Tja, da bin ich nun...

  • Hallo,

    es ist das erste Mal, dass ich in ein Forum für Alkohlkranke schreibe. Vorweg, ich bin nicht trocken und möchte niemanden triggern. Weiß gar nicht, ob man nur als Trockener schreiben darf. Ich brauch aber echt Hilfe, deswegen muss ich mir alles mal von der Seele schreiben.

    Also: ich bin weiblich und 36 Jahre als. Trotz meines ganzen Konsums, Alkohol, Kettenraucher und ne zeitlang auch koksabhängig, hat sich mein Körper ziemlich gut gehalten und ich werde meist auf Ende zwanzig geschätzt. Vielleicht auch eine Sache, weswegen man ich mein Problem nicht richtig wahr haben will.

    In meiner Kindheit war Alkohol immer ein Thema. Natürlich mache ich niemanden verantwortlich, was ich selbst 30 Jahre später tue, aber Alkohol hatte bei uns immer eine gewisse Normalität. Meine Eltern haben ausgiebig gefeiert. Wir als Kinder durften mal nippen oder haben nächsten Tag, wenn meine Mutter verkatert im Bett lag und wir den Partykeller aufräumen mussten, die Reste weggetrunken. War ja nur Spaß.
    Mit ca 12 Jahren fing ich an, auf Partys zu gehen. Wir betrunken uns mit Erdbeersekt, Feigling, Saurer Apfel usw. Es hat Spaß gemacht.
    Ich würde älter, der erste Freund kam. Der zweite Freund kam. Ich habe schwere sexuell Probleme, über die ich eigentlich noch nie mit jemanden gesprochen habe. Ich habe Angst vor Sex. Und so kam es, dass ich mir immer erst einen anglimmen musste, bevor mein damaliger Freund kam, damit ich Sex haben konnte. Ja ich war dann wunderbar locker und habe Dinge gemacht, die andere nicht machen. Welch eine tolle Freundin. Mein Ex hat vom Alkohol nichts gemerkt. Oder fand es nicht komisch, keine Ahnung.

    Jetzt muss ich ein bisschen zusammenfassen. Mit 18 kam eine sehr schwere Phase. Mit Depressionen, Suizid ersuche, Krankenhaus usw. Ich bekam die Diagnose Borderline und noch ein paar Zusatzdiagnosen. In dem zarten Alter von 18 trat ich dann an meinen Therapeuten heran und sagte ich habe ein Alkoholproblem. Da ich damals an Magersucht litt, meinte er es gibt wichtigere Dinge, auf die ich mich gerade konzentrieren sollte.
    Es folgten noch mehrere Klinimaifenthalte. Ich glaube insgesamt ca. sieben.
    In allem fing ich mich. Ich besiegte die Esstörung, ich kam auf die Beine, machte eine Ausbildung, machte meinen Meister, studiere aktuell nochmal. Aber immer blieb jemand bei mir: Der Alkohol.
    Ich wusste immer, mein Umgang damit ist sehr fraglich. Ich trank jeden Abend eine Flasche Wein. Dann kam eine schwere Zeit. Mein Dad erkrankte an Krebs und ist innerhalb kurzer Zeit daran verstorben. Da ich eh ein sehr emotionaler Mensch bin, muss ich zugeben das ich das auch sechs Jahre später noch immer nicht verkraftet habe. In der Zeit hab ich mich völlig zugehauen mit Arbeit. Habe meinen Meister berufsbegleitend gemacht und hatte eine sieben Tage Arbeitswoche. Kurz vor Ende bin ich komplett zusammen geklappt. Habs aber trotzdem geschafft. Ich war wieder im KH, welches mir sehr gut half. Mir ging es besser. Ich trank auch wesentlich weniger.

    Ach Gott, dass wird alles so endlos lange.

