsche Dir jedenfalls ganz viel Kraft!

    Gruß
    Greenfox

    Es rettet uns kein höh’res Wesen,

    kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

    Uns aus dem Elend zu erlösen

    können wir nur selber tun!

  • Moin Larry,

    Greenfox hat schon zitiert:

    Zitat

    Ich versuche viel für andere da zu sein... Ich versuche ein guter Mensch zu sein...


    als ich das las, bekam ich Schnappatmung. Ein Verhaltensmuster, das mich oft zum Alkohol hat greifen lassen. Für mich war es eine enorme Belastung, dass ich -als gute Ehefrau, Mutter, Schwester, Freundin und EK-und weil es sich so gehört - die Verantwortung für jemanden oder alles übernommen habe. Ich wollte immer gut da stehen, es allen recht machen, wollte geliebt werden, und keinen vor den Kopf stoßen. Ich habe alles gemacht, damit es Anderen gut ging. Und mich dabei vergessen. Ich selbst blieb mit meinen Problemen auf der Strecke. Letztendlich wurde ich manipuliert, mutierte zum seelischen Mülleimer und griff zur Flasche. Heute habe ich es satt, immer für andere da zu sein. Ich habe gelernt "Nein" zu sagen. Ohne Rechtfertigungen und Erklärungen. ICH bin in meinem Leben der wichtigste Mensch. Wie Greenfox schon schrieb, gesunder Egoismus tut da gut, sonst wirst du irgendwann gar nicht mehr auf dich schauen und wenn es dir nicht gut geht, bist du für niemanden eine Hilfe.
    Du bist auch ohne für andere da zu sein ein guter Mensch!

    Bleib oder werde gesund!

    ~ bevör ik mi nu opregen deed, is dat mi lever egaal ~

  • Hallo Larry,

    erst mal möchte ich Dir zu 15 Monaten ohne Alkohol gratulieren. Und ich wünsche Dir ein gutes und zufriedenes neues Jahr und dass noch viele Monate und Jahre ohne Alkohol folgen mögen.

    Ich glaube, ich habe noch nicht mit Dir kommuniziert, deshalb stelle ich mich ganz kurz vor:

    Ich bin Anfang 50, Alkoholiker, und trinke jetzt schon lange keinen Alkohol mehr. Davor trank ich weit über 10 Jahre abhängig, die meiste Zeit davon heimlich. Ich hatte Familie (2 Kinder) und führte die letzten Jahre meiner Sucht eine Art Doppelleben, welches es mir einerseits ermöglichte meine Sucht weiter heimlich auszuüben und andererseits die Sucht noch anheizte und steigerte.

    Ich schreibe Dir, weil mich diese Aussage von Dir

    Zitat

    Ich versuche ein guter Mensch zu sein.


    sozusagen getriggert hat. Ich kann Dir nicht sagen, ob Dir meine folgenden Zeilen jezt irgendwie "helfen" oder Dich weiter bringen, aber ich möchte Dir das einfach mal schreiben. Vielleicht auch einfach als möglichen Denkanstoss oder was auch immer.

    Als ich damals dann tatsächlich mit dem Trinken aufgehörte hatte, übrigens völlig ungeplant und quasi wie aus dem Nichts, folgten erst mal schwere Wochen und Monate. Schwer nicht deshalb, weil ich ständig von Suchtdruck geplagt gewesen wäre, sondern weil ich nach und nach immer klarer wurde und mir nach und nach auch immer deutlicher wurde, was ich eigentlich mit meiner Sucht und meinem Verhalten angerichtet hatte. Ich muss dazu sagen, dass ich mich kurz nach meinem Outing von meiner Frau (und damit auch von meinen Kindern) getrennt habe. Das führte dazu, dass ich meine Kinder nur noch zu vereinbarten Terminen sehen konnte und diese Treffen waren, obwohl ich mich immer darauf freute, sehr belastend für mich. Sah ich doch in ihren Augen was ich angerichtet hatte....

