Zur Zeit lese ich zum zweiten Mal das Buch von Daniel Schreiber "
Nüchtern".
Schon beim ersten Mal hätte ich einen ganzen Block Post-it verbrauchen können ...
Auch diesmal finde ich immer wieder Sachen, wo ich einfach nur sage "Genau - so ist es! So war es bei mir auch!"
Und man merkt, dass der Mensch Journalist ist - so gut, wie er viele Sachen ausdrückt, auf den Punkt bringt.
Das hier zum Beispiel:
Man kann viel erreichen, auch wenn man zu viel trinkt. Obwohl wir es alle besser wissen sollten, assoziieren wir Alkoholkranke immer noch mit dem klassischen Bild vom Straßentrinker oder vom Alkoholiker, der sich seit Jahrzehnten von Entzugsklinik zu Entzugsklinik, von Rückfall zu Rückfall hangelt, dem Alkoholiker also, der gerne in deutschen Talkshows sitzt.
Beide machen jedoch nur einen geringen Prozentsatz der Trinkbevölkerung aus. Funktionierende Alkoholkranke gibt es überall – in Anwaltskanzleien und Redaktionen, in Lehrerzimmern und auf dem Bau, in Friseurläden, an Supermarktkassen, in Architekturbüros und im Bundestag. Sie ziehen Familien groß, sitzen beim Elternabend und im Kino neben Ihnen, machen wie Sie Wochenendausflüge, tanzen auf den Hochzeiten Ihrer Freunde.
Die Wahrheit ist, dass man sogar erstaunlich viel erreichen kann, auch wenn man übermäßig trinkt. Man konstruiert sich wirksame Fassaden eines scheinbar produktiven Lebens. Fassaden, hinter denen man sich versteckt und die man wie ein Alibi vor sich herträgt. Dann beißt man die Zähne zusammen und kommt einfach irgendwie durch. Und wenn ein Anflug von Erleichterung in Sicht ist, greift man zu dem, was dem Gefühl, tatsächlich am Leben zu sein, am nächsten kommt – dem Glas.
Wenn man zu viel trinkt, ist man zudem gegen warnende Stimmen gewappnet. Man hat immer genug Probleme. Es gibt immer genug Anlässe, die das nächste Glas notwendig erscheinen lassen. Und man hat stets eine Argumentation parat, die beweist, dass man überhaupt kein Problem hat – wobei man meistens übersieht, dass man gar nicht so viel Argumentationsaufwand betreiben müsste, wenn man das Problem nicht hätte. Nicht jeder, der zu viel trinkt, ist automatisch abhängig, aber wenn er weiterhin zu viel trinkt, wird er es in jedem Fall werden. Beim einen geschieht das innerhalb von ein paar Jahren, beim anderen zieht sich dieser Prozess über Jahrzehnte hin. Alkoholismus ist wie eine Lotterie. Viele Menschen beginnen irgendwann von allein, ihr Trinken zu regulieren. Doch für viele von uns ist Alkohol ein beständiger Begleiter in unserem Leben, ein Begleiter, mit dem wir uns so lange nicht auseinandersetzen, bis wir es wirklich müssen. Manche Menschen entwickeln sich früh, manche im mittleren oder auch erst im hohen Alter zu Alkoholikern. Manche glauben, dass sie damit alt werden können. Manche bekommen psychische und emotionale Störungen und verstoßen nach und nach die Menschen aus ihrem Leben, die ihnen nahestehen. Manche erkranken an Krebs oder leiden an Leberschäden und Herz-Kreislauf-Störungen. Manche sterben daran. Manche nehmen sich irgendwann das Leben. Andere haben mehr Glück.
Wenn man noch trinkt und wenn man Angst hat, zu viel zu trinken, denkt man – vielleicht auch ohne es sich wirklich einzugestehen – viel darüber nach, wo die magische Grenze zwischen schlechter Gewohnheit und Krankheit verläuft. Doch bei welchem Glas oder zu welchem Zeitpunkt genau man diese unsichtbare Grenze überschreitet, ist so schwer zu beantworten wie die Frage, welche Erdbeere, welche Haselnuss oder welcher Pollen irgendwann eine Allergie auslöst.
Die Herausstellungen (Fettschrift) sind von mir - quasi mein Textmarker. Und den bräuchte ich fast ständig bei diesem Buch ...
Ich habe es übrigens nicht nur in Papierform - auch als Ebook.
Das Buch hatten wir ja schon mal
hier vorgestellt.
Aber falls jetzt jemand auf den Geschmack gekommen ist:
Autor: Daniel Schreiber
Titel: Nüchtern: Über das Trinken und das Glück
Verlag: Hanser Berlin (25. August 2014)
ISBN-10: 3446246509
ISBN-13: 978-3446246508
160 Seiten