Hallo Nina,
wenn du wüsstest, wie gut ich mich in dem wiederfinde, was du über dich erzählst.
Ich habe in dem Sinne keinen Rat für dich, ich kann nur ein paar Erfahrungen und Gedanken mit dir teilen. Vielleicht hilft dir das weiter...
Mir kommt vieles sehr bekannt vor, was du beschreibst, vor allem das Gefühl, sich nicht wirklich frei von Verantwortung fühlen zu können. Die Automatismen zu sehen und sich anders zu entscheiden ist finde ich wirklich sehr schwer.
Das empfand bzw. empfinde ich auch so. Doch für mich sah ich keine andere Alternative als mich immer wieder um mich zu bemühen. Ich konnte und wollte nicht anders.
Nach meinem Empfinden bist du einem riesengroßen Schritt weiter, wenn du die Muster und Automatismen überhaupt erst einmal bei dir und für dich selbst aufdeckst.
Ich hab das so empfunden, als wenn ich so über einem gewissen Umweg die Kontrolle zurückbekomme.
Solange ich nicht wusste, „wie der Hase läuft“, empfand ich mich der Situation hoffnungslos ausgeliefert. Für mich ein fürchterliches Gefühl, vor allem weil ich spürte, wie meine Kräfte zusehends schwanden, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
Das andauernde Überlegen und Abwägen, ob man eingreift - das macht ja auch müde. Zumal man mit dysfunktionalen Menschen immer wieder in diese Situationen kommt.
Mich hat es auch müde gemacht, nur, was hatte ich denn für eine Wahl? Nüchtern betrachtet zwei: A) Völlige Loslösung. B) Weitermachen, weil‘s doch meine Familie ist, weil ich sie nun einmal liebe.
A) Kam für mich nicht nochmal in Frage. Den Weg war ich unmittelbar nach dem Tod meines Vaters gegangen. Damals für mich überlebensnotwenig, später aber, als wir uns einander wieder angenähert hatten und wiedergefunden hatten, keine Option mehr.
Also B). Doch B konnte ich nicht um jeden Preis weitermachen.
Wie ist das bei dir? - Wenn ich das richtig bei dir verstehe, hast du’s auch schon mal in Richtung A) versucht, aber eigentlich ist das auch für dich keine Option.
Vielleicht hilft dir schon mal, wenn du dir darüber klar wirst, warum A) keine Option ist und du an B) dran bist.
Bei jedenfalls hat das zur Klärung eines Teils meines inneren Konflikts geführt.
Ich habe inzwischen teilweise auch oft körperliche und psychische Einbrüche (auch durch chronische Erkrankungen), also Anzeichen, dass ich nicht mehr kann. Das hilft schon teilweise, dann eine Grenze zu ziehen, ist natürlich an sich keine tolle Methode, weil man dann schon im Notmodus ist.
Oh, das kenne ich selbst ziemlich gut. Nein, natürlich ist das keine tolle Methode, aber ich habe versucht, das Positive dabei zu sehen. Eine ganze Weile habe ich meinen Körper als meinen Feind betrachtet. Mein Verstand/Geist wollte, aber mein verflxxxxxxx Körper hat mir einen Strich durch gemacht.
Dieses Denken änderte sich im Lauf der Therapie. Ich erkannte, dass mein Körper eigentlich mein Freund ist, dass er‘s gut mit mir meint. Da waren nämlich jede Menge Empfindungen, eine ganze Reihe Stimmen oder Rollen in mir (Stichwort: Inneres Team), die der Verstand bzw. eine gewisse lautstarke, anführende Rolle in mir beständig übersah oder missachtete.
Von meinem Körper bzw. meiner Psyche gebremst zu werden, war und ist keine tolle Lösung, mein Ziel war und ist natürlich, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.
Mir hilft auch sehr der räumliche Abstand. Aber emotional geht trotzdem innerlich die Achterbahnfahrt los. Auch am Telefon - wie schnell grenze ich mich ab und lege auf? Meist spüre ich die Überforderung erst hinterher, wenn es schon zu spät ist.
Kenne ich, habe ich auch erlebt.
Was hast du diesbezüglich in deinen Therapien gelernt?