    Vorher war ich, trotz Sucht, immer sehr bemüht, wenigstens für meine Kinder noch da zu sein und ein guter Vater zu sein. Meine Ehe war, jetzt im Nachhinein betrachtet, schon längere Zeit ziemlich kaputt. Zu meinen Kindern habe ich immer tiefe Liebe empfunden und ich konnte mir eigentlich niemals vorstellen, mich zu trennen und sie damit zu verletzten. Ich tat es dennoch und ich weiß heute, dass es der richtige Weg war. Damals jedoch wusste ich das nicht und so litt ich unter dieser Trennung und vor allem an meinen Schuldgefühlen.

    Es waren also sehr schwere Monate, zwar so gut wie ohne Suchtdruck, jedoch geprägt von Schuld, von Scham und auch von Zukunftssorgen. Ich spürte, dass ich mir Hilfe holen musste um zum Einen zulernen mit meiner Schuld umzugehen (ich war nahe daran, an dieser für mich großen Last zu zerbrechen) und zum Anderen aber auch Impulse für meine Zukunft zu erhalten (hier ging es mir erst mal darum zu lernen, wie ich mit dieser Schuld, mit dieser Vergangenheit jetzt eigentlich "gut" weiterleben kann).

    Erst mal ging ich den klassischen Weg, ich suchte mir einen Psychologen. Hier kam ich aber nicht weiter, ich verstand damals nicht, was dieser Mensch mir eigentlich sagen wollte (heute verstehe ich seine Ansätze durchaus). Also suchte ich weiter und kam auf die Idee einen Mönch zu konsultieren, der mich ein paar Jahre vorher mal sehr beeindruckt hatte, den ich aber persönlich gar nicht kannte (das ist eine längere Geschichte die hier jetzt den Rahmen sprengen würde).

    Dieser Mönch jedefalls war dann tatsächlich genau das, "was" ich gebraucht habe. Wir trafen uns häufiger und ich konnte mich ihm anvertrauen und all meine offenen Fragen und Gedanken diskutieren. Übrigens, ich schreibe es nur weil er ein Mönch ist, hatte das alles keinerlei religiösen Hintergrund. Ich war damals überhaupt nicht religiös und in all unseren Gesprächen ging es zu keinem Zeitpunkt um Gott oder Glaube. Ich denke, er war so klug zu spüren, dass er mich damit eher verschreckt hätte, damals...

    Dennoch, also obwohl ich nicht über den Glauben zu ihm kam und auch nicht mit ihm darüber sprechen wollte, nahm er sich genau so viel Zeit für mich, wie ich brauchte und wollte. Und am Ende dieser Wochen und Monate stand ich da, ich möchte mal sagen, "runderneuert" erst mal. Und zuversichtlich und in der Lage, meine Schuld als Teil meines Lebens zu aktzeptieren. Und ein Reslultat dieser Gespräche war dann auch der Wunsch zu wissen, was denn eigentlich der Sinn meines Lebens ist. Denn ich hatte jetzt erst mal alles so weit im Griff. Die Beziehung zu meinen Kindern war soweit "stabilisiert", mit meiner Ex-Frau konnte ich friedlich kommunizieren und ich lebte natürlich auch alkoholfrei, ohne große Sorgen zu haben, dass mich plötzlich Suchtdruck überfallen könnte. Ich war am Ende recht gut durch dieses, sagen wir mal, erste Jahr ohne Alkohol gekommen und ich hätte das wohl auch einfach so weiter laufen lassen können.

    Dennoch hatte ich das Gefühl, da fehlt noch irgend was. Ich merkte mehr und mehr, welch großes Glück ich hatte und welches Geschenk es eigentlich war, mein Leben tatsächlich ohne Alkohol leben zu dürfen und zu können. Und in mir kam so ein Gefühl auf, dass ich daraus doch "was machen" müsste oder könnte oder möchte. Du merkst, so ganz klar waren meine Gedanken damals nicht, aber ich spürte schon, irgendwas passt da noch nicht, eine gewisse Leere war da noch zu spüren. Zunächst dachte ich , das läge bestimmt daran, dass ich all die Jahre vorher (gefühlt) immer im Vollgasbetrieb gelaufen bin, also Arbeit, Familie, viel Zeit mit den Kindern wann immer es ging und dann natürlich noch der ganze Druck bezüglich Be- und Entsorgung meines heimlich getrunkenen Alkohols. Aber je länger ich ohne Alkohol lebte und je normaler dieses "normale" Leben für mich wurde, desto weniger dachte ich, dass es daran liegen könnte.