    Ich komme mal zum Punkt. In 14 Tagen muss ich meine Bachelorarbeit abgeben und ich weiß gerade nicht wie. Ich würde vor einem Monat wohl zu recht von meinem Partner verlassen. Erst hat mich das ambitioniert. Ich hab nicht mehr getrunken und geraucht. Nach ein paar Tagen bin ich aber wieder eingebrochen. Trauer, Frust haben mich zerfressen.
    Nun bekomme ich langsam auch die körperliche Returkutsche für meinen Lebensstil. EKG nicht gut, muss zum Kardiologen, Blutarmut und eigentlich müsste ich in eine Entzugsklinik. Aber dann kann ich meine Bachelorarbeit ja nicht weiterschreiben. Ich wiege meine Gesundheit gerade echt mit einem Abschluss auf. Manchmal habe ich das Gefühl, ich Fälle bald tot um. Ich bin Untergewichtig. Kann seit Monaten schon nicht mehr richtig essen.
    Ich frage mich, was ich machen soll. Meinem Umfeld kann ich davon nix sagen. Die machen sich eh alle schon Sorgen. (Lag im Januar auch wegen einem Suizidverauch im KH)

  • Guten Abend Melody36,

    willkommen im Forum!

    Ich komme auch mal zum Punkt ;)

    Zitat

    In 14 Tagen muss ich meine Bachelorarbeit abgeben und ich weiß gerade nicht wie.

    Zitat

    Ich bin Alkoholikerin. Und ganz kurz vor dem Ruin. Ich kann nämlich gerade gar nicht mehr.

    Was erwartest Du von diesem Forum?

    Wie es bei Dir aussieht, weißt Du selbst am besten. Die notwendige Einsicht hast Du auch.
    Erfahrung mit der Sucht, mit Entzug und mit dafür qualifizierten Kliniken hast Du auch.
    Auch, dass Du mit hoher Wahrscheinlichkeit alleine aus dem Dilemma nicht herauskommst.
    Da bleibt mir nicht viel, Dir zu empfehlen.

    Ich kann Dir aber aufgrund meiner Erfahrungen schreiben, wie es sehr oft an dem Punkt weitergeht.
    Viele Süchtige (egal ob Alkohol, Koks o.a.), die bis zu dem Punkt gekommen sind, wo sie – meist sogar schon recht lange – wissen, dass sie so tief in der Sucht drinstecken, dass die Sucht nur noch mit professioneller Hilfe zum Stillstand zu bringen ist, auch, dass man sie nur dann stoppen kann, wenn man zukünftig absolut abstinent weiterleben möchte, all diese Süchtige haben viele Gründe, warum sie „jetzt“ nichts gegen ihre Sucht tun können oder tun wollen.

    Ich kenne Selbstständige, sehr erfolgreiche Betroffene, Leute, die wie Du mitten in einer Ausbildung stecken, oder Leute im Show-Geschäft, die wissen: The show musst go on …
    Geht sie auch. Auch das Geschäft der Selbstständigen läuft weiter. Ausbildungen werden sogar oft noch abgeschlossen.
    Aber die Betroffenen bleiben dabei meist auf Strecke. Sie gehen unter dabei. Weil die Sucht sich an keine Spielregeln hält, ihren Tribut fordert und den Körper und Geist kaputt macht. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Verpflichtungen und geschäftliche Ziele.

    Toll! Da sitzt Du dann, hast Deine Bachelor in der Tasche, vielleicht sogar mit hervorragenden Noten – und bist ein Wrack. Körperlich, und wenn Du Pech hast, psychisch und geistig auch.
    Ich kenne relativ viele Alkoholiker, die mir viel davon erzählen, was für tolle Abschlüsse sie haben, welche fantastischen Berufe und Positionen sie schon inne hatten und was sie schon alles ihr eigen nannten. Toll!
    Nur: Nichts davon ist mehr vorhanden, nichts davon zählt noch irgendetwas, und mit nichts davon konnten sie ihren Verfall stoppen. Am Ende sitzen sie mit Betroffenen zusammen, die kaum mehr in der Lage sind, ihre Namen zu buchstabieren, oder die, mangels eigener Ressourcen, in betreutem Wohnen leben und Betreuer haben.

