Hallo Orangina,
herzlich Willkommen hier im Forum.
Ich bin Alkoholiker und 50 Jahre alt. Ich lebe jetzt schon lange ohne Alkohol, habe aber die Gedanken, das Handeln und die Gefühle meiner Trinkerzeit noch voll im Gedächtnis. Ich denke, das wird auch immer so bleiben. Deshalb habe ich, als ich Deine Vorstellung las, sofort gedacht: das kenne ich alles aus eigener Erfahrung.
Das hier z. B.
Würde ich jemanden davon erzählen, dass ich einen problematischen Umgang mit Alkohol habe,würde mir niemand glauben.
Ich sehe gepflegt aus, bin sehr zuverlässig und funktioniere sehr gut .
Hätte ich damals genauso von mir sagen können. Ich weiß nicht wie Dein Trinkverhalten genau aussieht. Ich trank die meiste Zeit meines Alkoholikerdaseins heimlich. Das gelang mir, obwohl ich Familie hatte und man normalerweise davon ausgehen müsste, dass man da irgendwann auffliegt. Zumindest bei den Mengen die ich trank, welche in den letzten Jahren meiner Sucht deutlich über dem lag, was Du von Dir schilderst.
Und auch wenn ich in diesen besagten letzten Jahren dann nicht mehr ganz so toll aussah und sich manch einer dachte "was ist mit dem eigentlich los? ist er krank?", so kam doch niemand auf die Idee das Problem beim Alkohol zu suchen. Denn man sah mich ja nie trinken. Ich funktionierte also bis zum Schluss. Und ganz ehrlich, so ist das bei den allermeisten Alkoholikern. Nur die wenigsten gehören zu jenen, die von der Allgemeinheit auch sofort als solche wahr genommen werden. Der größte Teil funktioniert und es bekommt entweder niemand mit oder eben nur das engere Umfeld welches dann nicht selten dabei "hilft" die Sucht des Anghörigen noch zu vertuschen. Was dann sowohl der Leiden des Trinkers als auch das der Angehörigen verlängert.
Ich finde es jedenfalls sehr gut, dass Du für Dich erkannt hast, dass da etwas nicht stimmt, obwohl Du noch sehr gut funktionierst und äußerlich nichts zu sehen ist.
Der Vorsatz hielt maximal 5 Tage ,mit dem Ergebnis, dass ich dann am 6. Tag wieder eine Flasche entkorkte mit dem Gedanke,dass ich es im Griff habe ,denn sonst hätte ich die 5 Tage nicht geschafft...und: was ist schon dagegen einzuwenden, wenn ich ab und zu mal ein Glas trinke.
Bei dem Glas konnte ich aber nie bleiben.
Auch das kenne ich sehr gut. Wahrscheinlich kennt das jeder Alkoholiker. Wir nennen das dann im Nachhinein eine Trinkpause. Meine längste dauerte übrigens fast ein Jahr..... Daran siehst Du, dass diese Sucht nie schläft oder vergeht, wenn man sie einmal entwickelt hat. Als ich diese lange Pause einlegte, trank ich auf relativ niedrigem Niveau aber ich trank regelmäßig, fast täglich. Zwar relativ niedrige Mengen aber eben so gut wie jeden Tag. Nach fast einem Jahr war es ein Biermischgetränk, ein einziges welches vielleicht einen Alkoholanteil von irgendwas um die 2 % hatte, das mich zurück in die Spur brachte. Von da an ging es dann immer weiter bergab und auch deutlich beschleunigt. Es schien, als ob ich das nachholen wollte, was ich in diesem Jahr "verpasst" hatte.
Später waren meine Trinkpausen, wo bei nicht wenigen eigentlich der Vorsatz war nie mehr zu trinken, deutlich kürzer. Einige Wochen und je länger die Sucht dauerte dann einige Tage. Bis maximal 14 Tage ging relativ lange wobei oft nach spätestens einer Woche Schluss war. Mit genau den Gedanken, die Du von Dir auch geschildert hast. Ich hatte mir ja "bewiesen", dass ich gar kein Problem haben kann. Sonst hätte ich jetzt ja nicht soooo lange verzichten können. Dazu kamen dann auch Gedanken, dass ich das ja jederzeit wieder machen könnte, also eine Pause einlegen.
Das alles sind Gedanken, die einem das Suchthirn so einspielt. So funktioniert diese Sucht und das macht sie auch so gefährlich. Das ist der Grund dafür, dass es nur so wenige schaffen sie dauerhaft zu überwinden. Sie hat so gute "Argumente", sie kennt denjenigen den sie befallen hat, in und auswendig, kennt alle Stärken und Schwächen und hebelt die Stärken aus um die Schwächen dann zu nutzen. Klingt jetzt vielleicht ein wenig komisch, weil man ja selbst der Süchtige ist und es ja die eigenen Gedanken sind. Aber so könnte ich das im Nachhinein von mir beschreiben.