Hast du dich schon mal mit dem „Inneren Team“ beschäftigt?
Kennst du dich ein bisschen in Gefühlsregulation aus?
Wann nimmst du dir Zeit für deine Eltern? Wenn’s nach ihnen geht oder dann, wenn du gerade stark genug bist?
Was mich so fertig macht, ist dass sie wirklich gar nicht sehen, was ihr Verhalten für mein Leben damals bedeutet hat, und was heute auch noch die Folgen davon sind. Sie sind da völlig gleichgültig bzw. weisen die Schuld von sich.
Ich möchte dir hierzu eine Frage stellen:
Was hast du davon, was versprichst du dir davon, dass sie es einsehen und dir sagen?
Ich habe diesbezüglich mal bei meiner Mutter nachgetastet. Vorsichtig. Hab ihr zu erklären versucht, warum ich damals nach Papas Tod von zuhause weggehen musste. - Ich muss dazu sagen, dass sie es hätte verhindern können, aber mich hat ziehen lassen, weil sie spürte, dass das wichtig für mich ist, und aus tiefstem Herzen hoffte, dass ich irgendwann zurückkehre. -
Sie hat nie verstanden, warum ich gehen musste. Ich glaube, das konnte sie nicht, weil sie vor sich selbst noch mehr hätte eingestehen müssen, dass sie als Mutter versagt hatte. Es war so schon schwer genug für sie. Sie hat diese Zeit definitiv nicht unbeschadet überstanden und ist wahrscheinlich auch deswegen schwer depressiv geworden.
Ich hab, als mir klar wurde, dass sie das überfordert, nicht mehr weiter insistiert.
Auch meine Schwester hat nie verstanden und mir bis heute nicht verziehen, dass ich damals gegangen bin.
Und so weiß ich für mich, was damals geschehen ist und wie es mich für mein Leben geprägt hat. Und ich habe für mich für mein Leben die Verantwortung übernommen.
Du fragst, was mein Therapeut wegen des Telefonierens geantwortet hat. Ich weiß es nicht mehr so genau. Vom Prinzip lag die Lösung darin, nicht zu telefonieren, wenn’s mir grad nicht so gut geht. Und mir meiner eigenen Befindlichkeiten mehr bewusst zu werden. Er sagte auch noch etwas darüber, dass die Vorstellung von Familie, die wir jetzt haben, auf die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts unter Bismarck zurückgeht, aber was das alles jetzt im Detail bedeutet, kann ich dir so nicht wiedergeben. Es hat nur während des Therapiegesprächs etwas in meiner Einstellung verändert.
Dieses Jammern, dass ich/ wir so selten kommen, ist mir vertraut. Besonders allerdings von meinen Großeltern und meinen Schwiegereltern. Letztere sehe ich nach meinem eigenen Gefühl ziemlich oft. Die anderen sind inzwischen nicht mehr. Ich sage dazu nicht viel, was könnte ich auch sagen? Verstehen würden sie‘s eh nicht, es gäbe nur Stress, wenn ich wahrheitsgemäß antwortete, also schweige ich und denke mir meinen Teil.
Wenn ich so von außen drauf schaue, könnte man fragen, warum tu ich mir das an? Aber es sind die Eltern. Es ist so schwer sich zu lösen von diesen Menschen.
Das ist die Frage, die du für dich selbst klären musst.
Gewiss ist das schwer, sich zu lösen. Es hat etwas mit den eigenen Wurzeln zu tun, mit der eigenen Geschichte, mit Gefühlen und Bedürfnissen und schließlich mit gesellschaftlichen Konventionen.
Ich kenne das von mir so: Vom Verstand her ist mir so manches klar, aber das, was es so knifflig macht, sind die Gefühle und die verschiedenen Rollen/Stimmen in mir. Mir selbst hilft zur Klärung gelegentlich das Modell vom „Inneren Team“.
Wenn du magst, darfst du gerne weiterhin teilen, was dich bei diesem Thema gedanklich und gefühlsmäßig beschäftigt.
Natürlich freut es mich, wenn ich dir mit meinen Gedanken ein wenig weiterhelfen konnte.
Herzliche Grüße
AmSee