    Und ich hatte ähnliche Gedanken wie Du. Ich dachte mir auch, ich habe doch eigentlich alles was ich brauche. Mir geht es gut und je länger die Zeit ohne Alkohol andaurte, desto besser ging es mir, eigentlich. Ich hatte eine neue Beziehung, ich war glücklich, ich hatte einen tollen Job und es sogar "geschafft", wieder eine einigermaßen gute Beziehung zu meiner ersten Frau zu haben. Natürlich war es anders aber es war viiiiiiieeeeel besser, als ich mir das hätte auch nur erträumen lassen können. Und immer wenn ich mich mit jemanden unterhalten hatte, der ebenfalls eine Trennung hinter sich hatte (das waren zu dieser Zeit komischerweise einige), wurde mir nochmal klar, wie außergewöhnlich gut das doch bei mir verlaufen ist.

    Dennoch fehlte etwas. Mir kam aber nie in den Sinn, dass das der Alkohol sein könnte, zu keiner Sekunde. Denn er war es auch nicht, sondern es war die Perspektive für mein weiteres Leben. Es war der Sinn meines Lebens. Es waren die Antworten auf Fragen wie "wer will ich sein?", "wo will ich mit meinem Leben hin?", "was möchte ich, das man mal über mich sagt wenn ich nicht mehr da bin?", "was ist eigentlich mein Auftrag hier in diesem Leben?", "was für ein Mensch möchte ich eigentlich sein?".... und einige mehr.

    Und so verbrachte ich eine nicht unerhebliche Zeit damit, mich mit diesen (solchen) Fragen zu beschäftigen. Und die haben ja so gar nichts mit "mir geht es doch eigentlich gut" oder "ich habe so ein tolles Umfeld" oder "ich habge so einen tollen Job" zu tun. Und auch nicht mit der anschließend an sich selbst gerichteten Frage "ich weiß gar nicht, warum ich so unzufrieden bin, ich habe doch alles" zu tun.

    Das geht tiefer. Hier geht es um eine Zufriedenheit mit sich selbst, um eine Zufriedenheit mit dem eigenen Ich. Es geht nicht um das Umfeld, welches noch so toll sein kann. Bitte nicht falsch verstehen: Es ist toll ein tolles Umfeld zu haben, Freunde zu haben, eine tolle Partnerschaft, oder was auch immer. Aber die Fragen um die es mir ging, die beschäftigten sich mir MIR. Und natürlich habe ich bei diesem Prozess auch all das Gedacht, was Du auch geschrieben hast. Also das ich ja eigentlich zufrieden sein kann, nein sogar zufrieden sein MUSS.

    Aber ich merkte auch, dass ich ähnlich gedacht hatte, als ich meine Sucht aufarbeitete, als ich wissen wollte, wie ich überhaupt in diese Sucht schlittern konnte. Und auch da kam ich erst mal zu dem Ergebnis, dass ich überhaupt keinen Grund hatte. Alles war toll. Keine schlimme Kindheit, Gesundheit topp, tolle Familie, Kohle ausreichend vorhanden, toller Job, warum bin ich also zum Alkoholiker geworden?

    Und auch da merkte ich, dass ich in mir selbst nicht "gesucht" hatte. Es waren immer erst mal die äußerlichen Umstände, die ich im Blick hatte.