    Würdest Du, wenn Du in Deine Zukunft blicken könntest und wüsstest, wie es bei Dir endet (egal jetzt, ob durch Totalabstinenz, also Abkehr von der Sucht, oder eben … s.o.), jetzt anders handeln, den Bachelor-Abschluss verschieben, bis Du wieder gesund bist, weg vom Alk und Koks und auf der sicheren Seite?
    Ich könnte wetten: Du würdest nicht!

    Du würdest weiter nach „Mogelpackungen“ suchen, nach „Schleichwegen“, wie Du Dich irgendwie durchschlängeln kannst, ohne dass Dir der Pelz nass gemacht wird. Du würdest Dich selbst belügen, indem Du die Tragik Deiner Situation relativierst (andere sind viel schlimmer dran .., soweit bin ich noch nicht, u.s.w.), und Du würdest „auf den Felgen“ versuchen, noch irgendwie Deine Ziele zu erreichen.
    Solange, bis Du halt mit Totalschaden liegen bleibst: rien ne va plus!

    Dann, aber erst dann, wird es nichts mehr geben, was wichtiger ist, wie die sofortige Rettung. Das ist leider so. Meistens.

  • Hallo Melody36,


    Also: ich bin weiblich und 36 Jahre als. Trotz meines ganzen Konsums, (...) hat sich mein
    Körper ziemlich gut gehalten und ich werde meist auf Ende zwanzig geschätzt.
    Vielleicht auch eine Sache, weswegen man ich mein Problem nicht richtig wahr haben will.

    Ich schreibe Dir als Tochter einer Alkoholikerin, die immer tadellos funktionierte, im Beruf,
    als Mama, im Haushalt, abends auf der Terrasse. WIE anstrengend das sein muss, begreife
    ich erst heute. Weil ich als Co-Abhängige ebenso viele Muster beherrsche, mich von meinem
    echten Elend (Stillstand, unerledigte Themen, zuviel Anspannung deshalb, ... alles phasen-
    weise und nicht immer) selbst abzukoppeln.

    Als Frau mit gepflegtem Erscheinungsbild nimmt einem wirklich kaum jemand ab, DASS man
    Probleme hat. Ich las das sogar mal als empirisch bewiesen, dass weibliche Sucht (Alkohol
    o.a.) viel viel länger andauert, ehe sie entdeckt wird. Die Süchtige tut eh alles, um es zu
    verbergen, und das Umfeld möchte auch lieber an der hübschen Erscheinung festhalten.

    Auf die Weise verlängert sich der Weg bis hin zum Aufdecken, Einknicken, Kapitulieren oft
    auf sehr schmerzhafte Art. Es ist eben KEINE Hilfe, jemanden NICHT anzusprechen, seine
    Themen "durchgehen" zu lassen, weil dann das Übel kleiner und besser handhabbar erscheint.



    Nun bekomme ich langsam auch die körperliche Returkutsche für meinen Lebensstil. EKG nicht
    gut, muss zum Kardiologen, Blutarmut und eigentlich müsste ich in eine Entzugsklinik.

    Das meine ich mit "verlängert sich der Weg" - und die Verschlimmerung des inneren
    Kraftverlusts durch die Auswirkungen der herrschenden Sucht.



    Ich frage mich, was ich machen soll. Meinem Umfeld kann ich davon nix sagen. (...)
    Ich hab alle schon zu sehr belastet. Aber das eigentliche Problem verschweige ich.