Und wenn Du mich jetzt fragen würdest, warum ich glaube das mein letzter Ausstiegsversuch dann funktioniert hat und die vielen anderen immer nur in Trinkpausen geendet haben, dann würde ich Dir Folgendes sagen:
Bei allen Trinkpausen die ich gemacht habe, hatte ich IMMER ein Hintertürchen offen. Ein Hintertürchen, durch das die Sucht wieder herein schleichen konnte. Das sah in der Regel so aus, dass ich als heimlicher Trinker der Meinung war, ich könnte auch heimlich damit aufhören. Somit sozusagen eine WIN-WIN-Situation schaffen. Ich bin das Saufen los und ich muss niemanden beichten das ich eigentlich Alkoholiker bin. Keine unangenehmen Fragen, kein beichten von Dingen die während dieser Zeit verzapft hatte, einfach still und leise raus aus der Sucht und schön mein tolles Leben als toller Papa, Partner, Vorgesetzter, Freund, etc. weiter leben. Alles prima, keine Aufregung und fertig.
Das genau funktioniert nicht, also zumindest bei mir nicht und meine jetzige Erfahrung mit anderen Alkoholikern legt den Verdacht nahe, dass es sogut wie nie funktioniert "einfach so nebenher" aus der Sucht auszusteigen. Denn immer wieder sind sie dann da, diese Gedanken: So schlimm kann es ja nicht sein, ein Glas kannst Du doch trinken, es bekommt ja keiner was mit, du kannst ja jederzeit wieder aufhören, etc. etc.
Da Du offensichtlich etwas Angst vor einer Klinik, vielleicht auch von einer klassischen Therapie hast (so interpretiere ich Deine Zeilen jetzt mal), möchte ich Dir sagen, dass ich beides nicht in Anspruch nahm. Aber trotzdem seit vielen Jahren nicht mehr trinke. ABER: das bedeutet nicht, dass ich still und heimlich und ohne Hilfe aufgöhrt habe. Als ich meine letzte, bis heute andauernde Trinkpause begann, war alles anders als die vielen Male vorher. Meine Trinkpause begann mit dem Satz: Ich bin Alkoholiker! Welchen ich zu meiner damaligen Frau sagte und damit ihr Leben aus den Angeln hob. Mit diesem Satz und mit der Tatsache, dass ich ihr anschließend all meine Geheimverstecke, randvoll mit Alkohol, zeigte und das Zeug auch gleich wegschüttete, begann mein Suchtausstieg. Und mit diesem Satz habe ich auch mein erstes Hintertürchen vernagelt. Aber es ging natürlich weiter. Auch meine Kinder mussten es erfahren, meine Eltern, meine Geschwister, meine verbliebenen engeren Freunde. Überall machte ich reinen Tisch und überall brachen Welten zusammen.
Dann war es bei mir so, dass ich die letzten Jahre meiner Sucht ein Doppelleben geführt hatte. Das so weit fortgeschritten war und derart viele Leichen im Keller hatte, dass es nicht möglich gewesen wäre, dieses ohne massives Lügen zu verheimlichen. Und wenn ich eines nicht mehr wollte, war es lügen. Denn das belastete mich extrem und ich konnte das eben nur durch den Alkoholkonsum überhaupt aushalten. Also gab es nur eine Möglichkeit für mich, nämlich alles auf den Tisch zu legen. Und ich sage Dir, da habe ich Dinge gebeichtet die Du nicht wissen willst.... Das nächste Hintertürchen, das ich zugenagelt habe. Denn dieser Druck war dann auch weg. Zwar mit erst mal katastrophalen Folgen für mich aber eben ohne weiteren Langzeitdruck.
Und dann war mir klar, ich muss mit Menschen in Kontakt kommen, die was von dieser Krankheit verstehen. Und zu allererst kam mir da natürlich eine SHG in den Kopf. Und schon nach den ersten 24 h ohne Alkohol besuchte ich eine SHG, welche mir dann erst mal so die Basisinfos lieferte. Diese SHG war für mich in den ersten Monaten mit die wichtigste Anlaufstelle. Und so entwickelt sich das dann. Ich war dann der Meinung ich brauche auch psychologische Hilfe und habe mir diese auch geholt. Und als ich der Meinung war, der Psychologe passt nicht zu mir bzw. versteht mein Problem nicht, habe ich mir anderweitig Hilfe gesucht. Und so ergab eines das andere und je länger man von dem Zeug weg ist, desto unterschiedlicher können auch Hilfen werden, die man sich holt. Sehr individuell das ganze. Ich bin mir aber sicher, und da kann ich natürlich nur für mich sprechen, dass ich es ganz ohne Hilfe wohl nicht geschafft hätte.
Das wollte ich Dir jetzt einfach mal schreiben. Ich weiß zu wenig von Dir um speziell auf Deine Situation eingehen zu können. Wenn Du magst, dann beschreibe uns hier doch noch ein wenig mehr, wie die Situation bei Dir genau aussieht. Es geht gar nicht so sehr um Trinkmengen oder so. Sondern was Dich umtreibt, wie Dein Umfeld aussieht, ob z.B. Dein Partner (falls Du in Partnerschaft lebst) Bescheid weiß, welche Ängste Du genau hast oder wovor Du generell Angst hast. Vielleicht können wir Dir dann auch bessere Argumente liefern, mehr aus unsere eigenen Erfahrung berichten.
Auf jeden Fall finde ich es sehr gut, dass Du Dein Trinkverhalten hinterfragst und ich wünsche Dir viele interessante und vor allem hilfreiche Anregungen hier aus dem Forum.
LG
gerchla