    Ich kann heute sagen, dass ich ein zufriedener und meist auch glücklicher Mensch bin. Alkohol spielt nur insofern eine Rolle bei mir, als dass ich mich hier und in ein paar anderen Bereichen engagiere und anderen Betroffenen von meinen Erfahrungen berichten möchte. Um diesen so vielleicht den ein oder anderen Denkanstoss geben zu können. Und am Ende kam auch in mir der Wunsch auf, ein "guter Mensch" werden zu wollen. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Und ich versuche das in meinem jetzigen Leben umzusetzen und zu leben. In allen Bereichen meines Lebens, als Papa, als Partner (oder Ehemann), als Vorgesetzter für mein Team und als Mensch generell. Und damit bin ich gut beschäftigt, denn das ist manchmal gar nicht so einfach und ich darf immer wieder mal an mir arbeiten und korrigeren. Was ich wiederum nicht als Versagen empfinde, sondern als einen normalen Prozess der zum "Mensch sein" dazu gehört.

    Ich genieße also mein tolles Umfeld, meine tollen äußerlichen Gegebenheiten (z. B. Familie, Partnerschaft, Job), die ich zweifelsohne reichlich habe und ich bin sehr dankbar dafür. Weiß aber gleichzeitig, es eigentlich auf meine Selbstliebe ankommt. Und ich meine auch bemerkt zu haben, dass das eine das andere oft bedingt. Ist man ein positiver mit sich selbst zufriedener Mensch, zieht man sein Umfeld oft einfach mit, trifft selbst auf solche Menschen und bereichert so sein Leben weiter. Ist man negativ oder pessimistisch unterwegs, so hat das auch erheblichen Einfluss auf das Umfeld und dann in der Umkehr wieder auf einen selbst.

    Ich konnte das jetzt nicht anders schreiben, auch wenn ich damit Gefahr laufe ziemlich schwülstig herüber zu kommen. Aber für mich war diese Erkenntnis sehr zentral und mir hat sie sehr geholfen.

    Alles Gute weiterhin für Dich und noch ganz viele gute Jahre ohne Alkohol wünsche ich Dir.

    LG
    gerchla

  • Lieber gerchla,

    Vielen Dank für deine ausführliche Antwort und deine Gedanken. Tatsächlich hast du ganz gut beschrieben was mich umtreibt. Mit „ein guter Mensch“ sein meine ich nicht es allen recht machen zu wollen. Ich muss auf mich und meine Grenzen achten. Das weiß ich und daran arbeite ich mit meinem Therapeuten wöchentlich. Viel zu oft habe ich diese in der Vergangenheit gar nicht erkannt bei all dem Speed mit dem ich durch mein Leben gerast bin.
    Ich befinde mich auf einer Reise zu mir, auch wenn sich das blöd anhört. Für mich ist die Reise eben auch für mich, meine Familie und meine Freunde da zu sein. Ich habe gemerkt, dass ich durch den Alkohol auch viel mehr bewusster auch meine Umgebung wahrnehme und es macht mir auch Freude für andere da zu sein. Es geht mir nicht darum, irgendwas perfekt zu mache, es jemand recht zu machen. In erster Linie will ich es mir recht machen und ich nehme ganz bewusst wahr, wie es mir selbst gut tut wirklich da zu sein. Früher war ich auch da und habe gemacht aber es war anders. Ich habe nichts gespürt oder wenig.
    Ich weiß nicht ob ihr das versteht. Eigentlich hast du es gut beschrieben, gerchla, ich frage mich wer ich bin und was mir wichtig ist und was ich geben kann und will, was will ich tun, mit was und wem meine Zeit verbringen, was will ich mit meinem Leben erreichen und wahrnehmen.
    Viele Dinge, wie die Familie, die Freunde, die Natur, die Bewegung und der Job waren mir früher auch wichtig aber ich habe es nicht bewusst gefühlt. Ich denke weil ich nicht konnte und wollte und ich wusste auch nicht was das heißt.
    Meine Therapeutin in der Klinik meinte immer „reinführen“ und ich dachte was für ein Mist. Da ist nichts. Und jetzt weiß ich und merke da ist eine ganze Menge. Das bewusst zu fühlen, darüber nachzudenken und es einzuordnen fällt mir manchmal noch schwer. Ich merke auch, dass mich manche Dinge wie ein Tag ohne Pläne überfordern oder nervös machen. Doch ich merke auch, wie viele Themen ich nun bewusst durchdenke und es kommt auch Lebensfreude zurück.
    Ich freue mich zum Beispiel auf das Alter und die Kinder meines Mannes begleiten zu dürfen auf ihrer Reise in die Welt. Ich merke auch wieviel da zurück kommt. Das sind Dinge die ich früher gar nicht sehen konnte. Da hat mir die Zukunft Angst gemacht.
    Ich spüre auch viel Dankbarkeit weil ich eine Chance bekommen habe. Weil ich merke wie viel ich gewonnen habe. Die Schuld von der du schreibst gerchla, kenne ich. Auch ich habe vor meinem Mann viel geheim gehalten, aus scham, aus Feigheit, aus Angst. Ich habe viel darüber nachgedacht und auch manchmal gibt es Momente wo Schuldgefühle mich wie eine Faust umklammern und mir die Luft nehmen. Ich versuche dann bewusst nach vorn zu schauen. Ich begreife es auch so, dass ich für meine Ehe eine Chance bekommen habe denn ich liebe meinen Mann sehr und spüre auch seine Liebe. Das gibt mir Kraft. Früher hat auch das Angst gemacht. Ich weiß nicht mal warum.