    ... dazu nochmal als Tochter einer Alkoholikerin: Das Verschweigen ist schon der Irrtum.
    Ich habe es all die Jahre mit erlebt, das Trinken meiner Mutter. Immer gepflegt, nie öf-
    fentlich maßlos, nur gute (trockene) Weine, ... a b e r sie roch nach Alkohol, auch nach
    ihrem Mittagsschlaf am Wochenende, ihre Hände zitterten beim Kochen, sie hatte Stim-
    mungsschwankungen je nach Pegel, ... es war längst zu merken, dass sie NICHT in ihrer
    Balance war.

    Ich hatte eine von der Sucht gelenkte Mutter, mit Schuldgefühlen und emotional sehr weit
    von sich und ihrer Selbstannahme entfernt. - Heute erst sehe ich diese Zusammenhänge
    alle. Auch ich denke, ich "schone" "die anderen" ... ?!? ... Da lügt mich schon die Sucht
    an! Sie sagt nämlich: Schone mich, lass mich nicht auffliegen, wir haben es doch gut
    miteinander.

    Bei mir führt das dann auch zu Mustern, mit denen ich mir selbst einreden will, es ist
    doch alles gut. LEUGNEN nennen die Psychologen das, es fühlt sich aber eher an, wie
    abwarten, ob nicht ... hm, was ... ? Sich was ändert, während ich einfach ganz was
    anderes mache. (Und so tue, als hätte ich kein Problem.) Berufliche Erfolge oder Ziele
    sind hochrangige Platzhalter für das Eingeständnis, dass es viel tiefer wirklich weh tut.



    Ich bin Alkoholikerin.
    Und ganz kurz vor dem Ruin. Ich kann nämlich gerade gar nicht mehr.

    Die Klarheit in diesen zwei Sätzen schafft beim Lesen in mir umgehend Ruhe und Frieden.
    Ich glaube, wenn die Wahrheit (Sucht als Erkrankung) da sein darf, ebenso wie die Wahr-
    heit der Gedanken und Gefühle, dann fällt viel Spannung ab.



    Sorry, falls das sehr konfus ist. Aber aller Anfang ist schwer.

    Ich finde an Deiner Vorstellung gar nichts konfus. Ich kenne die Zerrissenheit, in die ich
    gerate, wenn meine Wahrheit nicht mehr einfach sie selbst sein darf. Dann wird es konfus
    in mir selbst. Und ich gerate dann in die Grätsche zwischen "ist das?" und "ach nö, lieber
    anders". Ich wäre dann gern anders und merke nicht, dass ich damit mich selbst ablehne
    und stehen lasse.

    Ich habe totalen Respekt, wie Du hier Deine Situation offen legst. Es kommt viel von Dir
    als Person an, auch dass Du Dich selbst "dabei hast", wahrnimmst und siehst. Deine
    Fragen sind aus meiner Sicht vielleicht eher Ausdruck davon, dass Du lieber nicht an
    dem Punkt wärst, an dem Du körperlich und seelisch gerade bist. (Alle? Das kann Angst
    machen, weil man ja gar nicht weiß, wer man/frau ohne Sucht und/oder Leistung eigent-
    lich überhaupt noch ist.)

    Danke für Deine Ehrlichkeit und fürs Erinnern, wie wichtig das Anerkennen meiner Über-
    forderung ist, wenn ich hinein geraten bin. Sie läutet dann nämlich alle weiteren Runden
    ein und ich verliere mich selbst.

    Ich wünsche Dir Klarheit, Kraft und alle nötige Unterstützung, die Du bekommen kannst,
    um körperlich und seelisch irgendwann wieder aufatmen zu können, ohne Fremdbestim-
    mung und Ausbeutung durch die Sucht. Erst muss sie aus dem Feld, dann ist Wiederauf-
    bau möglich. (Ich töne jetzt mal so klug damit raus, habe das aber verbrieft von vielen
    Genesenden.)


    Liebe Grüße und weiterhin Mut zum Offenlegen, 44. wünsche ich Dir! :)

    Wolfsfrau