Liebe Orangina,
Verstehst du das?
Natürlich verstehe ich das. Mehr noch, ich fühle sozusagen mit Dir. Ich kenne all die Gefühle, all das was Du beschreibst. Ich könnte jetzt fast jeden Deiner Sätze hier zitieren und Dir dann sagen, dass ich ähnliches erlebt, gedacht, gemacht.... etc. habe. Und auch das was Du mit "jemanden nicht weh tun wollen" schreibst, genau das kenne ich auch von mir.
Nur ist es eben leider so: Rücksicht auf andere nehmen, andere nicht verletzen wollen, alles wichtig und ehrbare Ziele. Aber, entscheidend ist trotzdem, dass man sich dafür selbst nicht aufgibt. Entscheidend ist, dass man erst mal mit sich selbst klar kommt, mit sich selbst im Reinen ist, wie ich ja so oft schreibe auch wenn es wohl schon abgetroschen klingt. Ansonsten passiert nämlich Folgendes: Du gibst und gibst und gibst aber eines fehlt bei der ganzen Geschichte, nämlich der Punkt wo Du auch bekommst. Wo Du Deinen Akku aufladen kannst damit Du wieder in die Lage versetzt wirst erneut zu geben. Wenn das nicht passt, dann findet eine Tiefenentladung Deines Akkus statt. Was am Ende dann zu einen Zusammenbruch führt. Verstehst Du was ich sagen will?
Und weil ich schon beim Akku bin. Als Kind habe ich leere Batterien immer auf die Heizung gelegt und wenn sie dann warm waren, dann haben die immer noch mal ein paar Minuten funktioniert um dann aber wieder komplett leer zu sein. Und irgendwann funktioniert dann das aber auch nicht mehr. Der Alkohol, den Du getrunken hast, das war die Heizung. Er hat Dir ein paar Stunden das Gefühl gegeben, Du hättest genug Kraft oder kannst wieder aufladen. Auf Dauer sorgt er jedoch dafür, dass Du immer mehr Energie verlierst und irgendwann komplett leer bist.
Du nennst ja mehrere "Baustellen" in Deinem aktuellen Leben. Da ist die Arbeit, da sind die Eltern und da ist der Partner. Und vielleicht sind dann da auch noch ein paar andere, vermeintlich kleinere Problemchen, die auch noch darauf warten gelöst zu werden.
Du hast bereits einen ganz wichtigen ersten Schritt getan: Du trinkst nicht mehr. Das ist die BASIS für alles was noch folgt. Das musst Du Dir immer vor Augen führen. Nimm Dir ruhig die Zeit die Du brauchst aber trinke auf keinen Fall mehr. Alles wird sich langsam verändern, besonders Deine Denkweise und das Wahrnehmen Deiner Umwelt. Das dauert einen Moment, ist nicht nach ein paar Wochen erledigt.
So und nun möchte ich Dir etwas schreiben, was "mein" Mönch mir damals (sinngemäß) gesagt hat, als ich mit meinen Problemen bei ihm um Rat gefragt habe. Ich sagte zu ihm, dass da so viele Riesenprobleme vor mir wären und ich gar nicht weiß, wie ich das alles schaffen kann und das ich glaube, dass ich das alles überhaupt nicht schaffen kann. Und er antwortete wie folgt (sinngemäß):
Er sagte: Stell Dir vor Du hast ein Haus. Das Haus ist total kaputt. Das Dach ist undicht und es regnet herein. Das Wasser steht deshalb im Keller und die Böden und Wände sind feucht. Die Fenster sind teilweise kaputt und undicht. Und überhaupt ist alles in einem fürchterlichen Zustand, die Tapetten lösen sich von den Wänden, die Farbe blättert ab und die Möbel sind längst alle verschlissen.
Was tust Du? Nun immer eines nach dem anderen. Erst mal kümmerst Du Dich um das Dach. Das ist dafür verantwortlich, dass alles immer noch schlimmer wird weil bei jedem Regenguss neues Wasser ins Haus strömt. Wenn Du das Dach dicht hast, dann kümmere Dich erst mal um den Keller. Die Feuchtigkeit muss raus, das Fundament muss erst mal wieder trocknen. Dann geht es an die Fenster. Neue Fenster rein oder abdichten. Nun kannst mal nach innen gucken. Tapetten wechseln, Böden austauschen am Ende auch neue Möbel besorgen. Und wenn Du das alles hast, dann achtest Du darauf, dass Du künftig immer sofort reagierst, wenn ein Schaden bei Deinem Haus auftritt. Sollte also mal wieder ein Dachziegel undicht sein oder ein Fenster nicht mehr richtig schließen, dann reparierst Du es sofort und wartest nicht, bis noch mehr dazu kommt. Damit stellst Du sicher, dass Dein Haus nie mehr in einem so erbärmlichen Zustand ist, wie Du es jetzt gerade vorfindest.
Ich glaube Du verstehst was er mir damit sagen wollte, oder? Ich habe das nie vergessen und es zeigt mir, dass ich mich um mich kümmern muss. Ich bin das Haus. Und ich hatte mega viele Probleme. Angehäuft hatte ich sie durch mein Doppelleben und meine Trinkerrei. Die Sucht sorgte einerseits dafür, dass viele dieser Probleme überhaupt erst entstanden und anderseits auch noch dafür, dass ich nicht in der Lage war, auch nur eines davon zu lösen. Somit war klar: Erst mal muss der Alkohol weg.
Aber, dadurch wurde der Berg an Problemen ja erst mal so richtig sichtbar. Ich nahm ihn plötzlich als das wahr, was er ja auch war: Riesig und bedrohlich. Und auf Dauer nicht einfach ignorierbar.
Und so arbeitete ich eines nach dem anderen ab. Und glaube mir, teiweise taten sich Lösungen auf, die ich im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Und so solltest Du es auch machen.BASIS: nicht mehr trinken, ansonsten kannst Du alles in die Tonne treten. Aber wenn Du nicht mehr trinkst, dann KANNST und WIRST Du Deine Probleme auch lösen können. Ich will damit nicht sagen, dass sie sich von selbst lösen. Du wirst ENTSCHEIDUNGEN treffen müssen. Auch welche, von denen Du vielleicht nicht weißt ob sie richtig oder falsch sind. Auch welche, die richtig weh tun können. Ich empfinde rückblickend das erste Jahr nach meinen Suchtausstieg als das Jahr, wo ich mehr (Lebens-)entscheidungen getroffen habe als alle Jahre vorher. Eine Entscheidung jagte die nächste (da waren auch viele scheinbar kleine dabei, die sich später als ganz wichtig heraus stellten) und bei einigen wusste ich echt nicht was ich tun sollte. Zum Glück hatte ich meinen Mönch der mir oft als Berater diente. ABER: Entscheiden musste ich trotzdem selbst.
Ich wiederhole mich: Verharren wird Dir nicht helfen. Auch nüchternes Verharren wird Dir auf Dauer nicht helfen. Denn Dein Ziel kann ja nur sein, ein zufriedenes Leben zu führen. Aber Du bestimmst das Tempo und Du bestimmst, was für Dich das Dach ist und für Dich der Keller ist und die Fenster, etc. Eines nach dem anderen aber eben konsequent.
Alles Gute für Dich!
LG
gerchla