    Ich weiß, dass der Weg noch lang ist. Ich bin froh, dass ich die Unterstützung durch meinen Therapeuten habe. Ich brauche das sehr und bin oft erstaunt was ich über mich erfahre. Es ist nur manchmal so, dass ich in manchen Momenten ein Gefühl bekomme als wenn ich auf einem Drahtseil jongliere. Manchmal erfasst mich diese Panik zu fallen. Es macht mir aber Mut, dass diese Momente nicht mehr ganz so heftig und oft auftreten.
    Und wie sagt mein Therapeut, nicht jeder Tag fühlt sich gleich gut an und manchmal ist man einfach traurig oder bedrückt. Das sind andere Menschen auch.

    Ich danke euch für eure Zeit und eure Hilfe

    Eurer Larry

  • Hallo Larry,

    ich bin ganz geflasht von deinem Beitrag und den guten Antworten der Anderen.

    Als beruftstätige Mutter von drei Kindern (lange erwachsen) wollte ich auch lange perfekt sein. Heute weiß ich: 80% schicken ;) Viele Jahre Therapie haben mich bekannt gemacht mit meinen vielen Facetten und auch Persönlichkeiten. Ich bin Mutter, Kind, Exfrau, Ex-Sekretärin, Deppressive, Manische, Traumatisierte, Exsaufende, Liebessehnsüchtige, Kontrollfreakige und vieles noch.

    Aha. Und nun schaue ich gerade aus dem Fenster und es schneit *freu* Aha ist eines meiner gelernten Werkzeuge. Nicht das Corona-Aha. Sondern: Aha, so ist die Situation gerade jetzt und hier. Holt mich gut aus dem Grübeln raus. Denn die Grübelnde bin ich auch immer noch. Und Panikattacken überfallen mich auch immer noch hin und wieder, Mist! Nach so vielen Jahren und soviel angesammelten Wissen über meine Krankheiten. Aber auch hier ein kleines Werkzeug: Wenn ich die Panik spüre, weiß ich jetzt schon vorher, dass die Attacke "nur" ca. 2 Minuten dauert (hat uns mal ein Arzt in der Psychiatrie erklärt). Trotzdem plätten die mich auch für den Rest des Tages :( Aber: es darf mir auch ohne Suchtmittel schlecht gehen.

    Ach, ich könnte Romane in deinem Thread schreiben...

    Nur eins noch: Ich dachte auch immer, ich bin nur wert, wenn ich hilfreich bin. Das ist in meinem Kopf Quatsch geworden. Als "angehende Eremitin" bin ich auch wertvoll. Für mich ;)

    Wünsche dir und mir und allen hier nur Gutes. Bleib dran, es lohnt sich!

    Netten Gruß,

    ichso

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